ArchivDeutsches Ärzteblatt PP6/2007Neue Versorgungsformen: Konkurrenz für den Kollektivvertrag

POLITIK

Neue Versorgungsformen: Konkurrenz für den Kollektivvertrag

Blöß, Timo; Korzilius, Heike; Rabbata, Samir

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Mit den in der Gesundheitsreform angelegten neuen Vertragsmöglichkeiten sehen die ärztlichen Verbände ihre Chance, aus dem Schatten der Kassenärztlichen Vereinigungen zu treten. Doch die wollen ihnen das Feld nicht kampflos überlassen.

Die Patienten profitieren von einer kontinuierlichen Versorgungskette, und die Ärzte können sich über zusätzliches Geld freuen. Dr. med. Ute von Hahn, Vorsitzende des „Gesundheitsnetzes Region Wedel“ in Schleswig-Holstein und Gründerin des „Norddeutschen Herz-netzes“, ist mit ihrem Integrationsvertrag zufrieden. Das liegt auch daran, dass die Abläufe in der Herz-Allianz denkbar einfach sind. Überweist ein Hausarzt seinen Patienten an einen teilnehmenden Kardiologen, ein Krankenhaus oder eine Rehaeinrichtung, bekommt der Patient seine Dokumentationsbögen mit. Zur Vermeidung unnötiger Doppeluntersuchungen werden die Formulare parallel dazu an das Norddeutsche Herznetz gefaxt. Der Großteil der Dokumentation wird durch einfaches Ankreuzen erledigt.
Foto: Becker & Bredel
Foto: Becker & Bredel
Verträge zur integrierten Versorgung, wie der des Norddeutschen Herznetzes, an dem sich vier Kassen, 250 niedergelassene Ärzte und eine Reihe von Kliniken und Reha-einrichtungen beteiligen, sind nicht neu. Bereits mit dem GKV-Modernisierungsgesetz von 2004 und der darin angelegten finanziellen Förderung neuer Versorgungsformen nahm die Zahl von Integrationsverträgen kontinuierlich zu.
Pflicht zum Wahltarif
Neu ist dagegen, dass dem System der Kollektivverträge mit der im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) angelegten ausgeweiteten Förderung von Selektivverträgen erstmals ernsthafte Konkurrenz erwachsen könnte. Der Grund: Künftig müssen Krankenkassen ihren Versicherten Wahltarife für die integrierte Versorgung (§ 140 a SGB V), besondere Versorgungsformen (§ 73 c), Disease-Management-Programme (§ 137 f) und die hausarztzentrierte Versorgung (§ 73 b) anbieten. Zudem können Kassen nach § 63 Modellvorhaben zur Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung mit den Leistungserbringern vereinbaren. Entsprechend groß ist das Interesse der Kassen, mit Ärzten, Krankenhäusern oder Rehaeinrichtungen neue Versorgungsmodelle zu entwickeln oder sich an bereits bestehenden Verträgen zu beteiligen. „Bei den neuen Angeboten wird es auch für Ärzte interessante fachliche und wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten geben“, wirbt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Hans Jürgen Ahrens, für Kooperationen zwischen Ärzten und Kassen.
Auch die ärztlichen Verbände wittern ihre Chance, mit den im GKV-WSG eröffneten neuen Vertragsmöglichkeiten aus dem Schatten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) zu treten und sich jenseits des Kollektivvertragssystems im Wettbewerb zu positionieren. Der Kollektivvertrag bleibe zwar als Basis erhalten, „seine Bedeutung wird aber abnehmen“, meint der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Andreas Köhler. Vor allem die Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung würden stark an Bedeutung gewinnen und „relativ rasch große Finanzmittel aus der Regelversorgung binden“, sagte Köhler bei der Fachveranstaltung „KBV-Kontrovers“ Ende April.
Aus Sicht der Bundesärztekammer (BÄK) wird diese Entwicklung dadurch verschärft, dass die neuen Versorgungsformen nur unzureichend von der Regelversorgung abgegrenzt würden. Dies werde bei den in § 73 c angelegten Vorschriften zur besonderen ärztlichen Versorgung deutlich, heißt es in einer rechtlichen Bewertung der Gesundheitsreform. Die Neuregelung eröffne den Kassen einen beliebigen Spielraum zum Einkauf von Fachärzten oder Facharztgruppen mit daraus resultierender Aushöhlung der fachärztlichen Versorgung.
Diese Sorge teilt Dr. Ulrich Orlowski, Leiter der Unterabteilung Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium (BMG), nicht: „Die Veränderungen in der Vertragslandschaft sind sehr langwierig.“ Die großen Blöcke der gesetzlichen Krankenversicherung, der ambulante und der stationäre Sektor sowie die Arzneimittelversorgung, basierten weiterhin auf kollektivvertraglichen Regelungen, Einzelverträge stellten lediglich eine Ergänzung dar, so die Einschätzung des BMG-Experten.
Einzelverträge als Ergänzung
Hierfür hat der Hartmannbund – bisher noch nicht im Vertragsgeschäft aktiv – eigens ein Referat für „ambulante Versorgung und neue Versorgungsformen“ gegründet. Auch der NAV-Virchow-Bund verfügt über eine Arbeitsgruppe „für moderne Vertragsgestaltung“. Der NAV-Bundesvorsitzende, Dr. med. Klaus Bittmann, zugleich Vorsitzender der Ärztegenossenschaft Schleswig-Holstein (ÄGSH), hat bereits Erfahrung im Vertragsgeschäft. Neben dem Norddeutschen Herznetz, dem die ÄGSH im März beigetreten ist, hat die Genossenschaft fünf weitere Verträge mit Krankenkassen geschlossen. Darunter sind klassische Integrationsverträge wie das Versorgungsmodell „Hallo Baby“ zur Vermeidung von Frühgeburten sowie eine Kooperation zur postoperativen Betreuung von Augenpatienten in Verbindung mit ambulanten Operationen – die Vergütung erfolgt nach festen Euro-Sätzen. Mit im Portfolio hat die Genossenschaft aber auch Abrechnungsverträge wie den Wahltarif „Kostenerstattung“ in Kooperation mit den Betriebskrankenkassen. Teilnehmende Ärzte rechnen dabei ihre Leistungen zum 1,3-fachen GOÄ-Satz ab.
Solche Verträge könnten nach Meinung Bittmanns als Blaupause für überregionale Kontrakte dienen. Dafür wollen die in der „Allianz deutscher Ärzteverbände“* zusammengeschlossenen Verbände eine Vertragswerkstatt gründen. Ziel ist es, die Vertragsarbeit der einzelnen Verbände zu bündeln und mit den Kassen vornehmlich überregionale Vereinbarungen zu schließen. Bis zum Sommer soll die Vertragswerkstatt als GmbH der Ärzte-Allianz ihre Arbeit aufnehmen.
Dass sich Selektivverträge für Ärzte rentieren können, steht für Bittmann außer Frage. Durch die Kooperation mit anderen Ärzten und Kliniken ließen sich die Fixkosten für Geräte deutlich senken. Zudem würden Praxen, die an solchen Modellen mitwirkten, für Patienten interessant. Die Bereitschaft der Ärzte, sich an den neuen Versorgungsformen zu beteiligen, ist nach Bittmanns Einschätzung dennoch unterschiedlich ausgeprägt. Zwar sähen immer mehr Ärzte Selektivverträge als Chance, um zusätzliches Geld zu verdienen. Viele seien jedoch verunsichert und empfänden die Neuregelungen als Last.
Vorschnell sollten sich weder einzelne Ärzte noch Verbände zu Vertragsabschlüssen hinreißen lassen, warnt der Vorsitzende des Hartmannbundes, Dr. med. Kuno Winn: „Verträge dürfen nicht der Verträge wegen geschlossen werden.“ Hinzu komme, dass man sich bereits im Vorfeld Gedanken über eine praxistaugliche Abwicklung machen müsse. Dafür sei der Hartmannbund im Gespräch mit professionellen Partnern, die zum Beispiel die Abrechnung der ärztlichen Leistungen übernehmen könnten.
Bei der Fachtagung der KBV hob auch Köhler hervor, dass die Vielzahl unterschiedlicher Verträge Ärzte vor große Herausforderungen stellen werde. Abhängig davon, wer die Verträge abgeschlossen habe, müssten Ärzte mit mehreren Abrechnungsstellen arbeiten. „Einfache Handhabung und kompetente Verwaltung der Verträge werden sehr schnell zu entscheidenden Kriterien dafür, welchen Verträgen die Ärzte beitreten“, so der KBV-Chef. Hier liege eine der großen Chancen der KVen. Als Anbieter und Abwickler könnten diese „alles aus einer Hand“ regeln. „Die Abrechnungen gehen an dieselbe Stelle, eine Abgleichung mit den kollektivvertraglichen Leistungen ist ohne Aufwand möglich, die Ansprechpartner sind für alle Verträge dieselben“, meint Köhler. Das gelte sowohl für den Fall, dass die KVen die Verträge abschlössen, als auch für die Möglichkeit, dass die KVen lediglich mit deren Abwicklung beauftragt würden.
Wer die Abwicklung der geplanten Verträge übernehmen soll, hat Medi Deutschland noch nicht entschieden. „Ob wir es selbst machen, die KV oder privatärztliche Verrechnungsstellen beauftragen, ist noch offen“, sagt der Vorsitzende von Medi Deutschland, Dr. med. Werner Baumgärtner. Natürlich sei es sinnvoll, mit der KV zu kooperieren. Dies gelte allerdings nur, wenn die KV sich nicht selbst als Vertragspartner hereindränge. „Deshalb gibt es Medi Verbünde, wie in Berlin oder Rheinland-Pfalz, die mit der KV zusammenarbeiten, und andere Regionen, in denen über eine Kooperation je nach Gemengelage entschieden wird“, so Baumgärtner.
Dass die KVen überhaupt ausdrücklich an Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung beziehungsweise an Verträgen über besondere Versorgungsformen teilnehmen können, ist für sie ein politischer Erfolg. Ursprünglich sollten sie außen vor bleiben. In der Praxis umgingen Krankenkassen die Vorgabe und handelten mit KVen Hausarztverträge aus. Jetzt sieht das GKV-WSG eine Beteiligung der KVen am Vertragsgeschäft unter der Bedingung vor, dass Gemeinschaften vertragsärztlicher Leistungserbringer, die an der hausärztlichen Versorgung teilnehmen, sie hierzu ermächtigen.
KVen sind mit im Boot
Die Formulierung ist vage. Streit um das Verhandlungsmandat gibt es insbesondere zwischen dem Deutschen Hausärzteverband (BDA) beziehungsweise dessen Landesverbänden und den ärztlichen Körperschaften. Die Auseinandersetzungen sind regional unterschiedlich ausgeprägt. Während etwa in Bayern eine Mehrheit der Hausärzte den Vorstand des Hausärzteverbandes mit Vertragsverhandlungen beauftragt hat, haben sich dem Gesundheitspolitischen Informationsdienst zufolge die Ärzte in Thüringen und Brandenburg für die dortigen KVen ausgesprochen. Nach heftigem Streit im Vorfeld sitzen auch in der KV Nordrhein inzwischen Körperschaft, Hausärzte, hausärztliche Internisten und Kinderärzte an einem Tisch, um sich in einer ersten Abstimmungsrunde über Vertragsinhalte zu einigen. „Wir müssen die Sache mit den Hausärzten gemeinsam anpacken“, sagt Dr. med. Leonhard Hansen. Der Vorsitzende der KV Nordrhein glaubt, dass die Kollegen an der Basis kein Interesse an einer Zersplitterung der Vertragslandschaft haben.
Das belege auch die positive Resonanz auf die Faxumfrage, die die KV unter ihren Mitgliedern gestartet habe. Deren Vertreterversammlung hatte eine Mandatierung durch die Ärztinnen und Ärzte in Nordrhein gefordert. Der Deutsche Hausärzteverband bezweifelt hingegen die Legitimität eines solchen Vorgehens. Der Gesetzgeber habe geregelt, dass nur Gruppen von Ärzten und nicht einzelne Mitglieder ihre KV zu Verhandlungen ermächtigen könnten, sagt BDA-Hauptgeschäftsführer Eberhard Mehl. Die KVen müssten sich von den Hausärzte- oder anderen Verbänden mandatieren lassen.
Trotz dieser ungeklärten Fragen laufen die Vorbereitungen für die hausarztzentrierte Versorgung auf Hochtouren. „Wenn eine KV brillante Verträge für die Hausärzte abschließt, ist das auch in Ordnung“, sagt Mehl. „Wir glauben aber, dass wir bessere Inhalte verhandeln können.“ Um einer Zersplitterung der Versorgungslandschaft vorzubeugen, will jedoch auch der BDA nur mit großen Kassen oder Kassenblöcken verhandeln. Vorstellbar ist für Mehl ein Hausarzttarif, in den sich die Versicherten einschreiben und für dessen Leistungen der Arzt eine feste Grundpauschale in Euro erhält. Darauf könnten weitere Module aufgesattelt werden, die ebenfalls pauschal vergütet werden. Denkbar seien Vereinbarungen zur gezielten Krankenhauseinweisung oder zur Arzneimittelverordnung. „Der neue Vertragswettbewerb bietet die Chance, der integrierten Versorgung Leben einzuhauchen und Ärzte und Patienten zu einer qualitätsorientierten Versorgung zu verpflichten“, ist Mehl überzeugt. Außerdem habe der Arzt endlich wieder die Chance, Medizin zu einem angemessenen Honorar zu praktizieren. Mit ersten Abschlüssen rechnet Mehl Ende Juni – „wenn es gut läuft“. Zum Hausärztetag im September sollten sie spätestens verkündet werden.
Nach Angaben Mehls sehen inzwischen viele Hausärzte die Chance, „dass durch die Verträge neues Geld ins System kommt“. Diesen Vorteil hebt auch KV-Chef Hansen hervor. Um die Regelversorgung nicht ausbluten zu lassen, schweben ihm Zusatzverträge vor, die – „außerbudgetär“ – über Pauschalen vergütet würden. Vorstellbar sei eine Einschreibepauschale, auf die dann weitere Module aufgesattelt werden können, die beispielsweise besondere Präventionsleistungen oder die Versorgung multimorbider Patienten umfassten. Der Vorteil solcher Verträge: „Der Arzt bekäme mehr Geld, und die Patienten erhielten mehr Leistungen. Wir kämen endlich heraus aus der stillen Rationierung unter Budget.“
Neues Geld ins System
Um einen Flickenteppich in der Versorgung zu verhindern, will Hansen möglichst alle Kassen ins Boot holen. Diesen müsste im Interesse einer guten Versorgung ihrer Versicherten ebenfalls daran gelegen sein, „dass sich die schlechte Stimmung unter den Ärzten umkehrt“, so der Allgemeinarzt.
Dennoch sei Wachsamkeit angesagt, wenn Kassen versuchten, mit kleinen Ärztenetzen oder Schwerpunktpraxen Verträge zu schließen. Durch die ungleichen Kräfteverhältnisse bestehe die Gefahr, dass sich die Kollegen auf Dumpingverträge einließen. Vor diesem Hintergrund sieht Hansen eine weitere Chance: Der Wettbewerb um gute Verträge könne den Kollegen erneut den Wert der KVen vor Augen führen, an dem viele derzeit zweifelten. Die Bestrebungen einzelner Ärzteverbände zu kooperieren, ihre Marktmacht zu bündeln und für einheitliche Strukturen zu sorgen, scheint Hansens These zu bestätigen, dass das Kollektivvertragsmodell nicht ausgedient hat.
Timo Blöß, Heike Korzilius, Samir Rabbata


*Der Allianz deutscher Ärzteverbände gehören an: Der Berufsverband Deutscher Internisten, der Bundesverband der Ärztegenossenschaften,
die Gemeinschaft Fachärztlicher Berufsverbände, der Hartmannbund, MEDI Deutschland und der NAV-Virchow-Bund.

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