THEMEN DER ZEIT
Blick ins Ausland – HIV/Aids: Chinas tickende Zeitbombe


Aidswaise und
HIV-positiv:
Gao Jun (5)
wurde von der
Dorfgemeinschaft
gemieden und
vegetierte in einem
Schweinestall.
Fotos: Sepp Spegl
Gao Jun ist übellaunig an diesem Morgen. Ein Eis hatte er haben wollen, und das bekam er nicht. Nun schaut er trotzig zu Boden. Als dann freilich ein paar bunte Luftballons vor seiner Nase geschwenkt werden, kann er nicht widerstehen; schreiend und lachend rennt er mit anderen Kindern hinter den tanzenden Ballons her – ein Bild unbeschwerter Fröhlichkeit. Doch der Schein trügt.
Hier, in den nüchternen Räumen des zweistöckigen Gebäudes am Rand der 600 000-Einwohner-Stadt Fuyang in der chinesischen Provinz Anhui, rund zehn Eisenbahnstunden nordwestlich der Boomregion Schanghai, wird die Kehrseite des nach Wirtschaftsmacht und Weltgeltung strebenden Reichs der Mitte sichtbar. Hier herrschen Armut, Krankheit und Verzweiflung. Hier ist noch wenig davon zu spüren, dass die Staatsführung in Peking (spät genug) ihre Anti-Aids-Politik komplett umgekrempelt hat. Dass sie jetzt schon fast verzweifelt bemüht ist, die Menschen mit Aufklärungsarbeit und Medienkampagnen über die Immunschwächekrankheit zu informieren und dazu die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und privaten Unternehmen sucht.
Der fünfjährige Gao steht als trauriges Symbol dafür. Er ist eine Aidswaise, ebenso wie seine Spielkameraden. Es sind heute an die hundert Kinder im Alter zwischen fünf und 16 Jahren gekommen, um wenigstens einmal in der Woche für drei Stunden Unbeschwertheit und Zuwendung zu erfahren. Die Eltern sind an Aids gestorben, die Kinder selbst sind das menschliche Strandgut, die späten Leidtragenden einer Masseninfizierung, die schon mehr als 15 Jahre zurückliegt. Geradezu serienweise waren damals in der Provinz Anhui und anderen Regionen Chinas Bewohner über verunreinigte, nicht gewechselte und auch nicht desinfizierte Spritzen angesteckt worden.
Die Geschichte von Gao Jun ist schnell berichtet. Auch die von den anderen Kindern aus den Dörfern der Umgebung. Zhang Yin hat sie schon oft erzählt. Sie kümmert sich seit drei Jahren um die Ausgestoßenen. Bis 2003 war die jetzt 37-Jährige als erfolgreiche Geschäftsfrau in Fuyang tätig, betrieb ein Café sowie Mode- und Sportboutiquen. Dann führte eine amerikanische Freundin sie eines Tages in ein Dorf in der Nähe und zeigte ihr den kleinen Jungen. Gao Jun war über und über mit Schwären bedeckt, hauste von der Dorfgemeinschaft gemieden auf gestampftem Lehmboden in einer Hütte, zusammen mit einem Schwein und etlichen Hühnern, sprach kein Wort. Ab und zu reichten ihm Verwandte etwas zu essen. Beide Eltern und auch die Großeltern waren an Aids gestorben. Bei den Dorfbewohnern galt Gao darum als ansteckend; im Grunde hofften alle auch auf seinen Tod. Tatsächlich trägt der Junge das HI-Virus in sich. Inzwischen jedoch hat Zhang Yin für ihn eine Gastfamilie gefunden, er erhielt ärztliche Versorgung, die Pickel auf der Haut sind abgeheilt, er spricht und lacht. Demnächst darf Gao Jun einen Kindergarten besuchen.
Zhang Yin ist heute eine weithin bekannte Persönlichkeit in China. Die von ihr gegründete und geführte Fuyang Aids Orphan Salvation Association (Gesellschaft zur Rettung von Aidswaisen) gilt bis in höchste staatliche Stellen als vorbildhaft für privates Engagement. Mittlerweile betreuen sie und ihr Verein rund 400 Schützlinge, bei Weitem nicht alle sind selbst infiziert.
Verlässliche Daten gibt es nicht. Man schätzt die Zahl der Aidswaisen in China auf 70 000 bis 80 000.
„Opfer der Armut“ nennt sie Edmund Settle, der in Peking die Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen betreut. Alles gehe auf die Armut zurück. Auch die Massenepidemie in der ersten Hälfte der 90er-Jahre, von der ganze Regionen von der Größe mancher europäischer Staaten betroffen waren, in denen es noch immer Dörfer gibt, die – aus Angst vor Ansteckung – von Bussen gemieden werden. Inzwischen hat die chinesische Regierung energische Maßnahmen gegen HIV/Aids eingeleitet. Allein im vorigen Jahr wurden dafür von der Staatsführung 810 Millionen Yuan (knapp 80 Millionen Euro) aufgewendet. Freilich war aber auch offiziell die Existenz eines Aidsproblems viel zu lange hartnäckig geleugnet worden.
In der armseligen
Hütte ihrer Großmutter
Shi Chun
Ying (82) leben die
Aidswaisen Jin
Hong (14), Xin Lei
(11) und Huang Xin
Mei (12).
Zhang Yin und
William (Bill) Valentino
mit der HIVpositiven
Nan Nan
(15), deren Eltern an
Aids gestorben sind.
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Connie Osborne ist trotzdem überzeugt, „dass wir diesen Kampf gewinnen“. Woher die Zuversicht kommt? „Oh“, lacht sie, „wissen Sie: Optimismus ist mein zweiter Name.“
In der 20-Millionen-Metropole Peking finden sich manche von ihrem Schlage – Personen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Milieus, die jeden Tag von Neuem in die Hände spucken. Auch William (Bill) Valentino ist so jemand. Der 56-jährige Amerikaner ist Kommunikationschef des Pharmakonzerns Bayer in Peking. Für ihn steht und fällt der Erfolg im Kampf gegen die HIV/Aids-Epidemie mit der Beantwortung der Frage, „ob es uns gelingt, so viel Wissen wie möglich über die Krankheit, ihre Ursachen und die Möglichkeiten ihrer Verhinderung unter die 1,3 Milliarden Chinesen zu bringen“. Bayer ist deshalb im November 2004 mit der angesehenen Tsinghua-Universität der Hauptstadt eine Partnerschaft eingegangen. Der Leverkusener Konzern finanziert an der dortigen Schule für Journalismus und Kommunikation ein Programm, das speziell dem Thema HIV/Aids, der Berichterstattung darüber und dem Umgang damit dient. Valentino ist Kodirektor dieses Seminars und hält selbst Vorlesungen über Öffentlichkeitsarbeit und seriösen Journalismus, scheut sich aber auch nicht, bei „technischen“ Demonstrationen mit Attrappen und Kondomen Aufklärungsunterricht zu erteilen. Die Zielgruppen: hauptsächlich Journalisten, Ärzte – kurz Multiplikatoren, die das neu erworbene Wissen weiter transportieren sollen.
Inzwischen wurde das „Tsinghua-Bayer-Programm“ schon mehrfach ausgezeichnet, mehr als 600 Personen haben diese „Schule“ durchlaufen. Und zwar keineswegs nur auf dem Uni-Campus in der Hauptstadt, sondern auch in der Provinz.
20 Stunden mit
der Eisenbahn
unterwegs war
der zwölfjährige
HIV-positive Meng
Meng, begleitet von
seinem Vater, um im
Hospital Friede und
Freundschaft in Peking
Hilfe zu finden.
Xiao Dong hat ein Treffen vermittelt. 18 Jahre ist der Jüngste aus der Gruppe, er spielt den Clown. 36 Jahre der Älteste, den die anderen „Mutter“ nennen. Er selbst sieht sich eher als deren Zuhälter, aber auch Beschützer. Es ist ein lebhaftes Gespräch. Ja, die meisten kämen aus der Provinz. Nein, die Eltern wüssten nichts von ihrem Leben. Schule? Nicht abgeschlossen. Beruf? Na, sehen Sie doch: sex worker. Legalisierung von Homosexualität in China – ja, das wäre ein Traum. Gesundheitstests? Sicher – zum Glück habe sie Xiao Dong davon überzeugt. Übrigens, alle hier hätten sich mittlerweile als „volunteers“, als freiwillige Helfer im staatlichen Zentrum für Gesundheitskontrolle gemeldet. Xiao Dong räumt später ein, schon ein bisschen stolz darauf zu sein, wenigstens hier das Bewusstsein für die HIV/Aids-Gefahr geweckt zu haben.
Ein Hospital in Peking hat inzwischen Berühmtheit erlangt. Sein Name: Friede und Freundschaft. Bill Clinton hat es bereits besucht und auch Kofi Annan, der ehemalige UN-Generalsekretär. Sie kamen ins „Home of Loving Care“ – Heim für liebevolle Behandlung. Das ist die Bezeichnung für die im November 1998 dort eingerichtete Aidsstation. Fu Yan, die Oberschwester, versichert, die Einrichtung sei jederzeit für alle offen. Und dann präsentiert sie, erkennbar traurig, ihren jüngsten Patienten: Der zwölfjährige Meng Meng (ein Pseudonym) war mit seinem Vater 20 Stunden mit der Eisenbahn unterwegs, um hier, in der Hauptstadt, Behandlung, Hoffnung und neuen Lebensmut zu finden. Zu Hause hatte ein Test die niederschmetternde Nachricht HIV-positiv erbracht. Und das, obwohl weder Vater noch Mutter infiziert sind. Inzwischen kennt man die Ursache. Meng Meng hatte einen Unfall und erhielt im heimischen Krankenhaus eine Infusion – mit einer verseuchten Spritze. Die Zeitbombe Aids tickt unvermindert weiter . . .
Gisbert Kuhn
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