ArchivDeutsches Ärzteblatt PP7/2007Alfred Döblin (1878–1957): „Man kennt sich allmählich gründlich und möchte umziehen“

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Alfred Döblin (1878–1957): „Man kennt sich allmählich gründlich und möchte umziehen“

Richter, Gabriel

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Fotos: picture alliance/akg-images
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Vor 50 Jahren starb der Schriftsteller und Arzt in einem Krankenhaus bei Freiburg. Aus dem Exil zurückgekehrt, fand er im Nachkriegsdeutschland keine Heimat mehr.

Vor 50 Jahren, am 26. Juni 1957, starb Alfred Döblin im Psychiatrischen Landeskrankenhaus (PLK) Emmendingen bei Freiburg. Der Schriftsteller und Arzt wurde am 10. August 1878 in Stettin geboren. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, siedelte die Mutter mit dem zehnjährigen Alfred und seinen vier Geschwistern nach Berlin um. Nach dem Abitur 1900 studierte Döblin in Berlin Medizin und Philosophie. Zu seiner Fächerkombination führte er aus: „Warum hatte ich denn begonnen, Medizin zu studieren? Weil ich Wahrheit wollte, die aber nicht durch Begriffe gelaufen und hierbei verdünnt und zerfasert war. Ich wollte keine bloße Philosophie und noch weniger den lieben Augenschein der Kunst.“
Nach den Studienjahren in Berlin wechselte Döblin 1904/05 für ein Winter- und ein Sommersemester nach Freiburg i. Br. Dort wurde er approbiert und 1905 bei Prof. Alfred Hoche, Direktor der damaligen Universitäts-Irrenklinik, mit der Dissertation „Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose“ mit einem „cum laude“ zum Doktor der Medizin promoviert. Das Thema der Dissertation scheint bei näherer Betrachtung nicht willkürlich gewählt. Das Korsakow-Syndrom stellt nämlich nach Ansicht Döblins eine Verbindung zwischen Schriftstellerei und Psychiatrie her. Sowohl das Dichten des Schriftstellers als auch die Konfabulationen des Korsakowpatienten seien „Verbindungsstörungen“. „Das wirklich Erlebte wird dislociert; Erträumtes, Erlesenes, Gedachtes, Halluciniertes wird vermengt, commutiert.“ Döblin glaubte jedoch zugleich, Unterschiede zwischen pathologischem und literarischem Fabulieren durch weitere Befunde herausarbeiten zu können.
Nach Tätigkeiten in einer Heil- und Pflegeanstalt bei Regensburg, in der Städtischen Irrenanstalt Buch bei Berlin und am Städtischen Krankenhaus Am Urban in Berlin ließ Döblin sich als Arzt nieder und führte seit 1911 in Berlin eine kassenärztliche Praxis, erst als praktischer Arzt und Geburtshelfer, dann als Internist, Neurologe und Psychiater. Diese Kassenarztpraxis bestand bis 1931. Ebenfalls im Jahr 1911 verlobte er sich mit der Medizinstudentin Erna Reiss, die er 1912 heiratete. Durch die Veröffentlichung und Verfilmung seines Romans „Berlin Alexanderplatz“ erfuhr Döblin weltweite Beachtung. Von 1931 bis 1933 arbeitete er als Privatarzt in Berlin, nachdem er die kassenärztliche Zulassung abgegeben hatte und nicht mehr wiedererlangte. Seine Praxen lagen im Milieu der einfachen Leute, dem Schauplatz von „Berlin Alexanderplatz“, nach den Worten Heinrich Manns in „einer Zentrale der Existenzsorgen, da war er der Doktor, zu dem sie kamen, Arbeiter, Arbeitslose, Weiber mit ihrer Brut.“
Ende Februar 1933 sah sich Döblin als Jude in die Emigration gezwungen. Zur selben Zeit wurden seine Schriften auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Die Scheiterhaufen im ganzen Reich brannten. Döblin schrieb zur Bücherverbrennung: „Ein Jude meines Namens war auch dabei . . . So ehrt man mich.“
Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist Döblins wohl bekanntestes Werk. Schutzumschlag der Erstausgabe von 1929
Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist Döblins wohl bekanntestes Werk. Schutzumschlag der Erstausgabe von 1929
Zum Broterwerb auf das Schreiben angewiesen
Döblin kam, nach Zwischenstationen in Kreuzlingen und Zürich, im September 1933 nach Paris; dort befand er sich über lange Zeit in einer erheblichen finanziellen Notlage. Die deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt. Resigniert schrieb er: „Arzt kann ich nicht mehr sein im Ausland, und schreiben wofür, für wen?“
Fortan war er, der sich eher als Arzt, denn als Schriftsteller fühlte, zum Broterwerb auf Veröffentlichungen und den Verkauf seiner Bücher im Ausland angewiesen. „Ich versichere: Ich werde, wenn die Umstände mich drängen, lieber und von Herzen die Schriftstellerei aufgeben als den inhaltsvollen, anständigen, wenn auch sehr ärmlichen Beruf eines Arztes.“
Er hat nie mehr praktiziert, sondern wurde zunehmend selbst zum Patienten, beeinträchtigt insbesondere durch Nervenschmerzen und ein Augenleiden. Erst 1939, nach über fünf Jahren in Frankreich, wurde er im französischen Informationszentrum angestellt; dort verfasste er Streitschriften gegen Nazideutschland. Von Frankreich aus emigrierte Döblin im Sommer 1940 über Spanien und Portugal in die USA, wo er, abgesehen von einem Job als Drehbuchautor für die Metro-Goldwyn-Mayer, keine Arbeit fand. Die Eheleute Döblin mussten zeitweilig von der Arbeitslosenunterstützung und, nach Einstellung dieser Zahlungen, vom „writers fund“ leben, der bedürftigen Schriftstellern in den USA gewährt wurde. Gemeinsam mit seiner Ehefrau und dem jüngsten ihrer vier Söhne konvertierte Döblin am 30. November 1941 zum Katholizismus, was ihm später von verschiedenen Seiten erhebliche Kritik eintrug.
Am 9. November 1945 kehrte Döblin als Kulturoffizier der französischen Besatzungsmacht, fast 70-jährig, nach Deutschland zurück. „Und als ich wiederkam, da kam ich nicht wieder“, schrieb er 1946 in der Badischen Zeitung. Er arbeitete als Zensor, um vor allem das literarische Schrifttum auf seine politische Unbedenklichkeit hin zu überprüfen.
Verbitterung über restaurative Tendenzen in Deutschland
Eindrucksvoll fasste Döblin 1946 die „Euthanasie“ im NS-Staat am Beispiel der Berliner Anstalt Buch unter dem Titel „Die Fahrt ins Blaue“ in eine literarische Form. Döblin hatte im Schwarzwald einen ehemaligen Kollegen getroffen, der sich das Erlebte von der Seele reden wollte. Diese erste literarische Veröffentlichung zum Thema „Euthanasie“ im Nachkriegsdeutschland verdient, besonders hervorgehoben zu werden, zeigte sich doch seinerzeit, dass das Bewusstsein, mitschuldig an diesen Verbrechen geworden zu sein, bei vielen Ärzten noch nicht sonderlich ausgeprägt war und erst durch die jeweiligen Besatzungsmächte angestoßen werden musste.
Als Dichter in Deutschland verdrängt, vergessen und isoliert, zog sich Döblin Ende April 1953, verbittert über die restaurativen Tendenzen in Deutschland, nach Paris zurück. „Ich bin in diesem Lande, in dem ich und meine Eltern geboren sind, überflüssig und stelle fest, mit jeder erdenklichen Sicherheit: ‚Der Geist, der mir im Busen wohnt, er kann nach außen nichts bewegen‘“, schrieb er in einem offenen Brief an den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, der ihn zuvor noch im Krankenhaus besucht hatte. Man hat ihm diesen Rückzug in Deutschland empört als „vaterlandslose Schwäche“ ausgelegt.
Döblins Resignation drückt sich geradezu bildhaft in der Verfassung aus, in der er am 29. April 1953 das Exil antrat. Sie wurde von Hans Ulbricht, einem Sekretär der Mainzer Akademie, geschildert: „Auf einer Bahre brachten ihn zwei blaubeschürzte Bedienstete des Zentralhotels auf den Bahnsteig. Dort saß er . . . zusammengekauert, eine Decke auf die Beine gebreitet, auf einem wackeligen Stuhl – nahe der Geleise – im nur gespenstig erhellten Bahnhofsdunkel und in kalter rauchiger Zugluft, ein Großer der deutschen Literatur (sofern man noch von einer solchen reden kann), verraten und verkauft, jedenfalls vereinsamt und verbittert, krank und müde, wenngleich sehr wachen Geistes. Mein Ohr zu seinem Mund geneigt (der alte Mann war erkältet, heiser und hustete) hörte ich ihn sagen: ‚Das ist der Abschied.‘“
Anfang 1954 war Döblin jedoch schon wieder in Deutschland. Er wurde von nun an etliche Male wegen seiner zunehmenden körperlichen Leiden und der damit verbundenen Pflegebedürftigkeit über Monate – jeweils nach einer stationären Behandlung in der Universitätsklinik Freiburg – in Südbaden weiterbehandelt und betreut. Obgleich Döblin meinte, sein Aufenthalt in Deutschland sei keine Rückkehr, sondern ein „etwas verlängerter Besuch“ gewesen, verbrachte er in der Zeit zwischen dem Aufbruch in sein zweites französisches Exil und seinem Tod im Juni 1957 mehr Zeit in Deutschland als in Frankreich.
Döblins Gesundheitszustand verschlechterte sich erneut Anfang 1956, nachdem er schon, wie oben skizziert, wegen verschiedener Leiden, wie zum Beispiel eines Herzinfarkts, Sehstörungen, Nervenschmerzen, eines Harnverhalts, einer Blasenentzündung, eines Hörsturzes, seiner Parkinson-Erkrankung, immer wieder stationär in Deutschland behandelt worden war.
Ein Grund, warum sich Döblin zur medizinischen Behandlung stets nach Deutschland begab, wird wohl gewesen sein, dass er trotz der ihm 1936 gewährten französischen Staatsbürgerschaft nur über unzureichende Französischkenntnisse verfügte; Döblin sah sich „auf der Flucht vor der mich quälenden Fremdsprache“. Zudem bestanden Anknüpfungspunkte zur südbadischen Region einerseits durch seine Studien- und Militärzeit, andererseits durch seine krankheitsbedingten Aufenthalte in der Nachkriegszeit seit 1947.
Kulturoffizier: Im Dienst der französischen Besatzungsmacht kehrte Döblin 1945 nach Deutschland zurück. Als Zensor überprüfte er vor allem das literarische Schrifttum auf seine politische Unbedenklichkeit.
Kulturoffizier: Im Dienst der französischen Besatzungsmacht kehrte Döblin 1945 nach Deutschland zurück. Als Zensor überprüfte er vor allem das literarische Schrifttum auf seine politische Unbedenklichkeit.
„Papa heute sanft eingeschlafen . . . Denkt an ihn.“
So wurde Döblin wegen seines rapiden Kräfteverfalls am 14. Februar 1956 mit dem Nachtschnellzug erst nach Basel, von dort nach Freiburg transportiert und bis zum 28. Februar 1956 erneut in der Medizinischen Klinik behandelt. Er war bettlägerig, zeigte einen deutlich reduzierten Allgemeinzustand, litt an Blasenentleerungsstörungen und einer quälenden Verstopfung. Es wurden wiederkehrende Verwirrtheitszustände und Gedächtnisstörungen beobachtet, ferner wechselnde Bewusstseinstrübungen, Personenverkennungen, Trugerinnerungen und nicht zuletzt auch ängstliche und erregte Verstimmungszustände.
Am 17. März 1956 wurde Döblin nach Buchenbach bei Freiburg verlegt. Er hätte sich bei der Aufnahme im dortigen Sanatorium Wiesneck in einem desolaten und lebensbedrohlichen Zustand befunden. Zum dortigen Behandlungserfolg berichtete die Ehefrau: „Es geschah ein Wunder! Er wachte wieder auf, aß, nahm zu, wurde treulich von Ärzten und Pflegepersonal umsorgt.“
Döblin selbst drängte wohl nach seiner Betreuung in Buchenbach auf eine Entlassung nach Paris. Die mangelnden Bettenkapazitäten in Wiesneck hätten eine Verlegung erforderlich gemacht. Er wurde allerdings auf Wunsch der Ehefrau am 1. Juni 1957 nach 14-monatiger intensiver Pflege und Aktivierung in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Emmendingen verlegt. Er sei für das PLK Emmendingen ein „reiner Pflegefall“. Dies wird ausdrücklich so im Krankenblatt vermerkt – also das, was man im PLK gerade nicht haben wollte.
Für Döblin selbst schloss sich mit der Aufnahme im PLK Emmendingen ein Kreis. Er diktierte noch in Buchenbach eine Woche vor seiner Verlegung nach Emmendingen einen Brief mit folgendem Inhalt: „Als Anstaltsarzt habe ich meine Laufbahn begonnen, so kann ich sie auch abschließen. Ich wähle Emmendingen.“ Döblin starb schließlich 78-jährig nach etwas mehr als drei Wochen Behandlung im PLK Emmendingen. Wegen des Fiebers hatte ihn, auf Bitten von Erna Döblin, Prof. Heilmeyer, Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg, noch am 23. Juni aufgesucht. Die von ihm empfohlenen Antibiotika konnten das Sterben nicht aufhalten. Döblin starb an den Folgen einer erneuten Harnblaseninfektion am 26. Juni 1957 um zwölf Uhr mittags im Beisein seiner Ehefrau. Nach seinem Tod sandte Erna Döblin ein Telegramm an die Söhne: „Papa heute sanft eingeschlafen. Beerdigung Housseras. Denkt an ihn. Mutter.“
Grass: „Der Wert Döblin wurde und wird nicht notiert.“
Döblin wurde am 28. Juni 1957 nach Frankreich überführt. Nach seinem Tod hielt das PLK den Bestattungsort zunächst auf Wunsch der Angehörigen geheim. Es entsprach dem Wunsch von Erna Döblin, ihn „ohne Anteilnahme der Öffentlichkeit nur im engsten Familienkreise“ zu beerdigen. Er fand in Housseras in den Ostvogesen (zwischen Saint-Dié-des-Vosges und Rambervillers), wo sein Sohn Wolfgang gefallen und beerdigt worden war, seine letzte Ruhestätte. Drei Monate später, nach ihrem Freitod am 15. September 1957 in Paris, wurde auch seine Ehefrau dort beerdigt.
Döblin hatte sich schon mehrfach Gedanken zum Tod, auch zu seinem eigenen, gemacht. „Ich halte den Tod, wenn er nicht zu früh kommt, für ein sehr natürliches, uns angepasstes Ereignis. Im Laufe einiger Jahrzehnte haben wir reiflich Zeit, uns mit den Mängeln und Ecken unserer Persönlichkeit zu befassen. Man kennt sich allmählich gründlich und möchte umziehen.“
Günter Grass schrieb 1967 über die Rezeption Alfred Döblins: „Der progressiven Linken war er zu katholisch, den Katholiken zu anarchistisch, den Moralisten versagte er handfeste Thesen, fürs Nachtprogramm zu unelegant, war er dem Schulfunk zu vulgär . . . der Wert Döblin wurde und wird nicht notiert.“
Dr. med. Gabriel Richter
Zentrum für Psychiatrie, 79312 Emmendingen

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