MEDIZIN: Die Übersicht
Rezidivierende Angioödeme durch C1-Inhibitor-Mangel: Erstickungsrisiko – Aktuelle Aspekte bei Diagnostik und Therapie der Angioödeme


Angioödeme, früher auch als angio-neurotische Ödeme oder Quincke-Ödeme bezeichnet, sind flüchtige
Ödeme, die in unregelmäßigen Abständen auftreten. Zielorgane sind die Haut, seltener auch
die Zunge, die Glottis beziehungsweise der Larynx, der Magen-Darm-Trakt und noch viel seltener andere
Weichteilorgane. Außerordentlich wichtig ist die Tatsache, daß das gleiche klinische Symptom "Angioödem"
zu zwei Krankheitsentitäten gehört, die sonst nichts miteinander zu tun haben.
Am weitaus häufigsten finden sich Angioödeme als Teilbild oder Äquivalent einer Urtikaria, wobei die
Angioödeme als Ödeme der Subkutis lediglich als tiefer gelegene Form der Urtikaria anzusehen sind. Dabei
handelt es sich offenbar um unterschiedliche Manifestationsarten eines gemeinsamen
Grundpathomechanismus.
Allerdings treten diese Angioödeme keineswegs regelmäßig als Begleitsymptom einer Urtikaria
beziehungsweise unregelmäßig wechselnd mit ihr auf, sondern oft auch isoliert und rezidivierend, also ohne
alternierende Urtikaria. Der Hauptmediator dieser Angioödemform ist wahrscheinlich Histamin, analog zur
Urtikaria, weshalb auch vereinfachend von "Histamin-vermittelten" Angioödemen gesprochen wird.
Eine vollkommen andere Krankheit, auch hinsichtlich Pathogenese, klinischem Bild und Therapie, sind
rezidivierende Angioödeme durch einen ererbten oder erworbenen C1-Inhibitor-Mangel des
Komplementsystems. Beide Krankheiten dürfen nicht miteinander verwechselt werden, da sich die Therapie
bei einem Glottisödem in wesentlichen Punkten unterscheidet.
Angioödeme bei Urtikaria
"Histamin-vermittelte"Angioödeme
Die bei weitem häufigste Form der Angioödeme ist diejenige, die mit dem Krankheitsbild der Urtikaria eng
verbunden ist. Besonders häufig kommen diese Angioödeme im Rahmen der chronischen, idiopathischen
Urtikaria vor, aber auch bei den sogenannten Intoleranz-Urtikaria oder bei anderen Formen der Urtikaria
(Textkasten: Histamin-vermittelte Angioödeme).
Letztlich handelt es sich bei dieser Angioödemform um ein Teilbild der anaphylaktischen oder der
anaphylaktoiden Reaktion, also IgE-vermittelt oder nicht-immunologisch, analog zur Urtikaria und zum
anaphylaktischen beziehungsweise anaphylaktoiden Schock.
Wahrscheinlich sind auch dieselben Mediatoren wie bei der Urtikaria beteiligt, wobei lediglich die Zielzellen,
Endothelzellen der Blutgefäße, in einer tieferen Schicht liegen.
Klinik
Die "Histamin-vermittelten" Angioödeme sind fast ausschließlich im Bereich des Gesichts lokalisiert und hier
vor allem an den Augenlidern sowie im Bereich der Lippen. Periorbital treten die Angioödeme sehr oft
einseitig auf. Extrafaziale Angioödeme sind - im Gegensatz zu Angioödemen durch C1-Inhibitor-(C1-INH)Mangel - selten und betreffen die Genital- und Perianalregion und nur in Ausnahmefällen einmal andere
Lokalisationen. Zungenödeme und Glottisödeme kommen vor. Die Bestandsdauer beträgt ein bis fünf Tage, die
Symptomatik bildet sich danach vollkommen wieder zurück. Aufgrund der im Vergleich zur Haut
andersartigen Gewebetextur kommt es an der Mundschleimhaut bei einer generalisierten Urtikaria nicht zur
Entstehung von Quaddeln, sondern stets von Angioödemen, auch der Zunge, die sich rasch auf die
Kehlkopfregion fortsetzen und dort ein Glottisödem hervorrufen können. Das Glottisödem kann aber auch
primär dort entstehen, und zwar immunologisch (zumeist IgE-vermittelt) wie auch nicht-immunologisch.
Differentialdiagnose
Die Differentialdiagnose umfaßt in erster Linie die Abgrenzung eines hereditären Angioödems durch C1Inhibitor-(C1-INH)-Mangel. Die Kriterien zur Unterscheidung zwischen Angioödemen durch C1-INH-Mangel
und "Histamin-vermittelten" Angioödemen finden sich weiter unten sowie in der Tabelle. Nur selten kommen
andere, im allgemeinen länger persistierende Schwellungen in Betracht, zum Beispiel im Lidbereich als
Begleitsymptom eines Erysipels, von Kontaktekzemen und einer Photodermatitis, bei renalen Krankheiten,
Schilddrüsenkrankheiten und Eiweißmangel sowie im Lippenbereich beim Melkersson-Rosenthal-Syndrom.
Therapie
Wichtig ist der Ausschluß eines hereditären Angioödems beziehungsweise eines Angioödems durch C1Inhibitor-Mangel, das ein vollkommen anderes therapeutisches Vorgehen erfordert. Bei den üblichen Formen
des Angioödems ist analog zur Urtikaria die Aufklärung der Ursache und deren Vermeidung wichtigstes Ziel.
Ein Histamin-vermitteltes Angioödem ist nur durch eine interne Behandlung zu beeinflussen. Angioödeme im
Bereich der Periorbitalregion, der Lippen oder im Gesicht bedrohen den Betroffenen nicht und bilden sich
spontan zurück. Antihistaminika (intravenös, zum Beispiel ein bis zwei Ampullen Tavegil) und eventuell auch
Glukokortikoide (intravenös, zum Beispiel 100 mg Solu-Decortin-H oder äquivalente Dosen anderer
Kortikosteroide) kürzen den Verlauf ab und sind die Therapeutika der Wahl dieser Form der Angioödeme. Ein
Glottisödem, das klinisch mit Schluckbeschwerden, Heiserkeit und einer tieferen Stimme beginnt und
schließlich zu Stridor, Atemnot und Erstickung führen kann, erfordert ein anderes therapeutisches Vorgehen
(Textkasten: Therapeutische Maßnahmen).
Angioödeme durch C1-Inhibitor-Mangel
Angioödeme durch C1-Esterase-Inhibitor-(C1-INH)-Mangel können als Erbkrankheit oder, viel seltener, in
mehreren erworbenen Formen auftreten (Textkasten: Angioödeme durch C1-Inhibitor-Mangel). Insgesamt sind
sie außerordentlich selten, etwa 50- bis 100mal seltener als die übrigen Angioödeme. In Deutschland läßt sich
die Zahl der bekannten Patienten mit einem hereditären Angioödem auf etwa 500 schätzen. Exakte Zahlen
allerdings lassen sich nicht erhalten, da es bislang noch keine zentrale Erfassung gibt. Außerdem ist mit einer
erheblichen Dunkelziffer von bisher nicht diagnostizierten Krankheitsfällen zu rechnen.
Klinisch sind Angioödeme durch C1-INH-Mangel durch episodische Ödeme beziehungsweise Schwellungen
der Haut, des Magen-Darm-Trakts und, seltener, der Luftwege gekennzeichnet. Trotz der Seltenheit sind diese
Ödeme aufgrund ihrer nicht unerheblichen Mortalität von großer Bedeutung.
Hereditäres Angioödem
Das hereditäre Angioödem (HAE) tritt in zwei Formen auf. Bei der ersten und häufigsten Form (85 Prozent der
Patienten) handelt es sich um einen Synthesedefekt des C1-INH, der quantitativ stark vermindert vorliegt. Die
zweite Form (15 Prozent der Patienten) beruht auf einer funktionellen Insuffizienz des C1-INH, der aber in
normaler oder sogar erhöhter Menge vorliegt. Das HAE manifestiert sich am häufigsten in der zweiten, nicht
ganz selten auch bereits in der ersten Lebensdekade. Die erworbenen Angioödeme durch C1-INH-Mangel und
auch das idiopathische Angioödem, das nicht auf einem Defekt im Komplementsystem beruht und auch nicht
hereditär auftritt, beginnen dagegen nahezu immer im Erwachsenenalter. Im höheren Lebensalter verlaufen die
Krankheitsschübe beim HAE oft mit abgeschwächter Symptomatik.
Klinische Symptome
Die Hauptsymptome sind umschriebene Ödeme der Gliedmaßen, des Gesichts, des Stammes und selten der
Luftwege, außerdem krampfartige, wiederkehrende Schmerzen des Abdomens (4). Die zumeist prallen, seltener
auch weichen, nicht erythematösen, sondern hautfarbenen oder blassen Schwellungen der Haut treten meist in
Einzahl, aber auch an mehreren Körperbezirken gleichzeitig auf; ebenso kann sich die viszerale Symptomatik
isoliert oder mit Hautveränderungen kombiniert manifestieren. Prodromi der peripheren Schwellungen sind
Spannungsgefühl und Prickeln der Bezirke etwa eine Stunde vor dem sichtbaren Ödem. Müdigkeit, Frösteln,
Kältegefühl, Geräuschempfindlichkeit und allgemeines Mißbehagen, eventuell auch Fieber und
Gliederschmerzen gehen häufig den Schwellungen einen Tag voraus. Die Schwellungen der Haut sind fast nie
mit Juckreiz, sondern lediglich mit einem Spannungsgefühl, seltener auch mit Schmerzen verbunden. Sie
bestehen durchschnittlich ein bis drei Tage, können sich jedoch bereits nach einigen Stunden oder erst nach
sieben Tagen zurückbilden.
Die Dauer der Schwellungen ist auch beim selben Patienten völlig unterschiedlich, ebenso das Ausmaß und die
Lokalisation der Schwellungen. In dieser Zeit klagen die Patienten nicht selten über Beklemmungsgefühl und
"Druck im Kopf". Über begleitende oder vorausgehende, uncharakteristische, nicht juckende, makulöse
Exantheme, gyrierte Erytheme oder anulär-serpiginöse Exantheme und ein begleitendes Erythema exsudativum
multiforme wird manchmal von den Patienten berichtet. Eine Urtikaria gehört nicht zu diesem Krankheitsbild.
Bei fast allen Patienten sind die Extremitäten befallen, das Gesicht bei etwa 85 Prozent; etwa zwei Drittel der
Patienten berichten über eine Beteiligung der Mundschleimhaut beziehungsweise der oberen Luftwege. Die
häufigste Todesursache ist die Erstickung durch das Larynxödem, das nicht ganz selten einer Traumatisierung
der Mundhöhle beziehungsweise des Pharynx folgt, insbesondere Zahnoperationen oder einer Tonsillektomie.
Das Larynx- und Glottisödem beginnt mit Schluckbeschwerden, Stimmveränderungen und Heiserkeit, ehe es
zu Atemnot bis hin zur Erstickung führt. Die Larynxödeme treten häufig isoliert auf, jedoch kann der Anfall
zunächst mit peripheren Schwellungen beispielsweise im Gesicht oder auch an den Extremitäten beginnen,
denen dann das Larynxödem folgt. Das Larynxödem entsteht meistens nicht so rasch und dramatisch wie
beispielsweise Larynxödeme bei Bienengiftallergien, es dauert vielfach mehrere Stunden bis zur vollständigen
Ausprägung mit partieller oder kompletter Obstruktion der Luftwege.
Der Verlauf ist im Einzelfall nicht vorhersehbar, so daß unverzüglich mit der Therapie und den
Vorbereitungen für eine eventuell notwendige Intubation oder gar Tracheotomie begonnen werden muß. Etwa
zwei Drittel aller Patienten weisen eine gastrointestinale Symptomatik auf, wobei die krampfartigen Schmerzen
am häufigsten sind, Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen werden jedoch nicht selten gleichfalls beobachtet. Im
Verlauf eines solchen Anfalls, der wiederum zumeist zwei bis sieben Tage dauert, können wäßrige Diarrhöen
durch Flüssigkeitsansammlung im Lumen des ödematösen Darmes auftreten, die zu erheblichem
Flüssigkeitsverlust und damit Hämokonzentration bis hin zum Schock führen können. Peritoneale
Irritationszeichen zeigen sich nicht. Insgesamt treten die abdominellen Symptome bei diesen Patienten nicht
selten auch isoliert auf, was aufgrund der heftigen Schmerzen gelegentlich dazu führte, daß unnötige
explorative Laparotomien aufgrund eines vermuteten "akuten Abdomens" beziehungsweise einer Appendizitis
vorgenommen wurden.
Eine besondere Blutungs- oder Thromboseneigung scheint beim HAE nicht zu bestehen, obwohl der C1-INH
auch auf das Gerinnungs- und Fibrinolyse-System einwirkt (11).
Die Intervalle zwischen den Anfällen liegen zwischen wenigen Tagen und einigen Jahren, wobei
durchschnittlich etwa mit drei Anfällen pro Jahr zu rechnen ist.
Auslösung der Schwellungen
Zu den Faktoren, die eine Attacke auslösen, gehören in erster Linie Traumen wie Injektionen, Operationen,
Zahnoperationen, Tonsillektomien, weiterhin Verletzungen und Minimaltraumen. Handwerker sind im
allgemeinen stärker gefährdet als Angehörige anderer Berufsgruppen. Außerdem werden von Patienten Angst,
psychische Streßsituationen und lokale Infektionen als Anlaß angegeben. Stärkere und längere mechanische
Belastung der Extremitäten wie Schreibmaschineschreiben, Hämmern, längeres Schreiben, überhaupt
Anstrengungen, kann zum Ödem der belasteten Gliedmaßen führen. Druckbelastung kann ebenfalls ein Ödem
auslösen, zum Beispiel kann Reiten ein massives Skrotalödem und Ödem der Oberschenkel auslösen. Zwei
unserer Patienten berichten über regelmäßige Auslösung nach intensiver Insolation.
Die Menstruation kann bei einem Teil der Patientinnen zu Ödemen führen. In gleicher Weise häufen sich die
Anfälle zu Beginn von Schwangerschaften sowie bei Frauen, die hormonale Antikonzeptiva einnehmen,
insbesondere solche mit einem Östrogenanteil (3).
Bei 37 der in der Mainzer Hautklinik regelmäßig betreuten 61 Patienten mit Angioödemen durch C1-INHMangel jedoch traten die Schwellungen spontan auf, ohne daß sich Hinweise auf auslösende Faktoren ergaben.
Klinische Unterscheidung zwischen Angioödemen durch C1-INH-Mangel und Histamin-vermittelten
Angioödemen
Außerordentlich wichtig ist die Abgrenzung der viel häufigeren, andersartigen Angioödeme, die
Begleitsymptom beziehungsweise Äquivalent einer Urtikaria sind, denn die unter Umständen lebensrettende
Behandlung des akuten Ödems ist vollkommen unterschiedlich (Tabelle).
Klinische Hinweise auf ein C1-INH-Mangel-Angioödem sind Familiarität, Beginn der Symptomatik
in den ersten zwei Lebensjahrzehnten, Lokalisation der kutanen Angioödeme nicht nur im Gesicht, sondern
auch an den Extremitäten und in anderen Körperregionen, gleichzeitig oder alternierend abdominelle
Schmerzattacken. Beweisend sind in Verbindung mit diesen Kriterien die entsprechenden Laborbefunde.
Klinische Hinweise auf ein Angioödem als Symptom oder Äquivalent einer Urtikaria ("Histamin-vermitteltes"
Angioödem) sind eine gleichzeitig oder alternierend bestehende Urtikaria, fehlende Familiarität, kurze
Bestandsdauer oder eine Begrenzung der Angioödeme auf Periorbital- und Lippenregion.
Assoziierte Krankheiten
Zu beachten ist, daß, ähnlich anderen hereditären Komplementdefekten, bei einem nicht geringen Teil der
Patienten mit HAE verschiedene Autoimmunkrankheiten gleichzeitig vorhanden sind (9).
Mortalität
Die Mortalität des HAE wurde noch vor kurzem mit 30 Prozent angegeben, innerhalb einzelner Familien
erreichte sie bis zu 54 Prozent. Die Todesursache ist fast immer die Erstickung durch ein Larynxödem.
Patienten mit HAE erreichten früher nur ein Durchschnittsalter von etwa 35 Jahren, während in der heutigen
Zeit nur wenige Patienten daran sterben. Diejenigen Patienten sind am meisten gefährdet, bei denen das Ödem
der oberen Luftwege für sie und ihre Umgebung unerwartet auftritt. Ist die Diagnose und damit das Risiko der
Krankheit dem Patienten und den behandelnden Ärzten bekannt und sind geeignete Vorsorgemaßnahmen (vor
allem Information über die Krankheit, Anfangsymptome der Ödeme, auslösende Faktoren, Notfalltherapie)
getroffen, so kann einer Erstickungsgefahr wirksam begegnet werden.
Genetik
Das HAE wird autosomal dominant vererbt. Jeder Patient ist für den C1-INH-Defekt heterozygot und hat ein
normales und ein defektes Gen. Patienten mit HAE Typ I besitzen ein normal exprimiertes C1-INH-Gen und
ein abnormales oder deletiertes Gen, das nicht exprimiert wird. Patienten mit einem HAE Typ II besitzen
ebenfalls ein normales Gen, das andere Gen ist abnormal und wird exprimiert; es führt zur Synthese eines
dysfunktionellen C1-INH. Das Gen, das den C1-INH kodiert, ist auf dem langen Arm des Chromosoms 11
lokalisiert (2). Das HAE Typ II entsteht durch Punktmutationen im C1-INH-Gen.
Pathogenese
Der C1-INH kontrolliert die spontane Autoaktivierung der ersten Komplement-Komponente (C1) ebenso wie
aktiviertes C1. Ein Mangel an funktionellem C1-INH führt zu Komplementaktivierung und rezidivierenden
Angioödemen. 1963 identifizierten Donaldson und Evans den C1-INH-Mangel als Ursache des HAE. Der C1INH ist ein Glykoprotein von 105 000 Dalton Molekulargewicht. Es handelt sich um ein einkettiges Protein,
das aus 478 Aminosäuren besteht und überwiegend in Hepatozyten gebildet wird, geringfügig auch in BlutMonozyten, Hautfibroblasten und endothelialen Zellen der Nabelschnur (10). Durch die Aktivierung der
Anfangsphase des Komplementsystems kommt es als Folge zu einer permanenten Verminderung von C2 und
C4 im Plasma.
Die exakte Pathogenese des Angioödems ist noch nicht geklärt, insbesondere ist der Hauptmediator, der zur
Gefäßpermeabilitätserhöhung führt, nicht bekannt. Es wurde postuliert, daß das gespaltene C2 zur Entstehung
der erhöhten Permeabilität der Gefäßwände führt. Eine zweite Hypothese ist, daß Bradykinin vermehrt über das
nicht ausreichend vom C1-INH inhibierte Kallikrein entsteht und die Schwellungen bewirkt. Obwohl auch
nach anderen Hinweisen Bradykinin wohl als Mediator beteiligt ist, läßt sich nicht übersehen, daß die Injektion
von Bradykinin in die Haut nicht zu Angioödemen, sondern zu andersartigen, schmerzhaften Erythemen führt.
Möglicherweise wird das hereditäre Angioödem durch Zusammenwirken eines C2-Fragmentes und Bradykinin
ausgelöst.
Ein Trauma, das in vielen Fällen die lokale Schwellung auslöst, bewirkt offenbar eine Aktivierung der
Gerinnungsfaktoren XI und XII, die wiederum C1-INH verbrauchen, so daß dieser örtlich in noch geringerer
Konzentration zur Verfügung steht (11).
Diagnostik
Die Laboratoriumsdiagnostik sollte bei klinischem Verdacht folgende Parameter umfassen:
! C1-INH immunologisch
! C1-INH funktionell
! C1, C2, C4, CH50,
! gegebenenfalls Auto-Antikörper gegen C1-INH
Die Plasmakonzentration des C1-INH liegt bei gesunden Probanden zwischen 15 und 35 mg/dl. Bei 85 Prozent
der Kranken mit HAE besteht ein quantitativer Mangel an C1-INH im Plasma, der auch in den Intervallen
nachweisbar ist. Er liegt zwischen 0 und 50 Prozent, durchschnittlich bei 17 bis 25 Prozent der Norm. Im
akuten Krankheitsschub ist der Plasmaspiegel noch stärker erniedrigt. Prinzipiell ergeben sich aus den
Plasmakonzentrationen des C1-INH im Intervall keine Hinweise auf das Ausmaß des akuten Anfalls. C1 ist
beim HAE nicht erniedrigt, wohl dagegen beim Typ I des Angioödems durch erworbenen C1-INH-Mangel.
Die Diagnose HAE ergibt sich aus den rezidivierenden, peripheren Schwellungen der Haut, den abdominellen
Schmerzattacken, dem Larynxödem und der positiven Familienanamnese in Verbindung mit den zugehörigen
Laborbefunden, also dem immunologischen und funktionellen C1-INH-Defekt mit einer C4-Verminderung im
Plasma.
Wenn die klinischen Symptome ausschließlich in rezidivierenden, krampfartigen, heftigen
Bauchschmerzattacken bestehen, ist die Diagnose schwieriger. Verlauf und Familiarität sollten auch in diesem
Falle an ein HAE denken lassen und einen Ausschluß durch Laboruntersuchungen bewirken.
Die Diagnose HAE sollte so früh wie möglich gestellt werden; bei Kindern einer Familie mit Kranken, die an
einem HAE leiden, sollten frühzeitig die Komplementfaktoren untersucht werden, damit bei Auftreten der
Ödeme eine adäquate, unter Umständen lebensrettende Therapie rechtzeitig einsetzen kann.
Therapie
Wichtig ist die umfassende Information des Betroffenen, seiner Angehörigen, der behandelnden Ärzte und
eines nahegelegenen Krankenhauses, so daß in Notfallsituationen die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden
können. Die Anbindung an ein Zentrum, von wo aus diese Informationen erfolgen und wo Erfahrungen in der
Führung von Patienten mit diesem seltenen Krankheitsbild besteht, ist sinnvoll. Die therapeutischen
Bemühungen bei HAE gliedern sich in eine Langzeitprophylaxe, eine Kurzzeitprophylaxe und die Therapie des
akuten Anfalls.
Langzeitprophylaxe
Für eine Langzeitprophylaxe lassen sich heute mit gutem Erfolg Androgenderivate einsetzen, insbesondere
Danazol (7) und Stanozolol, die allgemein anabol wirken und damit auch die Synthese des C1-INH in der
Leber steigern.
Beide Substanzen besitzen im Vergleich zum gleichfalls wirksamen und früher zur Langzeitprophylaxe
verwendeten Methyltestosteron erheblich geringere Nebenwirkungen. Diese umfassen insbesondere
Virilisierung bei weiblichen Patienten und Hepatotoxizität bei langdauernder Anwendung. Danazol führt als
Hypophysengonadotropin-Inhibitor, wie auch andere synthetische Androgene, zu einem Anstieg von C1-INH
und C4. Die Prophylaxe mit Danazol ist von eindrucksvoller Wirksamkeit. Die Dosierung liegt zwischen 50
mg und 600 mg täglich. Die Indikation für eine medikamentöse Langzeitprophylaxe muß die Risiken der
Androgene und die persönliche Situation der Patienten berücksichtigen. Patienten mit Larynxödemen,
Gesichtsödemen, Halsschwellungen und solche mit sehr häufigen Anfällen, die zu erheblichen
Beeinträchtigungen im Leben der Patienten führen, sollten jedenfalls eine Danazol-Prophylaxe erhalten.
Unbedingt ist während einer Danazol-Medikation eine zuverlässige Antikonzeption notwendig. Orale
Kontrazeptiva sollten nicht gleichzeitig mediziert, sondern andere Formen der Kontrazeption, wie zum Beispiel
eine Spirale, gewählt werden. Schwangere sind unbedingt von einer Danazol-Therapie auszunehmen, ebenso,
jedenfalls im Regelfall, Kinder.
Weiterhin zeigt bei HAE die e-Aminocapronsäure (6 bis 15 g/die) eine deutliche Wirksamkeit, wenn auch nicht
bei allen Patienten. Die Therapie mit diesem Antifibrinolytikum ist jedoch mit erheblichen Nebenwirkungen
belastet, wobei Phlebothrombosen und Thrombophlebitiden, aber auch ein quälender Analpruritus
hervorzuheben sind, ebenso wie Myositiden und Muskelschmerzen und
-schwäche. Tranexamsäure ist gleichfalls prophylaktisch wirksam. In den seltenen Fällen, in denen eine
Danazol- oder eine e-Aminocapronsäure-Prophylaxe nicht in Frage kommt, ist auch eine Langzeitsubstitution
mit C1-INH-Konzentrat möglich (6).
Kurzzeitprophylaxe
Die Kurzzeitprophylaxe sollte insbesondere vor Operationen im Mund- und im Gaumenbereich erfolgen,
speziell bei zahnärztlichen Eingriffen, Tonsillektomien, aber auch anderen operativen Eingriffen im
Kopfbereich sowie nach Traumen des Kopfes. Für die Kurzzeitprophylaxe steht ein C1-Inhibitor als Konzentrat
zur Verfügung (Berinert HS). Eine halbe Stunde vor dem Eingriff sollte die Injektion von insgesamt 500 bis 1
000 Einheiten erfolgen. Eine Gefahr der Überdosierung besteht nach den bisherigen Erkenntnissen nicht. Eine
Kurzzeitprophylaxe ist im Prinzip auch mit Danazol und e-Aminocapronsäure möglich.
Therapie der akuten Schwellungen
Periphere Schwellungen sind im allgemeinen nicht behandlungsbedürftig. Eine Therapie wird von uns
lediglich bei lebensbedrohlichen Attacken, wie Schwellungen im Gesicht, im Halsbereich, der Mund-, Pharynx-
und Larynxschleimhäute und einem Verdacht auf Ödeme in Lungen oder Gehirn, durchgeführt. Die
schmerzhaften abdominellen Attacken sind in den meisten Fällen tolerabel und nicht behandlungsbedürftig.
Bei manchen Patienten sind die Schmerzen bei abdominalen Attacken allerdings so stark, daß die Injektion des
C1-INH-Konzentrates erforderlich werden kann. Patienten mit einem hereditären Angioödem im Kopfbereich
mit Ödem der Haut, des Pharynx oder Larynx sind wegen der drohenden Erstickungsgefahr ein Notfall und
sollten unverzüglich stationär behandelt werden.
Die Therapie beim akuten, lebensbedrohlichen Larynxödem im Rahmen eines hereditären Angioödems richtet
sich nach dem Grad des Glottisödems. Besteht eine vital bedrohliche Atemnot, so sollte unverzüglich eine
Intubation, auch unter Benutzung einer Fiberoptik, oder im äußersten Notfall sogar eine Tracheotomie
erfolgen. Ist dies noch nicht erforderlich, so können lokale Maßnahmen wie die Applikation von
vasokonstriktorischen Lösungen in den Kehlkopfbereich durch einen HNO-Arzt hilfreich sein. In jedem Falle
ist die medikamentöse Therapie der Wahl die direkte Substitution mit einem C1-Inhibitor-Konzentrat. Die
Dosierung des C1-INH-Konzentrates liegt zwischen 1 000 und 2 000 Einheiten, wobei die Symptomatik sich
dann nicht sofort, sondern meistens nach etwa ein bis zwei Stunden zurückbildet. Manchmal werden bei
gravierendem Verlauf nach einigen Stunden weitere Injektionen notwendig. Zwar beträgt die Halbwertszeit des
C1-INH etwa 64 ± 1,4 Stunden, doch muß beim akuten Anfall mit einem höheren Verbrauch gerechnet
werden.
Das Präparat ist nach den bisherigen Erkenntnissen Hepatitis B- und HIV-sicher. Sichere Antikörperbildung
beziehungsweise Sensibilisierung gegen den therapeutisch zugeführten C1-INH sind bisher beim Menschen
nicht beobachtet worden. Infusionen von frischem Gefrierplasma (fresh frozen plasma, FFP) können günstig
wirken; eine anfängliche Verschlechterung kann jedoch zumindest theoretisch für den Patienten gefährlich
werden, da mit dem Frischplasma nicht nur der fehlende oder verminderte C1-INH zugeführt wird, sondern
auch weitere Komplementfaktoren, die die Schwellungen verstärken. Dennoch war die Gabe von FFP bisher
vielfach lebensrettend. Auch ist bei der Gabe von frischem Gefrierplasma das Risiko einer Virusübertragung zu
beachten.
Im Gegensatz zu den nicht hereditären Formen des Angioödems im Rahmen einer Urtikaria oder ohne diese
sind beim hereditären Angioödem Antihistaminika, Adrenalin und Kortisonpräparate gering oder gar nicht
wirksam.
Angioödeme durch erworbenen C1-INH-Mangel
Die Angioödeme durch erworbenen C1-INH-Mangel (acquired angioedema, AAE) treten in einer häufigeren
Form, AAE I, im Gefolge von B-Lymphozytenfunktionsstörungen auf, also zum Beispiel bei malignen
Lymphomen, Plasmozytom, chronisch lymphatischer Leukämie und anderen, sowie beim systemischen Lupus
erythematodes, während bei der zweiten erworbenen Form, AAE II, eine Grundkrankheit nicht festzustellen ist,
wohl aber das Auftreten von Autoantikörpern, die gegen den eigenen C1-Inhibitor gerichtet sind.
Ätiologie
Ein erworbener C1-INH-Mangel ist in der Regel mit einer lymphoproliferativen Erkrankung oder anderen
malignen Veränderungen assoziiert (AAE Typ I). In der Regel handelt es sich um maligne Krankheiten des BZellsystems, wobei es zur Produktion antiidiotypischer Antikörper gegen das monoklonale Immunglobulin
kommt, dadurch zu einer erhöhten Aktivierung von C1 und hierdurch zu einem beschleunigten Katabolismus
des C1-INH, der damit nicht mehr ausreichend für seine übrigen Aufgaben zur Verfügung steht. Wie das HAE
ist auch das AAE durch niedrige Konzentrationen oder Fehlen von C2, C4 oder funktionell aktivem C1-INH
gekennzeichnet. Im Gegensatz zur erblichen Form finden sich beim erworbenen Angioödem ein deutlicher
Abfall der C1-Konzentration, eine normale oder leicht erhöhte C1-INH-Synthese und ein Beginn der
Symptomatik im mittleren Lebensalter.
Ein weiterer Typ des erworbenen C1-INH-Mangels wird durch Antikörper gegen C1-INH (IgG oder IgM)
verursacht (AAE Typ II) (1, 5). Es handelt sich um Antikörper, die die Bindung von C1-INH an C1
verhindern. Das unkontrollierte C1 wiederum spaltet den C1-INH in ein nicht mehr aktives, kleineres Molekül,
so daß die Anfangsphase des Komplementsystems unkontrolliert ablaufen kann und sich Angioödeme
entwickeln.
Diagnostik
Bei den erworbenen Angioödemen durch C1-INH-Mangel sollten dieselben Laboruntersuchungen durchgeführt
werden wie beim HAE. Zusätzlich ist eine eingehende Durchuntersuchung der Patienten zum Ausschluß von
malignen Lymphomen, Paraproteinämien und weiteren B-Zell-Störungen (AAE Typ I) sowie gegebenenfalls
der Nachweis von Auto-Antikörpern gegen den C1-INH (AAE Typ II) erforderlich.
Therapie
Wirksam ist e-Aminocapronsäure (6 bis 15 g/die), allerdings ist das Risiko unerwünschter Wirkungen hoch.
Bei der ersten Form der erworbenen Angioödeme steht die Behandlung des Grundleidens im Vordergrund.
Danazol ist bei dieser Angioödemform gut wirksam, bei der Autoantikörper-bedingten zweiten Form nach den
bisherigen Erfahrungen nur wenig.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-726-737
[Heft 12]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über den Verfasser.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Konrad Bork
Universitäts-Hautklinik
Langenbeckstraße 1 55101 Mainz
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