ArchivDeutsches Ärzteblatt21/2007SOZIALE FRÜHWARNSYSTEME: Handeln statt grübeln

DEUTSCHER ÄRZTETAG

SOZIALE FRÜHWARNSYSTEME: Handeln statt grübeln

Rieser, Sabine

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Foto: ISA
Foto: ISA
Manche Familien brauchen frühzeitig Hilfe, damit die Kinder nicht vernachlässigt oder misshandelt werden. Welche – darauf gibt es in NRW bereits mehr als 40 Antworten.

Die Krankenschwestern in der Bielefelder Klinik haben kein gutes Gefühl. Susanne Meyer*, die gerade ihr erstes Kind entbunden hat, freut sich zwar darauf, wieder nach Hause zu kommen. Doch die alleinerziehende Mutter sorgt sich auch, ob sie zurechtkommen wird. Ihre Eltern leben rund 500 Kilometer entfernt, Freunde hat sie kaum, schon gar keine, die ihr mit dem Kind eine Hilfe wären. Kein Wunder, dass sie nervös und unsicher auf die Krankenschwestern wirkt.
Sie sprechen Susanne Meyer an. Die ist froh über das Angebot, den psychosozialen Dienst der Klinik einzuschalten, und nach einer Lösung zu suchen. Sie wird zügig gefunden: Im Rahmen des sozialen Frühwarnsystems (FWS), das in Bielefeld existiert, vermittelt der Kinderschutzbund Susanne Meyer eine ehrenamtlich tätige Patin. Sie wird der jungen Mutter an zwei Nachmittagen pro Woche mit Rat und Tat zur Seite stehen. Vier Monate später hat sich die Hilfe eingespielt. Susanne Meyer hat mittlerweile über eine Stillgruppe Kontakt zu anderen Müttern gefunden. Ihr Kind entwickelt sich gut. Dennoch möchte sie, dass ihre Patin einmal die Woche vorbeischaut.
Ein gutes Netz ist mehr als
„Telefonlisten-Prävention“
Das Bielefelder Modell ist eines von sechs, die im Rahmen des Projekts „Aufbau und Weiterentwicklung lokaler sozialer Frühwarnsysteme“ in Nordrhein-Westfalen (NRW) von 2001 bis 2004 entwickelt und wissenschaftlich untersucht wurden. Sie werden alle fortgesetzt, mehr noch: Mittlerweile haben sich in NRW mehr als 40 soziale Frühwarnsysteme in Kommunen etabliert. Die Stadt Münster baut derzeit ein FWS auf. Einige sind über das Bundesland hinaus bekannt geworden, beispielsweise das Präventionsprojekt „Zukunft für Kinder in Düsseldorf“. Dort haben Geburtshilfekliniken, Kinderschutzambulanz, Kinder- und Jugendärzte sowie Gesundheits- und Jugendamt sich eng vernetzt, um Risikofamilien zu erkennen und ihnen zu helfen.
Das Institut für soziale Arbeit (ISA) in Münster hat die Modellprojekte von Anfang an wissenschaftlich begleitet. Mittlerweile ist es von der Landesregierung beauftragt worden, interessierte Kommunen beim Aufbau sozialer Frühwarnsysteme zu unterstützen. Annerieke Diepholz und Janine to Roxel, beim ISA zuständig für das FWS-Projekt, verweisen darauf, dass es vielerorts zwar Präventionsangebote gebe. „Man muss sie aber besser vernetzen“, betont Diepholz. Wirksame Hilfsangebote brauchten mehr als nur „Telefonlisten-Prävention“.
Meist fehlen in einer Kommune abgestimmte institutionelle Verfahren und klar vereinbarte Handlungsschritte. Diepholz und to Roxel wissen, dass sich oft Einzelne vernetzen. Man kenne sich, schätze sich, tausche sich bei Bedarf aus. Doch wenn sich ein Mitglied solcher informeller Zirkel beruflich verändere oder in Rente gehe, breche oft das ganze System zusammen.
Ein funktionierendes soziales Frühwarnsystem ist hingegen eine in sich geschlossene Reaktionskette, wie das Beispiel von Susanne Meyer zeigt. Es besteht aus drei Elementen: Wahrnehmen, Warnen, Handeln. Zunächst müssen dafür alle Beteiligten klären, aufgrund welcher Beobachtungen sie überhaupt ein Problem vermuten. „Riskante Entwicklungen ist ein weiter Begriff, der sich auf sehr Unterschiedliches beziehen kann“, sagt Diepholz. „Ein Kinderarzt mag ganz andere Maßstäbe anlegen, wenn er kindliche Verhaltensauffälligkeiten einschätzt, als vielleicht eine Erzieherin.“ Erst wenn alle sich verständigt haben, wann sie Handlungsbedarf erkennen, können sie festlegen, wer wen warnen soll und welche Schritte sich anschließen müssen.
Anfangs: Vorbehalte
Diepholz und to Roxel ist noch etwas wichtig. Besonders Risikofamilien mit sehr kleinen Kindern fallen am ehesten im Gesundheitswesen auf, also in der Praxis oder im Krankenhaus. Doch nicht alle Ärzte wissen, welche Unterstützungsmöglichkeiten ihre Kommune bietet. Dazu kommen Vorbehalte gegen andere Berufsgruppen und Institutionen sowie Sorgen, die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen.
Gemeinsam, das belegen die Projekte, findet man aber Lösungen. So koordinieren beispielsweise im Kreis Mettmann Mitarbeiterinnen der sozialpädagogischen Beratung im Gesundheitsamt frühe Hilfen für Kinder. „Sie kennen alle Hilfsangebote und Akteure in- und auswendig“, erzählt Diepholz. Wer auch immer von den ins FWS eingebundenen Fachleuten glaubt, dass ein Kind Hilfe braucht, kann die Eltern über Angebote informieren. Mit ihrer Unterschrift auf einem Informationsblatt stimmen sie zu, dass zum Wohl des Kindes andere Experten einbezogen werden dürfen.
Wenn ein Frühwarnsystem funktioniert, nutzt das in erster Linie Kindern aus Risikofamilien. Doch auch die professionellen Helfer profitieren, weiß Diepholz: „Sie haben dann nicht mehr diffuse Gefühle der Sorge, sondern das sichere Gefühl, dass etwas passiert.“
Sabine Rieser


* Name geändert

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