

Lange bevor die integrierte Versorgung erfunden wurde, gab es bereits nosokomiale ärztliche Zweckgemeinschaften, die sich fachübergreifend zum allgemeinen Wohle entwickelten. Ich habe das Glück, einen kompetenten Vertreter der zahnärztlichen Heilkunst meinen Nachbarn nennen zu dürfen. Er drainiert meinen Kieferabszess, wenn das Sprechen in der danach benannten Stunde zur höllischen Qual wird, ich stehe ihm bei allem möglichen internistischem Unbill bei. Er sitzt nun vor mir, der Anlass ist überaus traurig, er soll von der kassenzahnärztlichen Vereinigung zwangsausgemustert werden. Weil er 68 Jahre alt ist. Er wirkt aber wesentlich frischer als ich mit meinen gefühlten 60 Lebensjahren; er fährt Motorrad und baut noch ein Häuschen, kurz: Er steht mitten im Leben. Angesichts dieses Häufchen Elend muss ich nun meinem ärztlichen Auftrag nachkommen: heilen und lindern. Ich schlage ihm vor, der kassenzahnärztlichen Vereinigung mit Scopolaminhydrobromidtropfen die Augen zu weiten, auf dass sie ihm die Zulassung verlängern würden. „Ach nee, die sind dieses Mal unschuldig, die kalte Zwangsenteignung wurde vom Verfassungsgericht oktroyiert.“ Er könnte doch weiter privatärztlich behandeln, schließlich gehen die privaten Krankenkassen nicht davon aus, dass wir mit Vollendung des 67. Lebensjahres der intellektuellen und manuellen Handlungsunfähigkeit anheimfallen. Er guckt mich böse an: „Wie soll ich das meinem Praxisnachfolger klarmachen? Das wäre unfair!“ Ein ganz harter Fall. Da bleibt mir nur übrig, Trost zu spenden. Er könnte morgens ausschlafen, gemütlich frühstücken und Zeitung lesen, ausgedehnte Spaziergänge unternehmen . . . „und dabei die Hamster beobachten, die es mit ihrem Schutzprogramm besser haben als ich?!“ Er geht und lässt mich in dem Gefühl zurück, sowohl in kurativer als auch symptomatischer Hinsicht versagt zu haben. Ich muss es einsehen:
Es gibt Erkrankungen, gegen die ist man einfach machtlos. Traurig blicke ich mich im Spiegel an und mag die vielen Falten nicht mehr zählen, die derartige ärztliche Niederlagen in mein Gesicht gekerbt haben. Oje, meine gefühlten 60 Jahre sehen aus wie 120. Plötzlich werde ich panisch: Wenn die vom Ver- fassungsgericht auf die Idee kommen, dem Zeitgeist gehorchend die numerische Altersgrenze auf die optische auszuweiten, müsste ich sofort die Praxis verlassen! Um Gottes willen, wo ist die Telefonnummer vom nächsten Schönheitschirurgen?! Wo krieg’ ich ganz schnell ganz viel Botox her? Ich darf nämlich keinesfalls wirtschaftlich aus der Kurve fliegen: Schließlich muss erst mal die Praxis und das Häuschen abbezahlt, die Leasingrate fürs Motorrad beglichen werden. Wenn etwas Schlimmes passiert, muss ich alles wieder spenden: Die Praxis der KV, das Guthaben der Bank, das Häuschen der Erbschaftssteuer . . . und . . . und . . . und deswegen habe ich immer einen Organspendeausweis dabei, wenn ich Motorrad fahre.
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener
Kardiologe in Gladbeck.