SUPPLEMENT: Reisemagazin
Kassel: Weckewerk und Weltkunst
Dtsch Arztebl 2007; 104(14): [28]


A man walking into the sky: Jonathan Borowsky
schuf das Documenta-Kunstwerk. Fotos: Kassel Touristik
Ab nach Kassel. So hieß es im 18. Jahrhundert, als die hessischen Landesfürsten Söldner in der Stadt an der Fulda sammelten, um sie an die Engländer für den Einsatz in den amerikanischen Kolonialkriegen zu verkaufen. Und noch einmal wurde der Ruf laut, als 1870, nach der Schlacht von Sedan, Napoleon III. in Aachen in den Zug gesetzt wurde, mit Ziel Schloss Wilhelmshöhe, ein nobles „Kriegsgefängnis“ hoch über Kassel.
Ab nach Kassel. Das war über Jahrzehnte meistens ein wenig höhnisch gemeint. Wer nach Kassel heiratete oder dorthin versetzt wurde, in die Residenz oder in die Lokomotiv- und Panzerschmiede Henschel, der wurde kaum beneidet. Damals, immerhin, hatte Kassel eine wunderschöne Altstadt, war eine Provinzidylle im Herzen Deutschlands. Aber 1943 wurde in Stunden vernichtet, was in Jahrhunderten gewachsen war, und in den 50er- und 60er-Jahren entstand eine gesichtslose Innenstadt. Kassel war zudem ins Zonenrandgebiet gerutscht.
Verspielt: Die Orangerie
gibt den Blick frei auf die
Karlsaue.
Das war damals schon hochgradig ungerecht, und es ist, spätestens seit die Documenta alle fünf Jahre die (kunstsinnige) Welt auf Kassel schauen lässt, völlig falsch. Und doch ist die Hauptstadt Nordhessens ihr braves Image nicht ganz losgeworden. Auch Roger M. Buergel, der künstlerische Leiter der diesjährigen Documenta, meint, dass Kassel mit diesem weltwichtigsten Forum der aktuellen Kunst immer wieder „eine glückliche Verbindung zwischen Kleinstadt und großer Ausstellung“ eingehe.
Drei Fragen sollen, so Buergel, in den 100 Tagen zwischen dem 16. Juni und dem 23. September die Kunstwelt und die Menschen in Kassel beschäftigen: Ist die Menschheit imstande, über alle Differenzen hinweg, einen gemeinsamen Horizont zu erkennen? Ist die Kunst das Medium dieser Erkenntnis? Was ist das bloße Leben? Und, auf die Bildung bezogen, was tun? Buergel will Neues, „Fragiles“ in Kassel schaffen, nicht mehr in stillgelegten Brauereien oder alten Fabriken ausstellen. Er wird wohl den grünen Rahmen dieser Stadt nutzen, einen Pavillon in die Karlsaue setzen lassen, eine der schönen Park-und Gartenanlagen unmittelbar neben der Innenstadt, und er wird das Publikum spalten, wie es alle Documenta-Macher seit 1955 geschafft haben.
Gigantisch wirkt der Herkules im Bergpark Wilhelmshöhe.
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Knut Seidel, Touristik-Chef, ist Kasseler, ein Kunst-Genießer, einer, der „seine“ Stadt lieben gelernt hat. Er war Dramaturg in Berlin und Galerist in Suhl. Und er müsste es eigentlich leicht haben, Kassel zu „verkaufen“, wenn sich bloß das Vorurteil von der langweiligen Stadt nicht so hartnäckig halten würde. Denn schon nach ein paar Tagen wird auch dem voreingenommensten Besucher klar: Kassel hat weit mehr an spektakulärer Kultur und Natur zu bieten, als der Klang des Namens vermuten lässt, ob Documenta-Saison oder nicht:
Epochales wie die Kunsthalle Fridericianum zwischen Innenstadt und Karlsaue, 1779 von Landgraf Friedrich II. als vermutlich erstes öffentlich zugängliches Museum der Welt an seine Untertanen geschenkt, heute Herzstück der Documenta;
Epochal: Das Fridericianum ist heute Herzstück der Documenta.
Gigantisches wie den Herkules, der – mit Oktogon und Pyramide insgesamt 70 Meter hoch über der Wilhelmshöhe thront, Wadenumfang 2,50 Meter (zurzeit ist das Wahrzeichen der Stadt wegen Sanierungsarbeiten eingerüstet – und wird es wohl auch noch bei der nächsten Documenta sein);
Malerisches wie die Neue Galerie an der Schönen Aussicht, wo die klassische Moderne mit Rodin, Kirchner, Nolde, die zeitgenössische Kunst mit Richter, Warhol und Beuys vertreten sind;
Elefantöses wie das Naturkundemuseum in der ehemaligen Kadettenanstalt Ottoneum, das die älteste Pflanzensammlung Deutschlands birgt und, Lieblingsobjekt aller Schulklassen, den „Goethe-Elefanten“, das erste Elefantenskelett, 1780 präpariert, vom Dichterfürsten studiert und beschrieben;
Märchenhaft: das Brüder-Grimm-Museum
Verspieltes wie die Orangerie, ein wunderschönes Barockschloss mit Planetarium und einem Café mit Blick auf die Karlsaue;
Morbides wie das Museum für Sepulkralkultur. Dahinter verbergen sich Leichenwagen, Trauerkleidung, Friedhofsgeschichte, eine spannende Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod.
Tapetenwechsel. Das kann man in Kassel wörtlich nehmen – und sich im Deutschen Tapetenmuseum anschauen, was die Welt sich an die Wände hängt: Goldleder, Seide, Papier und Panoramen. Man kann es auch anders verstehen und eine Pause einlegen von Hoch-, Klein- und Wunderkultur. Zum Beispiel in den bunten Vierteln, wo junges und älteres Leben tobt, im Vorderen Westen zum Beispiel, in den Kneipen um die Friedrich-Ebert-Straße, im Entenanger-Quartier oder den „Dörfern“ am Stadtrand, in Bettenhausen oder am Rammelsberg.
Eine „richtige“ Altstadt hat Kassel nicht mehr, aber eine Tradition, die das Alte bewahrt, auf dem Teller zum Beispiel. Was ein richtiger Kasseläner ist, der weiß – nein, nicht ein Kassler Rippchen (das hat ein Berliner Metzger namens Kassel oder Cassel vor 100 Jahren erfunden), sondern – ein Weckewerk zu schätzen. Kasseler mögen das ein „Abfallprodukt“ nennen. Dabei ist es die nordhessische Spezialität, hergestellt aus Schweinefleisch und Schwarte, und so umstritten wie eine ordentliche Documenta. Sicher ist: Es schmeckt besser, als es aussieht.
Mehr als für jede Weltkunstschau engagieren sich die Menschen in Kassel, ob zugezogen oder in vierter Generation vor Ort, für die Ahle Worscht, eine Art Salami des Nordens: Luftgetrocknet muss sie sein, möglichst nicht zu fett, nicht zu salzig und, wie die Kenner sagen, „mit mürbem Biss“. Ein Förderverein „Nordhessische Ahle Worscht“ wacht über die Qualität. Bei so viel Kunst- und Naturgenuss wird verständlich, dass sich viele junge Leute in der Stadt, besonders die 17 000 Studenten, ihr eigenes Heimatgefühl gebastelt haben, jenseits von Kasselänern und Kasselern: „My home is my Kassel“, sagen sie. Also: Ab nach Kassel. Bernd Schiller
Informationen:
Pauschal und speziell: Dreitägige Studienreise zur Documenta bei eigener Anreise über Studiosus (www.studiosus.com); vielfältige Arrangements, auch außerhalb der Documenta, bietet kassel-tourist an.
Documenta: Das Weltforum der aktuellen Kunst findet vom 16. Juni bis 23. September statt. Informationen über Leitmotive, Eintrittspreise und Führungen unter www.documenta.de.
Buchtipps: Ganz neu und sehr informativ ist „Kassel“ von Merian live! mit Documenta-Special (9,50 Euro); originell: „Kassel – wo es am schönsten ist, 66 Lieblingsplätze“ (Bostelmann & Siebenhaar Verlag, 9,80 Euro).
Allgemeine Infos: kassel-tourist, Obere Königstraße 15, 34117 Kassel, Telefon: 05 61/70 77 07, Internet: www.kassel-tourist.de.
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