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Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich: Idee und Wirklichkeit


Kritiker monieren, dass über die derzeit im RSA berücksichtigten Merkmale der Gesundheitszustand und der Versorgungsbedarf der Versicherten nur unzureichend erfasst werden. „Der heutige Risikostrukturausgleich fördert die Fehlanreize, weil er nicht zwischen gesund und krank unterscheidet“, betonte etwa Werner Schneider vom AOK-Bundesverband Ende März bei einer IIR-Konferenz in Köln. So erhalte beispielsweise eine Kasse gerade einmal 2 479 Euro aus dem RSA, wenn sie eine 62-jährige Erwerbsminderungsrentnerin versichere, die an Diabetes mit akuten Komplikationen leide. Da die tatsächlichen Jahresmehrausgaben für die Chronikerin deutlich höher liegen, sei die Frau ein „schlechtes Risiko“ für jede Kasse.
Die zum 1. April in Kraft getretene Gesundheitsreform hat sich zum Ziel gesetzt, den RSA zielgerichteter zu gestalten. Die Grundidee: Zur Versorgung ihrer Versicherten soll jede Kasse ab 2009 für jeden von ihnen aus dem Gesundheitsfonds eine Grundpauschale sowie Zu- und Abschläge zum Ausgleich des nach Alter, Geschlecht und Krankheit unterschiedlichen Versorgungsbedarfs erhalten. Für die 62-jährige Erwerbsminderungsrentnerin mit Diabetes würde die Kasse dann in Schneiders Modellrechnung 5 979 Euro aus dem Fonds erhalten: 517 Euro Basiszuschlag für eine 62-jährige Frau, 842 Euro Zuschlag wegen der Erwerbsminderungsrente, 2 214 Euro Zuschlag für Diabetes mit Komplikationen und 2 406 Euro Zuschlag für die Insulinverordnung. So weit die Idee.
Die Wirklichkeit dürfte anders aussehen. Denn in den Verhandlungen zwischen SPD und Union haben Regelungen den Weg ins GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gefunden, die die Zielgenauigkeit des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) gefährden.
So beschränkt der Koalitionskompromiss den Morbi-RSA auf 50 bis 80 Krankheiten, bei denen die durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten die GKV-weiten durchschnittlichen Leistungsausgaben um mindestens 50 Prozent übersteigen. Welche Krankheiten dies sein werden, legt das Bundesversicherungsamt (BVA) auf Vorschlag eines wissenschaftlichen Beirats (dessen Besetzung noch offen ist) fest. „Somit entscheidet letztlich der BVA-Präsident, wie viel Milliarden Euro künftig im System umverteilt werden“, kritisierte Schneider. Vor allem würden nur sehr kostenintensive Krankheiten berücksichtigt.
Zudem enthält das Gesetz die von Bayern geforderte Konvergenzklausel, wonach kein Bundesland mit mehr als 100 Millionen Euro jährlich durch die Reform belastet werden darf. Eine solche Konvergenzklausel zur Vermeidung einer Länderzusatzbelastung hält man bei der AOK für nicht umsetzbar. „Man kann ja schlecht den alten RSA virtuell weiterführen, um etwaige Zusatzbelastungen zu berechnen“, meinte Schneider.
Dem Ziel, eine Risikoselektion der Kassen zu vermeiden, läuft insbesondere auch die Begrenzung der „kleinen Prämie“ auf ein Prozent des Einkommens der Versicherten entgegen. Denn je enger die Zusatzprämie – die die Kassen erheben müssen, wenn die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen – begrenzt wird, desto größer ist der Anreiz für die Kassen, sogenannte Besserverdienende anzuwerben.
Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik
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