POLITIK
Weibliche Genitalverstümmelung: Angst vor Empörung


Als die 25-jährige Somalierin Kadija zum ersten Mal in Deutschland zu einer Frauenärztin geht, ist diese entsetzt. „Wer hat Ihnen denn so etwas Grausames angetan?“, fragt die Gynäkologin. Kadija weiß nicht, was sie sagen soll. Seit ihrem sechsten Lebensjahr ist sie beschnitten und zugenäht. Sie kennt es nicht anders. Kadija ist mit dieser Situation überfordert, die Ärztin auch. Die junge Frau fühlt sich nicht als Opfer und ist erschrocken, wie heftig ihre Gynäkologin reagiert. Diese wiederum sieht zum ersten Mal eine Genitalbeschneidung und ist zutiefst schockiert.
Das Wissen über die weibliche Genitalverstümmelung1, international als Female Genital Mutilation (FGM) bezeichnet, verbreitet sich nur im Schneckentempo in deutschen Arztpraxen. Dabei liegt die Zahl der Frauen und Mädchen, die in Deutschland betroffen oder gefährdet sind, bei etwa 30 000. Weltweit sind es rund 140 Millionen Frauen. Drei Millionen Mädchen und Säuglinge kommen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jährlich hinzu.
Die Beschneidung der weiblichen Genitalien wird vor allem in 28 afrikanischen Ländern praktiziert, aber auch in einigen arabischen und asiatischen Staaten. Sie wird in islamischen, christlichen und anderen Glaubensgemeinschaften vorgenommen. Erst kürzlich haben sich die wichtigsten Rechtsgelehrten des Islam in Ägypten in der Al-Azhar-Universität für ein Verbot der Genitalverstümmelung ausgesprochen. Heribert Kentenich, Chefarzt an den Berliner DRK-Westend-Kliniken, war in Kairo dabei und sieht in diesem Verbot einen wichtigen Schritt, um die frauenverachtende Praktik zu überwinden.
FGM ist irreversibel und kann schwere körperliche und seelische Folgen haben. Je nach Art der Beschneidung wird unterschiedlich viel von der Klitoris und den Schamlippen entfernt. Die weitreichendste Form ist die sogenannte Infibulation, bei der die Vagina anschließend bis auf eine kleine Öffnung zugenäht wird. Da der Eingriff in vielen Ländern ohne Betäubung und unter schlechten hygienischen Bedingungen vorgenommen wird, kann es zu vielfältigen medizinischen Komplikationen kommen.
Auf einer Konferenz zur Genitalverstümmelung Mitte Dezember in Berlin, veranstaltet vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und dem Netzwerk „integra“, warnte Colette Dehlot von der WHO vor den gesundheitlichen Folgen. Sie wies darauf hin, dass beschnittene Frauen einer neuen Studie2 zufolge ein höheres Risiko tragen, ihr Kind vor oder nach der Geburt zu verlieren. Sie haben außerdem während der Geburt weitaus mehr Schwierigkeiten als unbeschnittene Frauen. Dehlot kritisierte zudem, dass Frauen zunehmend in Krankenhäusern beschnitten werden, wie beispielsweise in Ägypten, Kenia oder Guinea. Dort findet der Eingriff zwar unter Betäubung und unter hygienischen Bedingungen statt. Doch an der Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung ändert sich nichts. Die WHO lehnt die Medikalisierung daher seit Jahren strikt ab und zeigt auch ansonsten keine Toleranz für diese Praktik.
Bundesärztekammer legte Empfehlungen vor
Aufgrund der Migration wird Genitalverstümmelung zunehmend auch ein Thema für deutsche Ärzte. Immerhin haben einer Umfrage zufolge von 493 befragten Gynäkologen 43 Prozent bereits eine beschnittene Frau behandelt, 9,7 Prozent wussten von einer in Deutschland vorgenommenen Beschneidung, und 7,1 Prozent waren darüber informiert, dass Patientinnen ihre Tochter zur Beschneidung in die Heimat zurückschicken wollten. Die überwältigende Mehrheit (87,4 Prozent) wünschte sich vor allem eins: mehr Information in Form von Aus- und Fortbildungen.3
Doch bislang sieht es damit eher schlecht aus. Christoph Zern von der AG Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit empfahl daher in Berlin: „Wenn sich der Kenntnisstand nachhaltig verbessern soll, muss das Thema in den verpflichtenden Studien- und Weiterbildungskatalog aufgenommen werden.“ Die Organisation Terre des Femmes hat zudem Informationsmaterial in sechs Sprachen produziert, das angefordert und in Praxen ausgelegt werden kann.
Immerhin, die Bundesärztekammer hat im Frühjahr dieses Jahres Empfehlungen4 zum Umgang mit beschnittenen Patientinnen herausgegeben. Darin wird klargestellt, dass Genitalverstümmelung eine Körperverletzung ist, die strafrechtlich verfolgt und darüber hinaus berufsrechtlich geahndet wird. Das Wiederzunähen der Vagina nach einer Entbindung, die so genannte Reinfibulation, wird verurteilt.
Mehr Sensibilität, weniger Mitleid gegenüber Betroffenen
Wie das Beispiel von Kadija zeigt, ist auch im Umgang mit Patientinnen noch viel zu tun. So wollen beschnittene Frauen nicht als „verstümmelt“ bezeichnet werden, da sie sich nicht so fühlen. In ihrer Kultur ist das Ritual positiv besetzt. Sie bevorzugen daher das Wort „Beschneidung“. Dass viele heute dennoch FGM ablehnen, hat viele Gründe, auch gesundheitliche.
Afrikanische Aktivistinnen plädierten auf der Berliner Konferenz mehrfach dafür, dass Ärzte achtsamer mit beschnittenen Frauen umgehen. Weder möchten sie als Opfer angesehen noch im Kreißsaal ungefragt als exotisches Studierobjekt von einem ganzen Medizinertross begutachtet werden. „Ich bin ein ganzheitlicher Mensch und will nicht auf meine Genitalien reduziert werden“, so Fadumo Korn, Autorin und Vorstandsmitglied der Frankfurter Hilfsorganisation „Forward“. Beschnittene Frauen wünschen sich mehr Sensibilität, aber weniger Mitleid und Entrüstung. Eine der Aktivistinnen brachte es so auf den Punkt: „Wenn tiefe Empörung auf uralte Traditionen trifft, ist Dialog meist unmöglich.“ Besser wäre ein sachliches, wertfreies Gespräch. Das hätte auch Kadija gutgetan.
Petra Meyer
1 Umfangreiche Hintergrundinformationen zur Genitalverstümmelung finden Sie unter: www.bmz.de, www.gtz.de, www.unicef.de, www.terre-des-femmes. de
2 Female genital mutilation and obstetric outcome: WHO collaborative prospective study in six African countries. The Lancet, vol 367, June 3, 2006
3 Schnitte in Körper und Seele. Eine Umfrage zur Situation beschnittener Mädchen und Frauen in Deutschland. Berufsverband der Frauenärzte, Terre des
Femmes, UNICEF, Köln 2005.
4 Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation). BÄK, April 2006 (www.bundesaerztekammer.de)