POLITIK
Die Finanzierungsfrage: Mehr Markt durch mehr Staat?


Die vielen Kostendämpfungsgesetze der vergangenen Jahrzehnte sollten über eines nicht hinwegtäuschen: Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) hat weniger ein Ausgaben- als vielmehr ein Einnahmenproblem. So zeigt ein Blick auf die Entwicklung des Anteils der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP), dass seit 1980 jährlich ein gleichbleibender Teil des gesellschaftlichen Wohlstands – gut sechs Prozent – zur Finanzierung der GKV aufgebracht wird. Die dennoch steigenden Beitragssätze der Krankenkassen sind vor allem mit den relativen Einnahmerückgängen infolge der gestiegenen Arbeitslosigkeit zu erklären. Das Problem: Die GKV-Beiträge sind nicht Prozentsätze des BIP, sondern der beitragspflichtigen Löhne, Gehälter und Sozialeinkommen.
Nachdem die Finanzierungsfrage bei der letzten Gesundheitsreform 2004 noch explizit ausgeklammert worden war, wollte die Politik das Einnahmenproblem mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) endlich angehen. Eher widerwillig in der Großen Koalition vereint, plädierte die SPD im Vorfeld des Gesetzes für die Einführung einer Bürgerversicherung, die Union favorisierte ein Kopfpauschalenmodell. Dabei zielte das SPD-Konzept darauf ab, die Einnahmebasis der GKV zu verbreitern, indem alle Bürger auf alle Einkommensarten Kassenbeiträge zahlen. Im Gesundheitsprämienmodell der CDU werden die Krankenkasseneinnahmen von der Entwicklung der Löhne abgekoppelt; der soziale Ausgleich in der GKV wird über Steuermittel von allen Bürgern getragen. Die Koalitionäre einigten sich schließlich auf die Einrichtung eines Gesundheitsfonds. Die Idee ist paradox: Indem der Staat bisherige Aufgaben der Kassen übernimmt, soll der Wettbewerb zwischen diesen angeheizt werden.
Zum 1. Januar 2009 wird die Finanzautonomie der Krankenkassen beseitigt. Alle Kassen erhalten dann ihre Finanzmittel aus dem Gesundheitsfonds. In diesen fließen die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie die für die GKV zur Verfügung gestellten Steuergelder. Aus dem Fonds erhalten die Kassen Pauschalen für jeden ihrer Versicherten. Bei der Höhe der Pauschale werden die Versichertenstrukturen berücksichtigt. Dazu soll der bisherige Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen zu einem morbiditätsorientierten Ausgleich erweitert werden, der dann die Krankheitshäufigkeit der Versicherten berücksichtigt.
Kommt eine Krankenkasse mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht aus, kann sie von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag verlangen. Die Mitglieder haben für diesen Fall ein Sonderkündigungsrecht. Der Zusatzbeitrag wird einkommensabhängig oder pauschal erhoben. Erzielt eine Krankenkasse Überschüsse, so kann sie ihren Mitgliedern finanzielle Vergünstigungen oder Beitragsrückerstattungen gewähren.
Bundeszuschuss in der GKV
In den Gesundheitsfonds fließen auch Steuermittel. Der Bundeszuschuss von 2,5 Milliarden Euro in diesem und im nächsten Jahr soll ab 2009 jährlich um 1,5 Milliarden Euro anwachsen – bis auf 14 Milliarden Euro. Im Jahr 2006 hat der Bundeszuschuss in der GKV 4,2 Milliarden Euro betragen (also mehr als die vier Milliarden Euro zum Start des Fonds).
„Das neue Finanzierungssystem macht die Leistungen der Krankenkassen beim Leistungs- und Kostenmanagement transparent“, wirbt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in einer Informationsbroschüre. Gerate eine Kasse in finanzielle Schwierigkeiten, habe ihr Vorstand eine Reihe von Möglichkeiten, die Situation zu verbessern. Über erfolgreich geführte Rabattverhandlungen könnten etwa die Ausgaben für Arzneimittel reduziert werden. Die Kasse könne auch einen Weg aufzeigen, „der zuerst immer zum Hausarzt führt, statt teures Facharzt-Springen zu erlauben“.
Härtefallklausel
Die Frage, ob eine Krankenkasse mit den Zuweisungen aus dem Fonds auskommt, wird in diesem Konstrukt zum zentralen Parameter im Wettbewerb zwischen den Kassen. Denn sobald ein Versicherter eine Zusatzprämie zahlen soll oder diese „kleine Prämie“ angehoben wird, kann er die Kasse wechseln. Allerdings wird diese Wirkung des Zusatzbeitrags durch eine Härtefallklausel unterlaufen. Denn nur bis zu einer Höhe von acht Euro muss jedes Kassenmitglied die „kleine Prämie“ bezahlen. Übersteigt der Zusatzbeitrag diese Grenze, greift eine Regelung, wonach der Zusatzbeitrag ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens des Mitglieds nicht übersteigen darf. Folge: Um die gleichen zusätzlichen Einnahmen zu generieren, muss eine Kasse mit vielen „Härtefällen“ einen deutlich höheren Zusatzbeitrag verlangen als eine Kasse mit wenigen „Härtefällen“. Absehbar ist ein verzerrter Wettbewerb, insbesondere zulasten der AOKs, bei denen viele Niedrigverdiener versichert sind.
Den bisher entscheidenden Parameter für den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen hat die Politik mit dem GKV-WSG kurzerhand abgeschafft. Den GKV-Beitragssatz wird die Bundesregierung künftig selbst festlegen – erstmals zum 1. Januar 2009 –, und zwar einheitlich für alle Kassen. Zum Start des Gesundheitsfonds soll der Beitragssatz dabei so gewählt werden, dass die durchschnittlichen Ausgaben der Krankenkassen zu 100 Prozent gedeckt werden. Angehoben wird er laut Gesetz erst dann, wenn die Ausgaben der Kassen nicht mindestens zu 95 Prozent aus dem Gesundheitsfonds gedeckt sind. Anders ausgedrückt: Unterfinanzierungsquoten von bis zu fünf Prozent müssen die Kassen über Zusatzbeiträge sowie erfolgreich geführte Vertragsverhandlungen mit der Pharmaindustrie und den Ärzten/Krankenhäusern ausgleichen. Die Bundesärztekammer schlussfolgert in ihrer Stellungnahme zum GKV-WSG: „Sie [die Kassen] werden aufgefordert, mit Leistungserbringern Sonderverträge abzuschließen, denen die Zielsetzung zugrunde liegt, Ausgaben einzusparen, was wiederum darauf hinausläuft, Leistungserbringern angemessene Vergütungen vorzuenthalten.“
Für einen funktionierenden Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ist auch entscheidend, dass die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen möglichst exakt das Krankheitsrisiko der Versicherten widerspiegeln. In den Verhandlungen zwischen SPD und Union haben allerdings Regelungen den Weg ins Gesetz gefunden, die die Zielgenauigkeit des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) gefährden. So beschränkt der Koalitionskompromiss den Morbi-RSA auf 50 bis 80 Krankheiten, bei denen die durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten die GKV-weiten durchschnittlichen Leistungsausgaben um mindestens 50 Prozent übersteigen. Welche Krankheiten dies sein werden, legt das Bundesversicherungsamt (BVA) auf Vorschlag eines wissenschaftlichen Beirats (dessen Besetzung noch offen ist) fest. Somit entscheidet künftig das BVA, wie viel Milliarden Euro im System umverteilt werden. Zudem werden nur sehr kostenintensive Krankheiten berücksichtigt.
Einnahmeproblem nicht gelöst
Einen fairen Wettbewerb zwischen den Kassen dürfte die GKV-Finanzreform somit nicht auslösen. Vor allem aber ändert sich an der Einnahmenproblematik so gut wie nichts. Denn die Beiträge, die in den Gesundheitsfonds fließen, sind nach wie vor lohnabhängig. Sinkt der Lohnanteil am BIP (die Lohnquote), so müssen auch weiterhin die Beitragssätze steigen. Lohnunabhängig ist neben dem zunächst konstanten Steueranteil nur die „kleine Prämie“. Deren Wirkung ist aber wegen der Begrenzung gering. Und: Neue Einnahmequellen werden mit dem GKV-WSG nicht erschlossen.
Dass sowohl SPD als auch CDU dem Kompromiss „Gesundheitsfonds“ zugestimmt haben, ist einfach zu erklären: Die CDU feiert die „kleine Prämie“ als Einstieg in das Kopfpauschalenmodell. Die SPD hofft, mit dem zentralen Beitragseinzug die Weichen für die Bürgerversicherung gestellt zu haben.
Jens Flintrop
Abschluss der Serie zur Gesundheitsreform
Folgende Beiträge sind erschienen:
- Heft 11: GKV-WSG: Nachhaltige Änderungen, aber keine nachhaltige Finanzierung
- Heft 12: Krankenhäuser: Geschröpft, aber lebensfähig
- Heft 13: PKV: Systemfremde Eingriffe bereiten den Ärzten Sorgen
- Heft 14: Gemeinsamer Bundesausschuss: Hauptamtlich unparteiisch
- Heft 15: Arzneimittel: „Es ist nicht übersichtlicher geworden“
- Heft 16: GKV-Wahltarife: Freiheit für Versicherte, Arbeit für Ärzte
- Heft 17: Rehabilitation: Krankenkassen in der Pflicht
- Heft 18: Ambulante Versorgung: Alle Hoffnungen ruhen jetzt auf dem Euro-EBM
- Heft 19: Krankenversicherungsschutz: Historischer Meilenstein
- Heft 20: Neue Versorgungsformen: Konkurrenz für den Kollektivvertrag
- Heft 22: Bürokratie: Teure „Brieffreundschaften“
- Heft 23: Reform der gesetzlichen Krankenversicherung: An der kurzen Leine
- Heft 24: Die Finanzierungsfrage: Mehr Markt durch mehr Staat?
Grafik: Der Gesundheitsfonds ab 1.1.2009