

Die Autorin geht vom momentan vorherrschenden Normalitätsparadigma in der Täterforschung aus, das sich zum Beispiel in Christopher Brownings Studie „Ganz normale Männer“ in Bezug auf Gräuel durch Wehrmacht und Polizeibataillone artikuliert. In Abgrenzung zu dieser Auffassung postuliert sie typische psychopathologische Strukturen als malignen Narzissmus, der als „gesellschaftskonforme Störung“ die psychische Voraussetzung für die nationalsozialistische Vernichtung gebildet habe. Die Kontroverse zwischen „normal“ versus „pathologisch“ birgt insofern Brisanz, als sie unterschiedliche politische Schlussfolgerungen zeitigt: Waren die Täter nur „normale Männer“, so könnte ein jeder von uns Täter geworden sein und hat sich entsprechend mit der Monstrosität der Verbrechen auseinanderzusetzen. Eine Ausgrenzung der Täter als „Bestien“ fällt damit schwer.
Dem hält die Autorin entgegen, dass eine fehlende Beachtung des Ineinanderwirkens pathologischer und normaler Strukturen zur unbewussten Weitergabe der pathologischen Strukturen beitrage, das Normalitätsparadigma also eine Abwehr der damit verbundenen Beunruhigung darstelle. An Ausschnitten von Vernehmungsprotokollen und Prozessakten versucht sie zu demonstrieren, dass eine maligne narzisstische Persönlichkeitsorganisation im Wirken vieler NS-Täter herausgearbeitet werden kann, die sich unter anderem durch eine Fassade kalter Grandiosität, sadomasochistische Beziehungsstrukturen, Machtstreben, Unfähigkeit zu Empathie und Dehumanisierung anderer ausweist. Dabei ist der Autorin das Verdienst zuzuschreiben, dass sie es keinesfalls bei einer klinischen Diagnose belässt, sondern die Verwobenheit mit politischen, ideologischen und sozialpsychologischen Dynamiken diskutiert. Ebenso möchte sie aufzeigen, wie sich im intergenerativen Prozess diese psychopathologischen Strukturen fortschreiben – die hierzu gewählten Fallbeispiele haben allerdings eher illustrativen Charakter, als dass sie ihre Hypothesen überzeugend untermauern könnten.
Nach Lektüre dieses klar gegliederten und gut verständlich geschriebenen Buches bleibt als offene Frage, ob eine psychopathologische Diagnose der NS-Täter tatsächlich einen Erkenntniszuwachs bedeutet. Vor dem Hintergrund der enormen Anzahl sehr unterschiedlich an den nationalsozialistischen Verbrechen Beteiligter erscheint mir diese Diagnose nicht ausreichend differenziert und vor allem auch in ihren unterschiedlichen Implikationen unklar: Wie konnten dann entsprechende Täter nach dem Ende des Nationalsozialismus ihre psychischen Störungen kompensieren oder „unterbringen“? Und was wäre dann im Hinblick auf die Prävention künftiger systematischer politischer Verbrechen zu fordern? Die rekonstruktive Anwendung der Diagnose ebenso wie die in diesem Zusammenhang postulierten intergenerativen Folgewirkungen bleiben notwendigerweise etwas eindimensional und hypothetisch, solange der Fokus allzu sehr auf die Pathologie gerichtet wird. Dennoch artikuliert dieses Buch eine kritische Teil-Sicht auf die Frage nach dem psychischen nationalsozialistischen Erbe. Vera Kattermann
Nele Reuleaux: Nationalsozialistische Täter. Die intergenerative Wirkungsmacht des malignen Narzissmus. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2006, 306 Seiten, kartoniert, 32 €
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