SUPPLEMENT: Reisemagazin
Arktis: Holiday on Ice
Dtsch Arztebl 2007; 104(14): [18]


Fotos: Roland Motz
40 Touristen und ein Kamerateam nehmen teil an einer ungewöhnlichen Reise zur nördlichsten Inselgruppe der Welt. Unser Schiff, „Kapitan Dranitsyn“, ist ein vom russischen Staat gecharterter Eisbrecher, der normalerweise an der sibirischen Polarküste eine Fahrrinne eisfrei halten soll. Mit seinen 24 000 PS kann er meterdickes Packeis durchdringen. Das ist auch nötig, denn unser Ziel, das oberhalb des 80. Breitengrads im Polarmeer gelegene Franz-Josef-Land, ist auch im Hochsommer wie jetzt von einem dicken Eispanzer umgeben. Drei lange Tage und ebenso helle Mittsommernächte sind wir von Murmansk aus in der Barentssee unterwegs gewesen, um den 1926 von der Sowjetunion annektierten Archipel zu erreichen.
Durchdringt auch meterdickes
Packeis: Kapitan Dranitsyn
Alger Island: erster Landgang. Seit Jahren von keinem Menschen mehr betreten. Mit wendigen Zodiac-Schlauchbooten nähern wir uns der Insel über eine offene Wasserrinne.
Die letzten Meter bis zum Strand müssen zu Fuß im sulzigen Ufereis zurückgelegt werden. „Es liegt etwas Erhabenes in der Einsamkeit eines noch unbetretenen Landes, wenngleich dieses Gefühl nur durch unsere Einbildung und den Reiz des Ungewöhnlichen geschaffen wird“, schrieben die unfreiwilligen Entdecker von der österreichisch-ungarischen Polarexpedition 1874, die den Inselarchipel nach ihrem Kaiser Franz-Josef-Land tauften und nur mit viel Glück überlebten. Man glaubt, sich in einem Film zu befinden, dem Rot-, Gelb- und Grüntöne entzogen sind. Ein unwirklicher, leicht blaustichiger Film, der in einer minimalistischen Landschaft spielt, die vor Ewigkeiten geschaffen wurde; ein menschenleerer Film, in dem Steine und Eis die Hauptrolle spielen.
Zurück an Bord läuft wieder der Hauptfilm mit dem 360-Grad-Rundumblick über das Eis. Die Entdeckung des Nichts könnte er heißen. Treibeis, Packeis, Pfannkucheneis, aufgetürmte Eisschollen, schwarze Löcher und Rinnen im bleigrauen Wasser des von dichtem Nebel eingehüllten Polarmeers, der wie ein zäher Brei über allem liegt. Plötzlich ein bizarr geformter Rieseneisberg vor uns – auch das gehört zum Polarfilm. Kapitän Saliev manövriert sein Schiff so nahe heran, bis wir mit dem Bug das blauweiße Eis berühren.
Das Schlauchboot wird zum
Spielball der Walrösser.
Anzeige
Bei der Weiterfahrt durch den Austria Sund bricht über Kap Frankfurt zum ersten Mal die Sonne durch die geschlossene Wolkendecke. Die Lichtstimmung ist überwältigend. Beim Abendessen reißt der Himmel ganz auf. Niemanden hält es mehr an den russischen Fleischtöpfen. Alle verbringen die Nacht bei strahlendem Sonnenschein an Deck, fest eingehüllt in warme Jacken.
In den frühen Morgenstunden erreichen wir die markanten Basaltklippen von Kap Tegetthoff. Hinter dem kilometerlangen, halbvereisten Sandstrand türmt sich dunkler Frostschutt auf. Doch in geschützten Mulden hat sich eine geschlossene Tundra-Vegetationsdecke herausgebildet. Intensive Düngung durch die in den Felstürmen brütenden Vögel haben arktischen Pflanzen einen Lebensraum eröffnet. In den endlosen Tagen des kurzen Polarsommers blühen winziger roter Steinbrech, gelber und weißer Gletschermohn, Rosenwurz und Skorbutkraut neben leuchtenden Moosen und Flechten. An die 50 verschiedene Pflanzenarten, alle im Miniaturformat, nehmen den Kampf gegen das Eis auf. Selbst Bäume wachsen auf dem Dauerfrostboden – bis zu einer Höhe von fünf Zentimetern.
Noch einen letzten Höhepunkt hält Franz-Josef-Land für uns bereit. Auf dem Weg zu einer Walrosskolonie werden wir zum Spielball einer anderen Herde, die plötzlich aus dem offenen Wasser auftaucht. Mit Mund und Nase stoßen die Eintonner unsere Schlauchboote hin und her, duschen sich im Kühlwasserstrahl der Außenbordmotoren und prusten auf uns los.
In wenigen Wochen wird die „Dranitsyn“ wieder ihre Arbeit an der sibirischen Küste tun; der Expeditionsleiter wird seinem Job als Direktor des arktischen Museums in St. Petersburg nachgehen und sich auf die Nordpolschlittenreise im nächsten Sommer vorbereiten. Auf die Frage nach dem „Wie“ hat Victor Boyarsky eine überzeugende Antwort parat: „Life in Russia is training enough.“ Roland Motz
Infos: Hurtigruten, Kleine Johannisstraße 10, 20457 Hamburg, Telefon: 0 40/37 69 30, Fax: 0 40/36 41 77, Internet: www.hurtigruten.de.
Leserkommentare
Um Artikel, Nachrichten oder Blogs kommentieren zu können, müssen Sie registriert sein. Sind sie bereits für den Newsletter oder den Stellenmarkt registriert, können Sie sich hier direkt anmelden.