

Dass die Arbeitszeiten der Ärztinnen und Ärzte in den deutschen Krankenhäusern zum Teil unverantwortlich lang sind – wie Judith Rosta es nun erstmals in einer groß angelegten bundesweiten Erhebung nachgewiesen hat –, ist keine Überraschung. Nach Rostas Daten verbringen vor allem junge Ärzte viel Zeit in der Klinik: um zu helfen, weil sie möglichst viel lernen wollen, aus Faszination an der Medizin und um bei ihren Vorgesetzten nicht in Ungnade zu fallen. Doch die Zeiten ändern sich.
Bis vor wenigen Jahren konnte der Ärztenachwuchs noch davon ausgehen, später für seine außerordentliche Einsatzbereitschaft während der Weiterbildung zum Facharzt entschädigt zu werden. Es lockte eine gut bezahlte Karriere im Krankenhaus oder eine lukrative Tätigkeit als niedergelassener Arzt. Mittlerweile sind die Aussichten weniger rosig. Insbesondere für Fachärzte ist eine Niederlassung wegen der strengen Bedarfsplanung heute kaum noch möglich. Durch die strikte Honorarbudgetierung ist die „eigene Praxis“ zudem deutlich unattraktiver als früher. Für immer mehr Ärzte ist das Krankenhaus zum Lebensarbeitsplatz geworden – und nicht alle von ihnen können in leitende Positionen aufrücken.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewünscht
Vor allem wegen der schlechteren Perspektiven hinterfragen immer mehr Ärzte die Arbeitszeiten in den Kliniken. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass der Anteil der Ärztinnen zunimmt: von 33,6 Prozent im Jahr 1991 auf 42 Prozent Ende des Jahres 2006. Der Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Arztberuf gewinnt an Bedeutung.
Und es tut sich etwas: Als Meilenstein auf dem Weg zu familienfreundlicheren Arbeitszeiten in den Kliniken erweist sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 3. Oktober 2000. Zunächst bezogen auf spanisches Recht stellten die Richter klar, dass die Bereitschaftsdienste in den Krankenhäusern zu 100 Prozent als Arbeitszeit zu werten sind. Am 9. September 2003 bestätigte der EuGH das Urteil für Deutschland: Bereitschaftsdienst sei Arbeitszeit – auch wenn der Arzt sich in den Stunden, in denen seine Arbeitszeit nicht beansprucht werde, an der Arbeitsstelle ausruhen dürfe. Seit Beginn dieses Jahres ist das entsprechend novellierte deutsche Arbeitszeitgesetz ausnahmslos in Kraft, und die Dienste müssen voll auf die Höchstarbeitszeiten angerechnet werden. Dies hat zur Folge, dass weniger Dienste geleistet werden dürfen.
Nach dem Arbeitszeitgesetz darf die werktägliche Arbeitszeit 8 Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu 10 Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von 6 Monaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Die Tarifpartner können jedoch Abweichendes vereinbaren. Letzteres ist in den Verhandlungen zwischen dem Marburger Bund und öffentlichen Klinikarbeitgebern geschehen. Für die kommunalen Krankenhäuser wurde etwa vereinbart, dass kombiniert mit Bereitschaftsdiensten in niedrigen Belastungsstufen die tägliche Arbeitszeit über 8 Stunden hinaus auf bis zu 24 Stunden verlängert werden darf. In der Bereitschaftsdienststufe mit der höchsten Belastung beträgt die zulässige Gesamtzeit 18 Stunden. Die wöchentliche Arbeitszeit kann in Verbindung mit Bereitschaftsdienst in allen Stufen sogar bis zu 58 Stunden im Jahresschnitt betragen, wenn die Ärztin/der Arzt dem zustimmt.
Rostas Untersuchung zufolge arbeiteten unmittelbar vor Inkrafttreten des novellierten Arbeitszeitgesetzes mehr als die Hälfte der Klinikärzte in Deutschland täglich mindestens 10 Stunden. Mehr als ein Drittel der Ärzte
leisteten mehr als 6 Bereitschaftsdienste im Monat. Die Chirurgen arbeiteten am längsten, dicht gefolgt von den Ärzten in anderen operativen Fächern, wie Gynäkologie/Geburtshilfe oder Urologie. Auch wenn das neue Gesetz sicher nicht in allen Kliniken 1 : 1 umgesetzt wird, so ist doch davon auszugehen, dass die Zahl der geleisteten Dienste seit Beginn des Jahres rückläufig ist. Folglich müssten auch die Arbeitszeiten abnehmen. Doch nicht alle Ärzte begrüßen diese Entwicklung. Denn mit der sinkenden Zahl der Bereitschaftsdienste verringert sich auch das Einkommen. Die arztspezifischen Tarifverträge, die der Marburger Bund inzwischen mit sehr vielen Krankenhausträgern abgeschlossen hat, sehen zwar ein höheres Grundeinkommen für die Ärzte vor, können diesen Effekt allerdings nicht bei allen Ärzten kompensieren.
Mit der Knappheit steigt der Preis
Die Grundeinkommen der Ärzte könnten jedoch mit der nächsten Tarifverhandlungsrunde noch einmal steigen. Dafür spricht, dass die Nachfrage nach guten Ärzten derzeit größer ist als je zuvor. Auch dies ist eine Folge des EuGH-Urteils: Durch die kürzeren Arbeitszeiten werden mehr Ärzte benötigt, um die anfallende Arbeit zu leisten. Gleichzeitig stehen nicht genügend Ärzte zur Verfügung, weil zu viele wegen der schlechten Arbeitsbedingungen ins Ausland oder in andere Berufe geflüchtet sind. Im Ergebnis herrscht Ärztemangel. Und mit der Knappheit steigt der Preis, lehrt die Ökonomie.
Times are changing
Jens Flintrop
Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik
E-Mail: flintrop@aerzteblatt.de
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