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Rainer Katterbach, Arzt und Telefonseelsorger: „Toll, wie Menschen Krisen meistern“
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Rainer Katterbach
Er ist keiner, der jemanden lange im Regen stehen lassen kann. „Kommen Sie ruhig rein, Sie müssen nicht in der Kälte warten!“, ruft Dr. med. Rainer Katterbach (64) von der Haustür aus in den Vorgarten. Dort hat der Psychiater und Psychotherapeut im Ruhestand seine Gesprächspartnerin schon kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt entdeckt. Drinnen, im Büro und Behandlungszimmer voller Bücher, Aktenordner und der obligatorischen Analytikercouch, hat Katterbach Wasser und Gläser auf einem kleinen Tisch mit zwei bequemen Sesseln bereitgestellt.
Jedes Gespräch zehrt
„Mineralwasser, eine Stulle und was Leckeres, zum Beispiel einen Joghurt“ – das ist zugleich die Grundausstattung, die er immer mitnimmt, wenn er seinen ehrenamtlichen Dienst antritt: den bei der kirchlichen Telefonseelsorge (KTS) in Berlin. „Es ist wichtig, auch für sich zu sorgen“, stellt er klar. Zwei- bis dreimal im Monat fährt er, seit er im Ruhestand ist, in ein gemütliches Büro des Diakonischen Werkes. Von dort übernimmt er eine Schicht, die jeweils vier Stunden dauert. Mit den meisten Anrufern unterhält er sich zwischen 20 und 45 Minuten. „Es ist erstaunlich, wie diese Gespräche zehren“, musste er feststellen – selbst an ihm, dem Erfahrenen. Katterbach hat schließlich jahrelang Patienten versorgt, musste sich als Chefarzt einer Klinik behaupten.
Telefonseelsorge ist harte Arbeit. Nur selten droht zwar ein Mensch damit, sich von der Brücke zu stürzen. Aber gerade Gespräche über das kleine Alltagselend strengen an und können bedrücken, vermittelt einem Katterbach. Telefonseelsorge, wie er sie bisher erlebt hat, das sind Gespräche mit chronisch Kranken, die sich allein gelassen fühlen. Mit einer jungen Mutter, die noch nie gearbeitet hat und schlecht zurechtkommt.
Manche Anrufer fordern ihn heraus, weil sie beharrlich schweigen. Andere melden sich wie alte Bekannte und verlangen unverhohlen, dass ihnen wenigstens jemand von der Telefonseelsorge zuhört. Und hin und wieder ruft ein Scherzkeks an. Ruhig, ein wenig zögerlich erzählt Katterbach, in leichtem rheinischen Singsang. Anschaulich, aber zugleich ohne zu viele Details preiszugeben, konsequent dem Telefonseelsorge-Grundsatz der Anonymität verpflichtet. Hin und wieder schließt er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.
Ein Freund, der sich schon länger engagiert, machte ihn neugierig auf die Telefonseelsorge. Erst zögerte Katterbach, über sein Ehrenamt Auskunft zu geben; andere hätten da mehr Erfahrung. Aber im Gespräch fällt ihm rasch immer mehr ein, sodass er schließlich vorschlägt: „Wir hangeln uns am besten an Ihren Fragen entlang, sonst quelle ich über.“
Sich die Sorgen und Nöte anderer anzuhören und ihnen vielleicht den Weg zu Lösungen zu ebnen – ist das denn nicht die Fortsetzung seiner langjährigen Tätigkeit als Psychiater und Psychotherapeut? Und deshalb für einen wie ihn leichter zu bewältigen als für andere Ehrenamtliche? Ja und nein, findet Katterbach. Ja, weil schätzungsweise 30 Prozent der Anrufer psychische Probleme beziehungsweise ein psychiatrisches Krankheitsbild hätten. „Da hilft mir natürlich die Erfahrung als Arzt“, sagt er. „Dann kommt mir der Dienst schon einmal wie eine psychiatrische Sprechstunde vor.“
Und auf einmal kommt Bewegung in den bislang so ruhigen Mann – er gibt unvermittelt eine kleine Schauspielkostprobe. Er setzt sich im Sessel auf, guckt betont entgeistert, ruckt ein wenig unruhig und sagt mit gehetzter Stimme: „Hören Sie, mir geht es gar nicht gut, ich glaube, ich werde verfolgt. Wissen Sie, die Leute in der S-Bahn haben mich vorhin auch so sonderbar angesehen und geflüstert . . .“
Gute Zuhörer wie er
sind Multitalente: sie
können sich auf Anrufer
einstellen, mitschwingen,
Klagen
und Geschimpfe aushalten,
Wege ebnen,
aber auch – ein Ende
finden.
Fotos: Georg J. Lopata
Dann ist Dr. Katterbach wieder der Ruhige und kommentiert: „Bei solchen Anrufen muss man nicht zu tief einsteigen. Da genügt es oft zu fragen, ob dem Betreffenden schon einmal Medikamente geholfen haben, er vielleicht Arzneimittel abgesetzt hat oder ob er einen Doktor oder eine Doktorin kennt, zu denen er gehen könnte mit seinen Problemen.“ Mancher fragt dann, ob er etwa auch Arzt sei. Doch in solchen Fällen weicht Katterbach aus, denn derart persönlich gefärbte Informationen sind bei der Telefonseelsorge tabu.
Das gelingt ihm im Übrigen leicht, das Ausweichen bei zu persönlichen Fragen. Er habe sich aufgrund von Kindheitserfahrungen für Psychologie und Nervenheilkunde interessiert, erzählt Katterbach, viel mehr will er nicht preisgeben. Geboren ist er in der Nähe von Aachen, der Vater war Ingenieur. 1961, mit 19 Jahren, fuhren die beiden zu einem befreundeten Studienrat, der Katterbach junior nach längerem Gespräch den Rat gab, doch Medizin zu studieren. Nach Berlin zogen ihn der Wunsch, Psychoanalytiker zu werden, und die Aufbruchstimmung dort. Anstrengend sei das schon gewesen damals, erinnert sich der Arzt, Arbeit, Ausbildung und eine junge Familie mit drei Kindern. Doch seine Ehefrau, von der er liebevoll spricht, habe ihn sehr unterstützt.
Zurück zur Telefonseelsorge. Vieles sei auch anders als bei seiner Arbeit in der Klinik, betont Katterbach. Allein schon die Klientel, die anruft: die einsame Seniorin aus einem öden Dorf im Brandenburgischen, der Rentner, der mit seinem Geld nicht über die Runden kommt – „das sind oft Menschen mit anderen Anliegen, als ich es in der Praxis erlebt habe“. Nun wollen sie reden.
„Die größte Gefahr für mich ist, gleich einen Rat zu geben“, sagt er selbstkritisch. Doch es gehe eben nicht primär um eine Konfliktlösung, sondern ums Zuhören. „Therapie und Seelsorge überschneiden sich aber auch“, findet Katterbach: „Es geht heute in beiden Bereichen darum, Menschen zu ihren Stärken hinzuführen.“ Akzeptanz, Toleranz, Klärung – das seien wichtige Anforderungen an den Telefonseelsorger, betont Katterbach und muss lächeln: „Klingt alles so edel, was?“
Nicht sehr glücksfähig
Edle Motive hat er schon, anderen nun ehrenamtlich zuzuhören: Zufriedenheit und Dankbarkeit, dass es ihm gut ergangen ist im Leben. Doch als Analytiker überprüfe man seine Motive ja streng, sagt er lachend. Eine tiefe Neugierde menschlichen Angelegenheiten gegenüber schwingt eben auch mit. „Kein Telefonat ist wie das andere“, resümiert er und lächelt. Sicher geht es oft um Leid und Not, aber er lacht auch mit Anrufern. Manchmal ist er gerührt, wie tief sie ihn in ihr Leben blicken lassen. Und wie sie nach Lösungen suchen: „Es ist schon toll, wie heldenhaft und ideenreich Menschen ihre Krisen bewältigen.“ Ein anderes Mal irritieren ihn hohe Ansprüche, und dann denkt er: „Die Leute sind nicht sehr glücksfähig.“
Manchem hilft allerdings sein Glaube. Dass sie mit Gott und der Religion etwas anfangen können, wird von den Ehrenamtlichen erwartet, aber „religiöse Betulichkeit“ habe keinen Platz, sagt Katterbach.
Die Telefonseelsorge hat ihn im Übrigen schon in jungen Jahren interessiert. Damals las er eine Schrift des Arztes, Pfarrers und Psychotherapeuten Klaus Thomas, der vor 50 Jahren in Berlin die erste deutsche Telefonseelsorge gründete. Inspiriert hat Katterbach auch Viktor Frankls Werk „Ärztliche Seelsorge“. Von Frankl stammt der Satz: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Sabine Rieser
Zusatzinformationen zur KTS unter:
www.aerzteblatt.de/plus5106
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