THEMEN DER ZEIT
Traumatisierungen in Ostdeutschland: Die Zersetzung der Seele


Kurz nach dem Fall der Mauer: DDR-Grenzsoldaten „bewachen“ noch den Staat. Foto: Caro
Ziel: Kontrolle nach innen
Die DDR war mit großen Idealen angetreten, und einiges wurde auch umgesetzt. Die guten Vorsätze wurden jedoch schon bald untergraben und missbraucht. Man traute seinen eigenen Leuten nicht. Das Ministerium für Staatssicherheit wuchs über Jahrzehnte an und hatte zum Schluss etwa 91 000 Mitarbeiter – eine gewaltige quantitative und qualitative Präsenz. Das Ziel war die absolute Kontrolle nach innen. Die sogenannte Zersetzung, in der Richtlinie Nr. 1/76 des Ministeriums für Staatssicherheit systematisch ausgearbeitet, verursachte eine spürbare Steigerung personenbezogener, nicht strafrechtlicher Repressionen. Diese Durchführungsbestimmung beinhaltete weitgehende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht.
Hier ging es um gezielte, weit gefächerte Maßnahmen zur Untergrabung des Selbstvertrauens. Die Frage stellt sich, wie wenig Selbstvertrauen die politische Führung hatte, um zu solch drastischen Maßnahmen zu greifen. Wenn Ideal und Realität zu weit auseinanderklaffen, kann es zu einer Selbstwertkrise kommen. Diese sollte nun durch Macht und Kontrollzwang gelöst werden. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Von den Maßnahmen der Zersetzung betroffen waren vor allem politisch auffällige Personen, die sich oppositionell betätigten, mit oder ohne Ausreiseantrag. Berufliche Benachteiligungen standen ganz oben auf der Liste nicht strafrechtlicher Repressionen.
In einer Studie wurde bei 60 Prozent der Betroffenen eine psychische Erkrankung diagnostiziert, insbesondere affektive Störungen, Angst- und somatoforme Störungen (8). Neben diesen Betroffenen gab es von 1945 bis 1989 etwa 300 000 politische Gefangene in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Auch hier wurde durch Expertengutachten belegt: Haft hat gesundheitliche Folgen. Bei etwa einem Drittel der Gefangenen bildeten sich Haftfolgeschäden heraus, darunter neben Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Störungen auch posttraumatische Belastungsstörungen (5). Ein psychisches Trauma zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht verarbeitet werden kann, abgespaltet werden muss und eine unsichtbare Wunde im Selbst bildet. Die Dauer und Schwere der Haft stehen im proportionalen Zusammenhang zum Umfang der psychischen Erkrankung. Ein besonderer Stellenwert kam der Untersuchungshaft mit ihren psychologischen ausgefeilten Methoden der Geständnisgewinnung zu.
Traumaforschung und Traumatherapie haben inzwischen zu verbesserten Behandlungstechniken beigetragen (2, 6). Nach einer langen Phase der Stabilisierung in einer vertrauensvollen Beziehung kommen imaginative, psychodynamische, verhaltenstherapeutische Ansätze und spezielle Traumatechniken, zum Beispiel Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), zum Einsatz. Die Aufarbeitung des für die Betroffenen emotionsbeladenen Themas muss schrittweise beginnen. Dafür braucht man zeitlichen Abstand. Weitere Untersuchungen mit fundierten Studien sind nötig, um sich ein umfassendes Bild von den gesundheitlichen Folgen und seelischen Auswirkungen der DDR-Zeit zu machen. Auch die politische Anerkennung der Opfer ist unzureichend. Das am 13. Juni im Deutschen Bundestag verabschiedete 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz (Drucksache 16/5532) stellt zwar mehr Gerechtigkeit her, kommt jedoch nicht allen Opfern politischer Verfolgung zugute.
Dr. med. Karl-Heinz Bomberg
1.
Bode S: Die vergessene Gerneration. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. 6. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2005.
2.
Bohleber W: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta 2000; Psyche 9/10: 797–839.
3.
Bomberg K-H: Sing mein neualtes Lied. Zwischentexte. Berlin: Frieling 1996.
4.
Bomberg K-H: Hilfe für vergessene Häftlinge.In: Publik-Forum Oberursel 2004; Heft 17: 24.
5.
Freyberger H, Frommer J, Maercker A, Steil R: Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR. Expertengutachten. Hrsg.: Konferenz der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 2003.
6.
Reddemann L: Trauer und Neuorientierung. Es ist, was es ist. In: Sachse (Hrsg.): Traumazentrierte Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer 2004; 8–76.
7.
Seidler C, Froese MJ: Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland. Gießen: Psychosozial Verlag 2006.
8.
Spitzer C, Ulrich I, Plock K, Mothes J, Drescher A, Gürtler L, Freyberger HJ, Barnow S: Beobachtet, verfolgt, zersetzt – psychische Erkrankungen bei Betroffenen nichtstrafrechtlicher Repression in der ehemaligen DDR. Psychiat Prax 2006; 33: 1–6.