MEDIZIN: Editorial
Versorgung von Typ-2-Diabetikern
Eine Arbeit, zwei Interpretationen
State of Type 2 Diabetes Care in Germany: One Study, Two Interpretations


Die Autoren interpretieren ihre Befunde als den Ausdruck eines Versorgungsparadoxes bei Typ-2-Diabetikern und verweisen auf die vergleichsweise gut etablierte Behandlung erhöhter Blutzucker- und Blutdruckwerte im Vergleich zur unzureichenden Therapie der Hyperlipidämie. Dies ist zweifellos eine mögliche Lesart der Ergebnisse, man kann die Resultate aber auch in einem anderen Licht sehen.
Erhöhtes kardiovaskuläres Risiko
Diabetiker haben ein hohes kardiovaskuläres Risiko, und die Mehrzahl bedrohlicher und tödlicher Folgen besteht in makrovaskulären Erkrankungen. In der Regel ist also die Behandlung von Hochdruck und Fettstoffwechselstörung bei diesen Patienten das Entscheidende. Die gute „Zuckereinstellung“ ist für die Reduktion der Hauptkomplikationen (1) eher sekundär – soviel ist bekannt (1–3). Ebenso werden heute kardiovaskuläre Risikofaktoren in ihrer Gesamtheit gesehen (kardiovaskuläres Gesamtrisiko), was sich etwa auch in der Leitlinie der Hochdruckliga wiederfindet. Damit aber relativieren sich Angaben zu Grenzwerten der einzelnen Risikofaktoren (4–6). Vielmehr geht es um die Beeinflussung eines Gesamtrisikos – zusammengesetzt aus allen Risikofaktoren.
Wenn das Konzept des Gesamtrisikos bisher in einer standardisierten Form, also in Risikotabellen ablesbar, nur für die Primärprävention umgesetzt ist, so gilt es konzeptionell doch auch für die Sekundärprävention. Zudem setzen andere Leitlinien, die als die besten evidenzbasierten Arbeiten angesehen werden (3, 7, 10), einen Diabetes nicht mit einer kardiovaskulären Krankheitsmanifestation gleich, wenden also das Gesamtrisikokonzept der Primärprävention ebenfalls an.
Anders ausgedrückt: Die Dokumentation, welche einzelnen Zielwerte nicht erreicht werden, kann nur der Beginn einer Diskussion sein, denn aus solchen Angaben kann man nur eingeschränkt auf die Versorgungsqualität schließen. Um diesen Zusammenhang wissen auch die Autoren und kündigen dankenswerterweise eine derartige Auswertung mit Berücksichtigung eines Gesamtrisikos an.
Dennoch kann grundsätzlich festgehalten werden: Je stärker ein Risikofaktor ausgeprägt ist, desto höher ist auch das Risiko für Folgeschäden. Daher ist es das Beste, Risikofaktoren möglichst weit abzusenken. So richtig dies prinzipiell ist, so unbestritten ist auch, dass der Grenznutzen – gemessen etwa als „number needed to treat“ – abnimmt, je weiter man einen Risikofaktor absenkt (4–6, 8). Daher muss man sich fragen, zu welchem Preis eine drastische Reduzierung der Risikofaktoren zu erreichen ist und welchen Gewinn man damit erzielt (9). Es mag durchaus Patienten und Ärzte geben, die in bestimmten Situationen den Aufwand einer Risikofaktorabsenkung im Verhältnis zum erwartbaren Nutzen als nicht mehr lohnenswert erleben.
Nachdenklich stimmt auch, dass selbst in den meisten klinischen Studien die Patienten im Mittel nicht die Grenzwerte erreicht haben, die in der Arbeit von Berthold et al. zugrunde gelegt werden, obwohl hier ausgewählte Patientengruppen unter in der Regel besonders intensiver ärztlicher Betreuung stehen. So erreichten zum Beispiel in der ALLHAT-Studie den angestrebten Blutdruck von < 140/90 lediglich 60 % – und dies waren auch nur Personen mit initial leichtem bis mittelschwerem Blutdruck (10).
Unterschiedliche nationale Leitlinien
In anderen Nationen gelten andere Maßstäbe, wie die Leitlinien aus England (3), den Niederlanden (10) oder Neuseeland (7) zeigen. Legt man einmal als Gedankenexperiment die in diesen Leitlinien verwendeten Grenzwerte zugrunde, dann kommt man zu einem anderen Bild auf der Basis der von Berthold et al. präsentierten Daten: Ungefähr 6 von 10 Patienten (64 %) haben eine ausreichende Blutzuckereinstellung mit einem HbA1c bis 7,5 mg % – sogar 77 %, wenn man einen HbA1c bis 7,9 akzeptiert. Einen ausreichenden systolischen Blutdruck bis 150 mm Hg erreichten 63 %; 60 % hätten eine gute Einstellung bei einer Orientierung an einem diastolischen Blutdruck bis 85 mm Hg oder 70 %, wenn man als Grenzwert bis 89 mm Hg definiert. Und 74 % kommen mit ihrem LDL-Cholesterin nicht über 159 mg/dL (alle Zahlen aus den Abbildungen bei Berthold entnommen).
So betrachtet, könnte man die Zahlen sogar als Dokument einer relativ guten Versorgungslage interpretieren, weil doch etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Versorgten die einzelnen Grenzwerte erreicht und vermutlich ein nennenswerter Teil der Patienten auch nur ein eher niedriges Gesamtrisiko haben dürfte. Aber auch dies wäre natürlich eine vereinfachende Darstellung – nur diesmal aufgrund anderer Grenzwerte. Warten wir also auf die Auswertung des Gesamtrisikos.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 31. 1. 2007, revidierte Fassung angenommen: 15. 2. 2007
States of type 2 diabetes care in Germany: one study, two interpretations
Dtsch Arztebl 2007; 104(13): A 859–60.
Anschrift für den Verfasser
Prof. Dr. med. Heinz-Harald Abholz
Abteilung Allgemeinmedizin
Universitätsklinikum Düsseldorf
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt.de/english
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1. | Sawicki PT, Vester EG: Kardiale Komplikationen bei Diabetes mellitus. In: Berger M (ed.): Diabetes mellitus, 2. Auflage München: Urban & Fischer 2000. |
2. | Hovens NM, Tamsma JT, Beishuizen ED, Huisman HV: Pharmacological strategies to reduce cardiovascular risk in typ 2 diabetes mellitus: an update. Drugs 2005; 65: 433–45. |
3. | The Royal College of General Practitioners/Effective Clinical Practice Unit, Sheffield/NICE: Clinical guidelines for typ 2 diabetes – Blood pressure management/lipid management. www.shef.ac.uk/guidelines |
4. | De Baker G et al.: European guidelines on cardiovascular disease prevention in general practice. Europ Heart J 2003; 24: 1601–10. |
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6. | Jackson R, Carlene M, Lawes M et al.: Treatment with drugs to lower blood pressure and blood cholesterol based on an individual's absolute cardiovascular risk. Lancet 2005, 365: 434–41. MEDLINE |
7. | New Zealand Guidelines: Evidence based best practice guidelines: Assessment and Management of cardiovascular risk. 2003. http://www.nzgg.org.nz/guidelines/0035/CVD_Risk_Full.pdf |
8. | Snow V, Weiss KB, Matur-Pilson C et al.: The evidence base for tight blood pressure control in the management of typ 2 diabetes mellitus. Ann Intern Med 2003, 138: 587–92. MEDLINE |
9. | Pogach L, Engelgau M, Aron D: Measuring progress towards achieving HbA1c goals in diabtes care. JAMA 2007; 297: 520–3. MEDLINE |
10. | NHG-Standaard: Cardiovasculaire risicomangement; vers. 2007, N 84. http://nhg.artsennet.nl/content/resources//AMGATE_6059_104_TICH_R1195991373945248// |
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