

Rund eine halbe Millionen Schüler in Deutschland schwänzen regelmäßig den Unterricht. Daraus ergeben sich nicht nur rechtliche Folgen, sondern auch Fragen nach Ursachen und Interventionen. Schulverweigerung ist der Definition nach eine vom Kind ausgehende Weigerung, die Schule zu besuchen, oder sein Unvermögen, den Schulalltag durchzustehen. Manche Kinder gehen überhaupt nicht mehr zur Schule, kommen ständig zu spät oder gehen morgens zur Schule und verlassen den Unterricht frühzeitig wieder. Schon daran wird deutlich, dass Schulverweigerung ein heterogenes Phänomen ist. In der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik hat sich daher ein differenziertes Diagnoseverständnis unter drei Begriffen etabliert: Schulschwänzen, Schulangst und Schulphobie. Hinter den drei Begriffen stehen sehr unterschiedliche Begründungsmodelle für das Phänomen Schulverweigerung.
Schulschwänzen
Das Schulschwänzen betrifft drei bis acht Prozent aller Kinder, wobei Jungen doppelt so häufig schwänzen wie Mädchen. Es handelt sich um eine Störung des Sozialverhaltens. Körperliche Symptome treten nur selten auf. Stattdessen stehen aggressive und dissoziale Verhaltensauffälligkeiten und Regelverletzungen im Vordergrund. Oft findet man auch familiäre und psychosoziale Belastungen sowie psychische Störungen, beispielsweise Depressionen. Schulschwänzer entstammen häufig Familien aus schwierigem Milieu, das heißt aus Familien, die von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe betroffen oder nicht intakt sind. Sie haben keine Angst vor der Schulsituation oder vor emotionalen Belastungen. Schule ist für sie eher lästig und langweilig. Ihre Eltern wissen in der Regel nicht, dass sie von der Schule fernbleiben. Im Hinblick auf eine Behandlung ist zu berücksichtigen, dass ihnen Einsicht und Leidensdruck fehlen und dass sie für das Schwänzen oft hohe Anerkennung durch Gleichaltrige erfahren. Für diese Gruppe sind Maßnahmen der Jugendhilfe und niederschwellige Projekte im teil- oder vollstationären Setting, die rasche Erfolge erbringen, vorrangig. „Die therapeutischen Strategien müssen zweierlei berücksichtigen: Zum einen geht es um die Einhaltung fester Regeln, deren Überwachung und Kontrolle, zum anderen sind motivationsfördernde Angebote wichtig, um die Jugendlichen zur Mitarbeit zu gewinnen und sie persönlich einzubeziehen“, meint Wolfgang Oelsner, Rektor der Schule der Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln. Modelllernen und das Vermitteln von Problemlösestrategien besitzen dabei eine besondere Bedeutung.
Schulangst
Bei der Schulangst handelt es sich um Angst vor der Schule, vor allem im Leistungsbereich und im sozialen Bereich. Im Leistungsbereich bezieht sich die Angst auf Leistungsanforderungen, die nicht selten von Ansprüchen oder Überbehütung seitens der Eltern verstärkt wird. Im sozialen Bereich besteht die Angst vor Mitschülern und Lehrern. Auslöser für die Angst können Hänseleien, Mobbing sowie verbale und körperliche Gewalt unter Schülern oder Konflikte mit Lehrern sein. Es kommen aber auch allgemeine Überforderung durch Intelligenzminderung oder Teilleistungsstörungen, körperliche Stigmata oder Behinderungen oder eine soziale Überforderung bei Hochbegabung infrage. Damit verbunden sind Gefühle der Demütigung und Bloßstellung sowie starke Selbstunsicherheit und soziale Ängste. Meistens zeigen die Kinder weitere psychische Störungen wie depressive oder Angststörungen. Somatische Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen sind häufig. Bei der Behandlung der Schulangst ist eine genaue Ursachenanalyse und die Kooperation von Eltern, Lehrern, Schulpsychologen und gegebenenfalls auch Jugendamt, Jugendhilfe, Familientherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten vonnöten. Schulangst im Leistungsbereich kann dadurch behoben werden, dass Kinder in eine andere Schulart wechseln, Nachhilfe nehmen oder Eltern ihre Ansprüche reduzieren. Bei Schulangst im sozialen Bereich sind Konfrontationen und Gespräche mit Mitschülern und Lehrern und die Klärung von Mobbing und Gewalt hilfreich. Zusätzlich können Techniken aus der Verhaltenstherapie den Angstabbau unterstützen. Dabei wird eine graduelle Rückkehr in die Schule angestrebt, die durch Techniken des klassischen und operanten Konditionierens und durch systematische Desensibilisierung gefördert wird. Diese kann beispielsweise darin bestehen, dass ein Kind bei kontingentem Schulbesuch mit Comicbüchern und Tokens belohnt wird, die später gegen ein Wunschgeschenk eingetauscht werden können. Darüber hinaus haben sich Entspannungsverfahren, Kompetenztrainings und kognitive Restrukturierung bewährt, um die Kinder darin zu bestärken, mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden. Zur Behandlung von Schulangst eignen sich unter anderem die Module „Leistungsängste“ und „soziale Ängste“ aus dem Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ). Mit den Therapieprogrammen SELBST (Therapieprogramm für Jugendliche mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen) und THOP (Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischen und oppositionellen Verhaltensproblemen) lassen sich ebenfalls Probleme im sozialen Bereich bearbeiten. Letztes bietet sich auch für die Behandlung oppositioneller und dissozialer Verhaltensauffälligkeiten bei Schulschwänzern an. Die Eltern, gegebenenfalls auch Lehrer und Mitschüler, sollten in die Behandlung einbezogen werden.
Schulphobie
Die Schulphobie ist eine emotionale Störung, die mit einer ausgeprägten Trennungsangst einhergeht. Die Trennungsangst ist nicht primär auf die Schule bezogen, sondern zeigt sich auch in anderen Situationen. Die Kinder machen sich große Sorge, dass ihren Eltern etwas passieren könnte, solange sie von ihnen getrennt sind. Häufig werden vor dem Schulbesuch diverse körperliche Beschwerden beklagt, die aber ohne organische Ursache sind. Ursächlich sind oft eine enge Eltern-Kind-Beziehung und unterschiedliche Belastungen, wie chronische, psychische oder somatische Erkrankungen der Eltern. Ohne Intervention neigt die Trennungsangst zur Chronifizierung, sodass manche Kinder über Wochen oder Monate mit Wissen der Eltern von der Schule fernbleiben.
Die Behandlung der Schulphobie erfordert familienzentrierte Interventionen, sie kann sich aber auch im Rahmen einer analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie vorrangig mit der Bearbeitung und Durcharbeitung von neurotischen Konflikten befassen oder im Sinne der Verhaltenstherapie eine Konfrontation mit der gefürchteten Situation in den Vordergrund stellen. Ziel des therapeutischen Bemühens ist eine Lockerung der Eltern-Kind-Beziehung und eine Verselbstständigung des Kindes. Dazu muss eine hinreichende Kooperationsbereitschaft der Eltern bei der Einhaltung therapeutischer Absprachen erreicht und die Einbeziehung der Schule angestrebt werden.
Pharmakotherapie kann ergänzend oder vorübergehend eingesetzt werden, falls die beschriebenen Behandlungsschritte nicht hinreichend erfolgreich sind; meist werden selektive Serontoninwiederaufnahme-Hemmer oder trizyklische Antidepressiva angewandt. Allerdings ist zu bedenken, dass Psychopharmaka nur die Symptome, nicht aber die Ursachen beseitigen, und daher möglichst zu vermeiden sind.
Schulverweigerung ist keine „Jugendsünde“, sondern hat weitreichende Folgen für das spätere Leben. So zeigen Katamnesen und Langzeitstudien, dass drei Viertel der ehemalig schulverweigernden Kinder später psychische oder psychiatrische Störungen aufweisen und deutliche Tendenzen zu Somatisierungsstörungen zeigen. Zudem leiden sie oft unter mangelnder Autonomie und Selbstunsicherheit und haben Schwierigkeiten, sich sozial zu integrieren. „Obwohl die Schulbildung als überdurchschnittlich gut bezeichnet werden kann, fiel den meisten jungen Erwachsenen die soziale Eingliederung und die Ablösung von den Eltern schwer“, berichten Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl und Dr. med. Henning Flechtner von der Universität zu Köln und Prof. Dr. Ulrike Lehmkuhl von der Humboldt-Universität zu Berlin über die Ergebnisse einer eigenen Katamnese mit 24 jungen Erwachsenen, die im Kindes- und Jugendalter Schulverweigerer waren. Zudem wird auch die berufliche Laufbahn durch Schulverweigerung beeinträchtigt, denn viele Schulverweigerer erreichen keine oder nur niedrigere Abschlüsse und haben auch am Ausbildungs- und Arbeitsplatz häufig soziale Schwierigkeiten.
Nach Lehmkuhl und Flechtner ist nicht davon auszugehen, dass es zu einer raschen Rückbildung der Symptomatik kommt, auch wenn eine fachgerechte Behandlung erfolgt. Je älter die Patienten bei Behandlungsbeginn sind, umso häufiger kommt es zu Therapieabbrüchen und einem weiteren schlechten Verlauf. Eine günstige Prognose haben hingegen jüngere Kinder und Jugendliche, die rasch einer Behandlung zugeführt werden.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Kontakt:
Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln, Robert-Koch-Straße 10, 50931 Köln
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