POLITIK: Das Interview
Interview mit Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio: „Ohne Dialog gibt es keine guten Entscheidungen“


Fotos: Jan Roeder
Deutsches Ärzteblatt: In Deutschland wird immer wieder über die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen diskutiert. Wie verbindlich sind sie Ihrer Ansicht nach schon?
Borasio: Da gibt es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Theorie sind sie uneingeschränkt verbindlich. Das hat der Bundesgerichtshof in mehreren Urteilen und Beschlüssen bekräftigt. Eine Patientenverfügung, wie auch ein eindeutig ermittelbarer mutmaßlicher Wille eines Patienten, ist zu beachten. Eine Zwangsbehandlung ist rechtlich nicht erlaubt, sie wäre eine strafbare Körperverletzung. In der Praxis ist diese an sich eindeutige Rechtslage häufig nicht bekannt. Es gibt viele Umfragen bei Ärzten aller Disziplinen, die zeigen, dass der Großteil der Ärzte sehr verunsichert ist über das, was erlaubt ist und das, was verboten ist. Ähnliche Unsicherheiten bestehen auch bei Vormundschaftsrichtern Deswegen ist eine rechtliche Klärung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen durch den Gesetzgeber dringend geboten. Rechtsunsicherheit erzeugt Angst, Angst behindert den Dialog, und ohne Dialog gibt es keine guten Entscheidungen. Wenn Menschen nicht mehr miteinander sprechen, werden Rechtsanwälte eingeschaltet. Der geborene Anwalt des Patienten sollte jedoch der Arzt sein.
Die Einschränkung der Reichweite von Patientenverfügungen auf den sogenannten „irreversibel tödlichen Verlauf“, die von paternalistisch orientierten Kreisen gefordert wird, ist meines Erachtens verfassungsrechtlich unhaltbar und medizinisch unsinnig. Eine Alzheimer-Demenz führt ebenso unwiderruflich zum Tode wie ein metastasiertes Mammakarzinom, zum Teil leben die Mammakarzinom-Patientinnen sogar deutlich länger. Der Beginn des „irreversibel tödlichen Verlaufs“ ist die Befruchtung der Eizelle, denn irreversibel tödlich verläuft das Leben an sich.
Kritiker einer Verbindlichkeit von Patientenverfügungen verweisen oft auf den Umstand, dass die Interessen der Menschen sich stetig wandeln. Halten Sie das für einen ernst zu nehmenden Einwand?
Borasio: Das, was die Kritiker der Patientenverfügung in die Diskussion einbringen, ist das wichtige Prinzip der Fürsorge. Unsere Rechtsordnung orientiert sich stark am Prinzip der Selbstbestimmung, weil unser ganzes Rechtssystem im Grunde dem Schutz der persönlichen Freiheit dient. Deswegen sind auch die Diskussionen, die von Juristen geführt werden, für mich als Arzt etwas zu einseitig autonomieorientiert. Ich plädiere – im Unterschied zu den Juristen – für die Einführung eines Fürsorge-Aspektes in die Gesetzgebung. Alle Patientenverfügungen sollten wirksam sein, aber es sollte einen Bonus für eine ärztliche Beratung geben: Patientenverfügungen, die nach einer ausführlichen Beratung mit dem Arzt erstellt werden, sollten so verbindlich sein, dass die Bestellung eines Betreuers nicht mehr notwendig ist. Fürsorge für freie, selbstbestimmte Menschen bedeutet nicht, dass man ihnen die Entscheidung zwangsweise abnimmt, sondern, dass man ihnen hilft, überlegte Entscheidungen zu treffen. In einer bisher unveröffentlichten Studie unseres Zentrums haben wir festgestellt, dass 70 Prozent der rund 400 Befragten sich dafür aussprechen, dass ihre Patientenverfügung eins zu eins umgesetzt werden soll. 30 Prozent wünschen sich eine etwas geringere Verbindlichkeit. Übrigens: Wichtiger als die Patientenverfügung ist die Erstellung einer Vorsorgevollmacht, und am besten sollte man beides tun. Wenn eine Patientenverfügung mit dem Arzt und dem Bevollmächtigten besprochen wurde, hat sie eine viel größere Chance, auch umgesetzt zu werden.
Prof. Dr. med.
Gian Domenico
Borasio ist Inhaber
des Stiftungslehrstuhls
für Palliativmedizin
der Ludwig-
Maximilians-Universität
München.
Borasio: Wir hatten einen herzkranken Patienten, der mehrere Gespräche mit seinem Hausarzt zur Erstellung einer Patientenverfügung geführt hatte. Bevor er diese unterschreiben konnte, erlitt er einen Herzinfarkt mit schwerstem Hirnschaden. Von großer Bedeutung für uns war hier die Möglichkeit, mit dem Hausarzt zu reden, denn dieser wusste aufgrund der Gespräche viel mehr, als aus einer Patientenverfügung hervorgegangen wäre. Auf diese Weise konnten wir uns ein sehr genaues Bild des Patientenwillens machen und diesem Willen Geltung verschaffen. In diesem Fall gab es keine Patientenverfügung als Schriftstück, aber der stattgefundene Dialog erwies sich als viel hilfreicher.
Innerhalb der Palliativmedizin spielen Patientenverfügungen eine untergeordnete Rolle, weil bei Patienten, die palliativmedizinisch behandelt werden, die Entscheidung zur Therapiezieländerung (vom kurativen zum rein palliativmedizinischen Ansatz) schon gefallen ist. Anders ist die Situation, wenn wir zum Konsil auf Intensivstationen geholt werden. Hier geht es meistens um die Frage der Therapiezieländerung, und in der Regel ist keine Patientenverfügung vorhanden. Interessanterweise kann in über der Hälfte dieser Konsile die Entscheidung allein auf der Grundlage der fehlenden Indikation zur Fortführung der Intensivmaßnahmen getroffen werden. Wenn die medizinische Indikation fehlt, braucht man den mutmaßlichen Willen des Patienten nicht zu eruieren, was sehr entlastend für die Angehörigen ist. Sie haben nämlich nicht mehr den Eindruck, über Leben und Tod des Patienten entscheiden zu müssen. Die Ärzte sollten den Mut haben, bei einem Fehlen der Indikation dies auch festzustellen und die Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen.
Wenn eine grundsätzliche medizinische Indikation für die Fortführung der Behandlung vorhanden ist, aber keine Patientenverfügung, muss der mutmaßliche Wille des Patienten ermittelt werden. Bei uns geschieht das in Konsensgesprächen mit allen Familienangehörigen, dem Pflegeteam, den Ärzten und den Seelsorgern. Die Konsensfindung gelingt in der Regel sehr gut.
Kommt es häufig vor, dass das Vormundschaftsgericht eingeschaltet wird?
Borasio: Ich habe das bisher nur einmal gemacht, bei einem schweren innerfamiliären Konflikt. Das sind Ausnahmefälle, die von Gerichten in Einzelfallentscheidungen geregelt werden.
Was halten Sie von der Begrifflichkeit aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe?
Borasio: Diese Terminologie sollte dringend geändert werden. Die sogenannte „aktive Sterbehilfe“ ist im Strafgesetzbuch klar definiert: Das ist Tötung auf Verlangen. Anstatt von „passiver Sterbehilfe“ sollte man vom „Nichteinleiten oder Nichtfortführen lebenserhaltender Maßnahmen“ oder auch vom „Zulassen des Sterbens“ sprechen.
Die sogenannte „indirekte Sterbehilfe“, von Juristen definiert als „zulässige Leidenslinderung bei Inkaufnahme der Lebensverkürzung“ gibt es in der Praxis bei korrekter Medikamentenanwendung so gut wie gar nicht. Die neuen wissenschaftlichen Daten aus der palliativmedizinischen Forschung zeigen eindrücklich, dass Opioide oder Benzodiazepine die Sterbephase nicht verkürzen, sondern sogar leicht verlängern. Wenn man andererseits Medikamente nicht korrekt anwendet, dann ist man nicht mehr im Bereich der indirekten Sterbehilfe, sondern des Behandlungsfehlers. Und selbst dann kann man Patienten mit Morphin nur schwer umbringen, weil die therapeutische Breite sehr groß ist.
Es gibt auch in Deutschland zunehmend Bestrebungen nach Zulassung aktiver Sterbehilfe. Wie kann man dem Ihrer Ansicht nach entgegentreten? Vielleicht auch mithilfe von Patientenverfügungen?
Borasio: Es ist sicher so, dass die Angst, dass mit einem am Lebensende etwas gemacht wird, was man selber nicht will und nicht verhindern kann, Menschen dazu bringen kann, zu sagen: „Wenn meine Patientenverfügung nicht beachtet wird, dann möchte ich die ultimative Kontrolle über meinen Tod haben.“ Der Respekt vor der Patientenautonomie und die gesetzliche Klärung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen sind aus meiner Sicht wesentliche Voraussetzungen, damit das Verbot der Tötung auf Verlangen auch in Zukunft eine breite gesellschaftliche Akzeptanz findet. Eine weitere zentrale Voraussetzung ist die flächendeckende Bereitstellung von palliativmedizinischer und hospizlicher Versorgung.
Was noch nicht der Fall ist.
Borasio: Noch nicht ganz, aber es gibt positive Zeichen. In der Gesundheitsreform ist die Förderung der Palliativmedizin fast das einzig Positive.
Die Fragen stellte Gisela Klinkhammer
Ulbrich, Alexander
Sturm, Barbara