THEMEN DER ZEIT: Porträt
Das Porträt: Dr. med. Ellen Althainz - Die Inselärztin


Auch bei „Schietwetter“:
Hausbesuche
erledigt Ellen
Althainz mit dem
Fahrrad.
Foto: Birgit Hibbeler
An stürmischen Tagen, wenn die Möwen nur ihre Flügel ausstrecken müssen, um durch die Luft zu segeln, und die Urlauber resigniert ihre verbogenen Regenschirme zusammenklappen, überlässt Dr. med. Ellen Althainz (51) nichts dem Zufall. „Dann muss man schon die Hausbesuchstour nach der Windrichtung planen“, sagt die Fachärztin für Allgemeinmedizin aus Baltrum. Ganz unabhängig von Wind und Wetter ist das Fahrrad Verkehrsmittel Nummer eins auf der autofreien Nordseeinsel. Und so fährt auch Althainz mit dem Fahrrad zu ihren Patienten. „Moin, Moin“, rufen ihr dann die Insulaner zu. Auf Baltrum kennt jeder jeden. Rund 600 Einwohner hat die kleinste ostfriesische Insel, die vor 21 Jahren zur Wahlheimat der gebürtigen Hessin wurde.
„Manche Kollegen von damals begreifen das bis heute nicht“, kommentiert Althainz ihre Entscheidung, nach Baltrum zu ziehen. Das war 1986. Sie arbeitete in einer chirurgischen Abteilung im hessischen Lich, hatte aber auf der Insel schon zweimal die Urlaubsvertretung übernommen. Eines Tages klingelte bei Althainz das Telefon. Der Inselarzt suchte einen Nachfolger für seine Praxis. „Drei Wochen später war ich hier“, erinnert sie sich. Sie mochte die Insel und hoffte, dort mehr Zeit für ihre Kinder, damals drei und sieben Jahre alt, zu haben. Ihr Ehemann hatte sich als Lehrer beurlauben lassen und war Hausmann.
Die Praxis von Althainz liegt direkt hinter dem Deich, in Haus 204. Schilder mit Straßennamen sucht man auf Baltrum ebenso vergeblich wie Autos. An der Anmeldung fällt das Bild eines grinsenden Chinesen auf. „Albeite flöhlich ohne mullen und knullen“, rät der Asiate dem Betrachter. Schlicht, aber liebevoll ist die Baltrumer Praxis eingerichtet.
Wenig spektakulär findet Althainz ihre heutige Sprechstunde. Unter anderem hat sie einen Fremdkörper aus einem Fuß entfernt, eine Platzwunde genäht und einen Patienten mit einem entgleisten Diabetes mellitus behandelt. Doch es gibt Tage, da eilt sie von Notfall zu Notfall. Wenn ein Urlauber am Strand vom Blitz getroffen wird, ein unerfahrener Surfer den Sog der ablaufenden Flut unterschätzt und unterkühlt aufgefunden wird oder ein Insulaner einen Herzinfarkt erleidet, kommen Hubschrauber und Rettungsboot zum Einsatz. „Aber Verkehrsunfälle gibt es selten“, sagt Althainz mit einem Augenzwinkern.
Medizin ohne Geräte
Medizin auf Baltrum heißt vor allem eins: Medizin ohne Geräte. Fast wie „Urwaldmedizin“, findet Althainz. Zum Röntgen beispielsweise müssen die Patienten aufs Festland. Also steht die körperliche Untersuchung ganz im Vordergrund: „Das ist etwas, was man hier wirklich lernt: ganz akribisch, klinisch untersuchen.“ Genau das reizt sie an der Arbeit. Ebenso das breite Spektrum: Notfälle, Kinderheilkunde, Geriatrie. „Und dann bin ich hier auch noch das Gesundheitsamt“, sagt sie. Die Untersuchungen für die Inselschule fallen in ihren Aufgabenbereich. Unterrichtet wird auf Baltrum bis zur zehnten Klasse.
Althainz liebt ihre Arbeit, doch es gab auch Zeiten, in denen ihr alles zu viel wurde. Mehrere Tausend Urlauber kommen im Sommer auf die Insel, aber in der Saison 2003 fand sie keinen Arzt, der sie in der Ferienzeit unterstützte. „Da bin ich auf dem Zahnfleisch gegangen“, erklärt sie. Ein Jahr lang war sie im Dauereinsatz, hatte rund um die Uhr Dienst und konnte die Insel nicht verlassen. „Da war meine größte Sorge: Was mach’ ich, wenn ich mal Zahnschmerzen bekomme?“ Deshalb ist sie froh, dass sie seit drei Jahren eine Kollegin hat.
Die schönste Jahreszeit ist für sie nach wie vor der Winter, denn dann kehrt etwas Ruhe auf der Insel ein. Althainz hat dann viel Zeit, die sie gern mit Rainer Iwanowski (51) verbringt. Er ist der Inselpolizist und seit einigen Jahren ihr Lebensgefährte.
Auf Baltrum gilt: Ihren Lebens-unterhalt verdienen die Insulaner in erster Linie im Sommer – egal ob als Pensionsbesitzer oder Ärztin. Und auch für den Inselpolizisten Iwanowski sind die Ferien die Zeit im Jahr, in der er am meisten zu tun hat. Denn mit den Urlaubern kommen auch Diebe und Betrüger auf die Insel. Seine Schusswaffe musste er aber noch nie benutzen.
Als Frau im Shanty-Chor
Mit den Ostfriesen kam Althainz von Anfang an gut zurecht. „Die Insulaner sind relativ weltoffen. Alle sprechen hochdeutsch, weil sie vom Tourismus leben“, sagt sie. Von Anfang an wurde sie akzeptiert. Den Baltrumern blieb wohl auch nichts anderes übrig, denn sie waren froh, eine Ärztin zu haben. Aber auch für den Shanty-Chor kam die Allgemeinmedizinerin wie gerufen, denn händerringend wurde ein Akkordeonspieler gesucht. „Ich war so leichtsinnig zu erzählen, dass ich Akkordeon spiele“, berichtet Althainz. Da gab es kein Zurück mehr.
Das Leben auf der Insel müsse man schon mögen, findet Althainz. Ihr Vorgänger hielt es nur einige Jahre auf der Insel aus. „Privatleben gibt es nicht“, gibt sie zu bedenken. Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass man als Ärztin eine öffentliche Person sei. Das Leben auf Baltrum ist zudem nicht nur ländlich, sondern auch abgeschieden. Die Fahrt von der Insel ans Festland ist abhängig von Ebbe und Flut sowie dem Wetter. Deshalb hatte sie sich zunächst eine Frist von fünf Jahren gesetzt, als sie auf die Insel kam. Sie wollte sehen, ob ihr das Leben an der Nordsee auch dauerhaft gefällt. Geblieben ist sie bis heute. Die Kinder (28 und 24 Jahre) sind mittlerweile groß und studieren auf dem Festland, kommen aber oft. „Die sind auch inselsüchtig“, berichtet Althainz. Baltrum ist und bleibt für die Ärztin „der schönste Sandhaufen der Welt“.
Dr. med. Birgit Hibbeler
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