Die ersten beiden Blätter „Ort“ und „Handlung“ sind in der Schilderung realer Gegebenheiten verblieben, auch wenn diese inhaltlich und formal bereits symbolisch aufgeladen waren. Offensichtlich hat der Künstler den Handschuh der jungen Dame, die ihn so absichtsvoll verlor, nicht zurückgebracht. Nun aber bricht eine ganz andere Realität in die Bildserie hinein, indem der Künstler die Wand eines ganzen Zimmers verschwinden lässt. Man sieht in eine Traumlandschaft mit einem blühenden Strauch, einem See und einem bewaldeten Berg. Der Strauch mit seinen fünf zarten Zweigen erinnert an eine Hand, die aus dem Handschuh emporwächst, der vor dem Protagonisten auf der Bettdecke liegt: Die „Wünsche“ produzieren die schönsten Blütenträume – aber die Silhouette einer Frau ist nur ganz klein am Rand des Sees zu erkennen.

Links: „Wünsche“ (1881), Opus VI, Blatt 3 (Singer 115), Radierung und Aquatinta,
31,6 × 13,8 cm. Rechts: „Rettung“ (1881), Opus VI, Blatt 4 (Singer 116),
Radierung. 23,6 × 18,1 cm, Druck der 4. Auflage von 1898. Fotos: Eberhard Hahne
Bei dem nächsten Blatt, der „Rettung“, geht es wieder um das Thema Ambivalenz: Von der weiten Traumlandschaft geraten wir in eine stürmische See. Hoher Wellengang ist eine traditionelle Metapher für das auf- und abwogende Schicksalsmeer, dem das Schifflein des Lebens ausgeliefert ist. Auch hier fällt die Lichtregie ins Auge, denn im Meeresdunkel schwimmt ein strahlend hell angeleuchtetes Boot. Weiß ist auch die Farbe des Handschuhs und die Farbe, in welche Fräulein T. so auffällig gekleidet war. In der Gleichzeitigkeit traumhaften Geschehens fischt der Protagonist nach dem Handschuh als einem sexuellen Symbol und steckt gleichzeitig bereits mit seinem Unterkörper in einem anderen Symbol, dem „Schiffskörper“: Schiff und Segel überkreuzen sich, so als ob die Pendelbewegungen von Blatt 2 hier zu einer Einheit zusammenfinden. Gleichzeitig wirkt das wild aufgewühlte Meer wie ein Vorläufer des Rorschach-Tests: Unsere Fantasie kann fast alles darin finden – keineswegs nur den Handschuh. Hartmut Kraft
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