ArchivDeutsches Ärzteblatt20/2007Zeitgenössische Kunst: Kippenberger und die Schrebers

KULTUR

Zeitgenössische Kunst: Kippenberger und die Schrebers

Stecker, Heidi

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Martin Kippenberger (* 25. Februar 1953 in Dortmund; † 7. März 1997 in Wien). Foto: picture alliance/IMAGNO
Martin Kippenberger (* 25. Februar 1953 in Dortmund; † 7. März 1997 in Wien).
Foto: picture alliance/IMAGNO
Vor zehn Jahren starb in Wien mit 44 Jahren Martin Kippenberger, einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler. Kippenberger hat sich 1994 und 1995 mit einem, nicht nur in der deutschen Psychiatriegeschichte spektakulärem Fall beschäftigt. Ein Multiple und zehn Zeichnungen entstanden. Das Multiple „Schreber“, ein zweiteiliges Buchstützenobjekt aus semitransparentem, gelblichem Kunstharz (1995), und die Zeichnungen zitieren aus den „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ von Daniel Paul Schreber. Das Buch ist ein Konglomerat aus traumähnlichen Szenen und Wahnvorstellungen, aus Naturwissenschaft und Esoterik, ein theologischer Komplex mit pathologischen Symptomen. Schreber junior gilt nicht zuletzt wegen seines 1903 in Leipzig erschienenen Buches und Sigmund Freuds Text „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“ von 1911 als einer der berühmtesten Patienten der deutschen Psychiatriegeschichte. Dem Vater, Daniel Gottlob Moritz Schreber, zu Ehren wurde eine pädagogisch begründete Form der deutschen Kleingartenbewegung benannt. Leipzig spielt dabei keine unwesentliche Rolle. Schreber senior praktizierte in Leipzig, die so- genannten Schrebergärten wurden hier gegründet. Schreber junior wurde in Leipzig geboren und war hier zeitweise Psychiatriepatient.
Die Rücken der Buchattrappen tragen Zitate aus Schriften des Sohnes wie des Vaters und ergeben zwei miteinander verschränkte Monologe. Jeweils vier Buchformen sind auf einer fünften so positioniert, dass man schmale Bücher zwischen sie stellen könnte. Ordnet man die zwei Teile so an, dass links Schre-ber junior und rechts Schreber senior aufgestellt sind, stehen die verschiedenfarbigen Zitate Rücken an Rücken, mithin Vater und Sohn, dazwischen die Bücher, die man mit den Stützen fixieren will. Das könnte vielleicht die umfangreiche Literatur mit den zeitweise entfesselten Diskussionen über die beiden Schrebers sein.
Martin Kippenberger arbeitet in der Serie der Zeichnungen „über das über (Schreber junior/Schreber senior)“ nur mit Texten von Daniel Paul Schreber. Neben Gartenlaube, Gartengeräten und Beeten in Anspielung auf den Vater Moritz Schreber sind Sätze und Satzbruchstücke zu sehen. Es sind die zu Paul Schreber sprechenden „Stimmen“ aus seinen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Sie quälen den Kranken mit ihren sich ständig wiederholenden und absurden, mitten im Satz abbrechenden Redewendungen: „Wenn nur das verfluchte Nägelputzen aufhörte“, „Schämen Sie sich denn nicht vor Ihrer Frau Gemahlin?“, „Ihr habt nun einmal das Wetter vom Denken eines Menschen abhängig gemacht“, „Wir wollen Ihnen den Verstand zerstören“, „Regen Sie sich nur geschlechtlich auf“ und „Nun sollte derjenige (erg:denken, sagen:), will ich mich darin ergeben, daß ich dumm bin“. Einige abstrakte Formen erinnern an Holzlatten, die Beete einhegen.
Kippenberger zeichnete gern auf Hotelbriefpapier; für das Blatt „Hotel Weihnachtsmann, Schrebers Hirn“ hat er einen Hotelbriefbogen fingiert. Der Künstler persifliert so das Reisemotiv und parodiert die Unruhe des Kranken und die des Künstlers.
ohne Titel aus: über das über (Schreber junior/Schreber senior), 1994–1995, Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig
ohne Titel aus: über das über (Schreber junior/Schreber senior), 1994–1995, Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig
Die Vater-Sohn-Geschichte hat Kippenberger gereizt – ebenso die sprachliche Skurrilität. Der Senior – Arzt, Pädagoge und leidenschaftlicher Turner – erfreute sich seines „übrigens eisenfesten Körpers“. Vater Schreber richtete sein Interesse von medizinischer Tätigkeit auf die pädagogische. Dabei fasst er vermeintliche charakterliche Schwächen von Kindern ins Auge. Der Junior, Daniel Paul Schreber, war ein erfolgreicher Jurist, erfolgloser Politiker und dreimal Insasse psychiatrischer Einrichtungen und Autor. Schreber senior wird in den Auseinandersetzungen mit autoritären Erziehungsmethoden zum Inbegriff schwarzer Pädagogik und zum finster-tyrannischen Gegenpol seines fantasierenden Sohnes stilisiert. Dieser soll Opfer der orthopädischen Apparate („Kinnband von weichem Leder“) sein. Schriften wie „Die Verhütung der Rückgratsverkrümmung oder des Schiefwuchses“ (Leipzig 1846) oder gar „Das Turnen vom ärztlichen Standpunkte aus, zugleich als eine Staatsangelegenheit betrachtet“ (Leipzig 1846) bieten sich in der Tat für kritische Erziehungsdiskussionen an.
Eine Auswahl der Zeichnungen und das Objekt sind in der Ausstellung „Deutsche Geschichten“, der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, bis zum 20. Januar 2008 zu sehen. Heidi Stecker

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