POLITIK: Leitartikel
Sozialpapier der Kirchen: Anspruch auf vollwertige Medizin


Als ein Plädoyer für eine tiefgreifende Erneuerung der Gesellschaft sowie ein solidarisches und gerechtes
Gemeinwesen wollen die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland ihr gemeinsames Wort zur
wirtschaftlichen und sozialen Lage verstanden wissen. Grundlage der jetzt vorgestellten Schrift war ein rund 50
Seiten umfassender Text, den beide Kirchen im November 1994 vorgelegt hatten.
In ihrer Schrift fordern die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
einen Grundkonsens, "der in der Rückbesinnung auf die Grundintentionen der sozialen Marktwirtschaft und
des sie tragenden Wertgefüges" bestehe. Eine "Marktwirtschaft pur" wird von den Kirchen kategorisch
abgelehnt. "Das Maß ist der Mensch, nicht der Markt allein", sagte der Vorsitzende der Deutschen
Bischofskonferenz, der Mainzer Bischof Dr. Karl Lehmann. Die Gefahr sei groß, daß die Wettbewerbsfähigkeit
auf Kosten der sozialen Sicherheit gestärkt werde.
Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt sei weder für die betroffenen Menschen noch für den sozialen
Rechtsstaat hinnehmbar. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit sei ein "gefährlicher Sprengstoff: im Leben der
betroffenen Menschen und Familien, für die besonders belasteten Regionen, vor allem weite Teile
Ostdeutschlands, für den sozialen Frieden". Die Kirchen fordern unter anderem die schrittweise Herausnahme
versicherungsfremder Leistungen aus der Sozialversicherung. Diese sollten über Steuern finanziert werden.
Arbeit müsse auch geteilt und öffentlich gefördert werden, schlug der Vorsitzende des Rates der EKD,
Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt, vor. Doch nicht nur die Armut, auch der Reichtum müsse Thema der
Debatte werden. Umverteilung sei derzeit häufig Umverteilung des Mangels, während der Überfluß verschont
bleibe, heißt es in dem Papier.
Patientennähe
In einem eigenen Kapitel beschäftigen sich die Kirchen mit dem Gesundheitswesen. Auch in Zukunft müsse
eine vollwertige medizinische Versorgung für jeden und ein freier, von der Einkommenssituation unabhängiger
Zugang aller zur Gesundheitsfürsorge gewährleistet sein. Die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und
die Versorgung auf einem hohen medizinischen und pflegerischen Niveau dürften nicht preisgegeben werden.
Solidarität und Gerechtigkeit im System müßten gewahrt bleiben.
Ausgabenbegrenzungen im Gesundheitswesen dürften nicht dazu führen, Medizin und Pflege auf "technische
Vollzüge" zu reduzieren; menschliche Zuwendung und Patientennähe seien unentbehrliche Kennzeichen einer
humanen Gesundheitsversorgung. Das geltende Recht der gesetzlichen Krankenversicherung sehe bereits eine
Vielzahl von Eigenbeteiligungen und Zuzahlungen vor. Damit seien zusätzliche Beitragserhöhungen
abgewendet worden. Doch die Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen müßten ausgewogen sein,
und die Vielfalt der Leistungserbringer und Einrichtungsträger dürfe nicht gefährdet werden, fordern die
Kirchen.
Bei weiteren Gesundheitsreformen sei darauf zu achten, daß sie nicht einem Entsolidarisierungsprozeß
Vorschub leisteten und Einkommensschwache in unvertretbarer Weise benachteiligten. Falls es zu allzu rigiden
Kostenbegrenzungen komme, würden die "gesellschaftlichen Folgekosten wesentlich höher sein als die
kurzfristig erzielten Spareffekte", und der gesetzlich verankerte Vorrang von Prävention, Rehabilitation und
ambulanter vor stationärer Hilfe würde gefährdet.
Die Kirchen wollten keine "detaillierten Empfehlungen" geben. Mit kritischen und deutlichen Worten haben
sie jedoch nicht gespart. Dennoch hat die Schrift bei Politikern aller Parteien (sogar der FDP), Gewerkschaftern
und Arbeitgebern grundsätzlich ein positives Echo gefunden. Gisela Klinkhammer
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