POLITIK
Migranten als interkulturelle Gesundheitslotsen: Eine Brücke in die Gesellschaft


Foto: Karin Desmarowitz/agenda
Ein Mann steckt den Kopf zur Tür herein. Kinder rennen um den Tisch, eine Frau mit Kopftuch bindet ihrer Tochter die Haare zum Zopf. Andere rühren in der Teetasse oder schaukeln die Kleineren auf dem Schoß. Trotz des Lärms lauschen die elf Frauen konzentriert den Worten von Nilüfer Solmaz. Sie spricht heute über Kindergesundheit. Auf Türkisch, denn die meisten Frauen, die regelmäßig das Mutter-Kind-Frühstück im Kinder- und Familienzentrum in der Hochhaussiedlung im Hamburger Stadtteil Schnelsen-Nord besuchen, sprechen nur gebrochen Deutsch. „Gebt euren Kindern keine Cola oder Limonade zu trinken, die enthalten zu viel Zucker“, ermahnt sie ihre Zuhörerinnen. Als sie auf Kinderkrankheiten zu sprechen kommt, verschafft sich eine Frau mit lauter Stimme Gehör. Ihr elfjähriger Sohn hatte noch keine Kinderkrankheit. Nun sei er sehr dünn, ob sie sich darüber Sorgen machen müsse? Geimpft sei er, bestätigt sie auf Solmaz’ Nachfrage, und ihre Schwester ergänzt: „Er isst wenig, aber oft.“
Für Solmaz ist diese Vorstellung typisch für viele Menschen aus ihrem Kulturkreis. „Viele glauben, nur wenn ein Kind viel isst, ist es gesund.“ In Binsenweisheiten wie dieser sieht sie eine Ursache für den relativ hohen Anteil an türkischstämmigen Kindern, die unter Fettleibigkeit leiden. „Wir haben ein falsches Bild von Ernährung“, findet sie und ergänzt: „Wir essen zu fett.“ Eine Erkenntnis, die sich unter gesundheitsbewussten, jungen Türkinnen wie Solmaz längst durchgesetzt hat. Immerhin hatte sie vor ihrem Studium der Gesundheitswissenschaften in Hamburg bereits Gesundheitsmanagement im türkischen Ankara studiert.
Im Angebot sind 17 Sprachen
Seit einem Jahr lotst die 31-jährige Kurdin Landsleute durch Fragen der Ernährung und Verhütung und erklärt das deutsche Gesundheitssystem. Solmaz ist eine von 38 Hamburgern afrikanischer und südamerikanischer Herkunft, aus Russland, der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien, die sich im vergangenen Jahr in Gesundheitsthemen fortgebildet haben. Organisiert wird das Gesundheitsprogramm „Mit Migranten für Migranten“ (MiMi) vom ethno-medizinischen Zentrum Hannover, finanziert von den Betriebskrankenkassen, der Europäischen Union und dem Bezirk. Heute können die Gesundheitslotsen für Veranstaltungen in Asylunterkünften, Moscheevereinen, Schulen und Kitas, Caféhäusern und Fußballclubs für ein geringes Honorar gebucht werden. Im Angebot sind 17 Sprachen.
In 21 deutschen Städten bieten die Gesundheitslotsen mittlerweile ihre Dienste an. „Wir versuchen, über die gut Integrierten auch die Migranten zu erreichen, die außen vor bleiben“, erklärt Ramazan Salman, Leiter des ethno-medizinischen Zentrums. Seine Erwartungen wurden weit übertroffen: Bisher haben bundesweit mehr als 200 Gesundheitslotsen ihr Wissen an etwa 3 000 Migranten weitergegeben – die Familienangehörigen nicht mitgezählt. Besonders erfreulich: Auf diesem Weg werden auch Migranten mit niedrigem Schulabschluss und wenig Deutschkenntnissen erreicht, wie die Frauen beim Mutter-Kind-Frühstück, von denen einige nicht einmal ihre Muttersprache Türkisch lesen können. Bei diesen Frauen versagen die klassischen Informationswege wie Broschüren, Faltblätter oder Plakate.
Nilüfer Solmaz ist mit dem Ablauf ihrer heutigen Veranstaltung sehr zufrieden. Die Frauen stellen Fragen, berichten von eigenen Erfahrungen und diskutierten. Diese offene Atmosphäre ist für Solmaz entscheidend: „Die Frauen sollen das Gefühl haben, mit Freunden zu Hause zu sein, sich wohlfühlen.“
Wegen der großen Nachfrage wird in Hamburg bereits der zweite Jahrgang Gesundheitslotsen ausgebildet. Neu auf dem Stundenplan: seelische Gesundheit – auf Forderung der Gesundheitslotsen. Dieses Thema liegt auch Fuad Advic am Herzen. „Meine Schwiegereltern leiden unter dem Posttraumatischen Belastungssyndrom“, erzählt der 34-jährige gebürtige Bosnier, der seit 14 Jahren in Hamburg lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Jahrelang habe er sie zu Ärzten begleitet und gedolmetscht. Als die Referentin, Psychologin an der Hamburger Universitätsklinik UKE, die häufigsten seelischen Erkrankungen und ihre Symptome auflistet, weiß er genau, wovon sie spricht. Während des Bosnienkrieges zu Beginn der 90er-Jahre wurden seine Schwiegereltern aus ihrem Dorf vertrieben. Schwer traumatisiert durch die Gräueltaten, deren Zeugen sie wurden, flüchteten sie nach Hamburg. Doch auch in der Hansestadt kamen sie nicht zur Ruhe, weil sie nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden. „Sie haben keine Heimat mehr, und wenn die Abschiebung droht, kommen die Schreckensbilder zurück“, erzählt Advic. Doch in vielen Familien werden seelische Erkrankungen nicht als solche erkannt – oder verschwiegen.
Höheres Gesundheitsrisiko bei Migranten
Dass ein Leben in Migration zu höheren Gesundheitsrisiken führt, ist laut Salman unbestritten. So sei die Gefahr, an Depressionen zu erkranken, besonders für Frauen, deutlich erhöht. Auch treten bei den sogenannten Gastarbeitern nach jahrzehntelanger harter Arbeit vermehrt chronische Leiden auf. „Trotzdem nehmen Migranten die vorhandenen Präventionsangebote wie zahnmedizinische oder Vorsorgeuntersuchungen seltener in Anspruch“, bestätigt Salman. Deshalb gilt es, Brücken zu schlagen. „Prävention ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft“, erklärt Salman. Auch daran lässt sich Integration messen.
Als Advic von dem dreimonatigen Lehrgang erfuhr, hat er sich umgehend angemeldet. „Endlich können wir Migranten etwas für uns tun“, sagt er. „Bei Landsleuten versteht man besser, wie sie drauf sind. Deutsche können es nicht nachvollziehen.“
Michaela Ludwig