ArchivDeutsches Ärzteblatt31-32/2007Zulassungsrückgabe: Spiel mit hohem Einsatz

POLITIK

Zulassungsrückgabe: Spiel mit hohem Einsatz

Rabbata, Samir

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LNSLNS Das Bundessozialgericht setzt Ärzten und Zahnärzten für einen Ausstieg aus dem KV-System hohe Hürden. Ärzteverbände sehen im kollektiven Zulassungsverzicht dennoch ein geeignetes Druckmittel gegen Politik und Krankenkassen.

Den Gedanken hatte wohl schon jeder – einfach aussteigen, den Alltag hinter sich lassen und irgendwo einen Neuanfang wagen. Zumindest in beruflicher Hinsicht können sich viele Vertragsärzte angesichts schlechter Arbeitsbedingungen und unzureichender Bezahlung einen kollektiven Ausstieg aus dem System der kassenärztlichen Versorgung vorstellen. Für viele erscheint dies als letzte Möglichkeit, zunehmenden Zwängen zu entgehen und ihren Forderungen an die Politik mehr Nachdruck zu verleihen.
Doch birgt ein solcher Systemausstieg Risiken, wie ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) von Ende Juni zeigt. Im Sommer 2004 gaben 72 der 180 Kieferorthopäden in Niedersachsen aus Protest gegen gesundheitspolitische Vorgaben ihre vertragszahnärztliche Zulassung zurück. Nach dem Verzicht behandelten sie weiterhin Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung und stellten den Kassen ihre Leistungen nach dem einfachen Satz der Gebührenordnung für Zahnärzte in Rechnung. Die Kassen verweigerten die Zahlungen. Nach den aktuellen Urteilen des BSG* bleiben die Aussteiger auf ihren offenen Rechnungen sitzen.
Bezahlung nur bei Systemversagen
Die gesetzlichen Regelungen (§ 95 b Abs. 3 SGB V) zeigten deutlich den Willen des Gesetzgebers, Ärzte und Zahnärzte nach einem kollektiven Zulassungsverzicht grundsätzlich nicht mehr an der Versorgung der Versicherten mitwirken zu lassen, befand das BSG. Nur wenn die Kassen die Versorgung mit unaufschiebbaren Leistungen nicht rechtzeitig sicherstellen können, dürften die Versicherten auf Versorgungsangebote von ausgestiegenen Ärzten zurückgreifen. Ein solches „Systemversagen“ hat nach Meinung des Gerichts in Niedersachsen jedoch nicht vorgelegen.
Das Urteil ist bundesweit von Bedeutung. Denn bereits seit Anfang der 90er-Jahre diskutieren Vertragsärzte über einen kollektiven Systemausstieg. Zuletzt riefen Medi Deutschland, die Freie Ärzteschaft und der Bundesverband der Ärztegenossenschaften zu einer Zulassungsrückgabe auf. Die Verbände setzen wie verschiedene regionale Ärztenetze auf das „Korbmodell“. Hierbei geben Ärzte einer Region bei einem Notar Absichtserklärungen für eine Zulassungsrückgabe ab. Erst wenn genügend Erklärungen im „Korb“ sind, stimmen die Ärzte über einen Ausstieg ab.
Der Erkrather Urologe Dr. med. Wolfgang Rulf gehört zu den Initiatoren des nordrheinischen Korbmodells. Vom BSG-Urteil sieht er sich nicht betroffen. Das Gericht habe klargestellt, dass die Kassen bei Vorliegen eines Systemversagens den einfachen GOÄ-Satz an ausgestiegene Ärzte zahlen müssen. „Wir sammeln so lange Absichtserklärungen für einen Ausstieg, bis wir eine ausreichende Zahl für ein solches Szenario zusammenhaben. Ob wir wirklich ernst machen, entscheiden wir dann“, sagt Rulf.
Dass sich über erfolgreiche Korbmodelle ein neues Wir-Gefühl innerhalb der Ärzteschaft einstellen kann, glaubt der Vorsitzende von Medi Deutschland, Dr. med. Werner Baumgärtner. „Damit würde die augenblickliche Angstsituation aufhören, die uns in einem System festhält, das uns ausbeutet“, so der Allgemeinarzt. Dr. med. Klaus Bittmann, Vorsitzender des NAV-Virchow-Bundes und Chef des Bundesverbandes der Ärztegenossenschaften, fügt hinzu: „Das Urteil lehrt uns: Bei einem kollektiven Systemausstieg muss die kritische Ausstiegsquote von mindestens 70 Prozent überschritten werden.“
Ob sich ausreichend ausstiegswillige Ärzte finden, muss vor dem Hintergrund des im Januar vorgestellten Referendums der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bezweifelt werden. Darin hatte sich die Mehrheit der Ärzte für den Verbleib im System der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) ausgesprochen. Hinzu kommt: Selbst wenn es zu einem durch Zulassungsrückgabe hervorgerufenen Systemversagen kommt, lassen sich die Folgen für Ärzte nicht sicher vorhersagen. Denn die Kassen können Kliniken zur ambulanten Versorgung ermächtigen und ausländische Ärzte rekrutieren, um den auf sie übergegangenen Sicherstellungsauftrag zu erfüllen.
Kliniken profitieren
Der Vorsitzende der KV Nordrhein, Dr. med. Leonhard Hansen, appelliert deshalb an die Vertragsärzte: „Setzen Sie nicht unnötig Ihre Existenz aufs Spiel.“ Der kollektive Systemausstieg wäre für Kliniken die Gelegenheit, das Tor zur ambulanten Versorgung zu öffnen.
Auch wenn er den Frust seiner Kollegen versteht, rät der Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. med. Andreas Köhler, ebenfalls zur Besonnenheit. Man müsse hinterfragen, ob die Vergütung nach dem einfachen GOÄ-Satz tatsächlich besser ist als die jetzige GKV-Honorierung. Köhler weist zudem darauf hin, dass eine Praxis mit Kassenzulassung bei einer Berufsaufgabe verkauft werden kann. Mit einer Zulassungsrückgabe würde ein wichtiger Bestandteil der Alterssicherung wegbrechen.
Samir Rabbata


*Az.: B 6 KA 37/06 R,
B 6 KA 38/06 R,
B 6 KA 39/06 R

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