ArchivDeutsches Ärzteblatt37/2007Hausarztverträge: Von Meilensteinen und Lieschen-Müller-Medizin

POLITIK

Hausarztverträge: Von Meilensteinen und Lieschen-Müller-Medizin

Rieser, Sabine; Rabbata, Samir

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Foto: Fotolia/VisualField
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Am Barmer-Vertrag lobten manche anfangs den zukunftsweisenden Charakter. Andere kritisierten ihn als Mogelpackung. Heute gibt es mehr Verträge – und unterschiedliche Erfahrungen bei den Ärzten vor Ort.

Dr. med. Kathrin Kytzia-Kubesch (44) kann sich noch gut an den Umzug innerhalb ihres Ortes vor rund zehn Jahren erinnern – und an die Sache mit dem Praxisschild. Mit ihrem Mann, Dr. med. Alexander Kubesch, wie sie Allgemeinmediziner, ließ sie gut sichtbar „Hausärzte“ auf das Schild für die gemeinsame größere Praxis im hessischen Schlüchtern drucken. „Damals wurden wir für diesen Hinweis von vielen Kollegen belächelt“, erinnert sich Kytzia-Kubesch. „Aber die Zeiten haben sich geändert. Die hausärztliche Betreuung hat mittlerweile ganz hohe Akzeptanz.“
Die Weihnachtsüberraschung 2004: der Barmer-Vertrag
Im Sommer 2006 erklärten 93 Prozent der Befragten im Rahmen einer Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sie hätten einen Hausarzt als erste Anlaufstation bei Krankheit oder medizinischen Fragen. Mag sein, dass sie in den Jahren zuvor nicht anders geantwortet hätten. Doch neu ist, welche Form der hausärztlichen Versorgung die Gesundheitspolitiker der Großen Koalition mittlerweile forcieren: Hausarztverträge mit klaren Vorgaben nämlich. Darin werden Rechte, Pflichten und finanzielle Vorteile von Ärzten, Patienten und Krankenkassen detailliert festgelegt.
Der erste und bislang einzige bundesweit gültige Hausarztvertrag wurde kurz vor Weihnachten 2004 geschlossen, und zwar zwischen der Barmer Ersatzkasse, dem Deutschen Apothekerverband und dem Deutschen Hausärzteverband (BDA). Dessen damaliger Vorsitzender, Ulrich Weigeldt, nannte ihn „einen Meilenstein“. Ulla Schmidt war „froh, dass die gesetzliche Krankenversicherung endlich auf dem Weg ist, zukunftsfähige Strukturen aufzubauen“. Heute sind rund zwei Millionen Barmer-Versicherte, 38 000 Hausärzte und 19 000 Apotheker eingeschrieben. Damit beteiligen sich mehr als zwei Drittel aller Hausärzte und rund ein Viertel aller Barmer-Versicherten (Kasten „Rechte und Pflichten“). Mittlerweile wurden bundesweit mehr als 40 Hausarztverträge aufgelegt. Hinzu kommen reine Integrationsverträge, die aber eine Lotsenfunktion des Hausarztes beinhalten (Kasten „Große Vielfalt an Verträgen“).
Eine breite Diskussion darüber, was die Hausarztverträge bewirkt haben, findet jedoch nicht statt. „Von der Umsetzung der Verträge hören Sie nichts, weil es perfekt läuft“, behauptet Eberhard Mehl, BDA-Hauptgeschäftsführer. Das Akkreditierungs- und Abrechnungssystem der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft (HÄVG), mithilfe derer der BDA seine Verträge abwickelt, sei mittlerweile perfekt. Dass die Evaluation für den Barmer-Hausarztvertrag gerade erst ausgeschrieben wurde, liegt nach seinen Worten an den permanenten Veränderungen im Gesundheitswesen: „Seitdem der Vertrag läuft, haben sich die Rahmenbedingungen stark verändert, beispielsweise im Bereich der Arzneimittel. Das macht es schwer, ein sauberes Evaluationskonzept zu entwickeln.“
Lediglich einzelne Versichertenbefragungen gibt es (Kasten „Zufrieden – mit und ohne). So scheinen die Barmer-Versicherten mit dem Hausarztvertrag zufrieden zu sein. Nach einer internen Befragung fühlten sich 99 Prozent gut betreut, berichtet die stellvertretende Vorstandsvorsitzende, Birgit Fischer. Die große Mehrheit der Versicherten hätte zudem angegeben, dass sie der Hausarzt aktiv in die Therapie einbinde. Zudem fungiere er als Präventionsmanager: „Gemeinsam mit dem Patienten arbeitet er ein Präventionsprogramm aus, das individuell auf die Gesundheitsbedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten ist. Auch dies nehmen die Versicherten gerne an“, so Fischer. Viel mehr ist nicht zu erfahren.
Dabei zeigte sich gerade beim Abschluss des Barmer-Vertrags, dass mit einer strukturierten hausärztlichen Versorgung große Erwartungen verbunden sind. So schrieben Barmer und Hausärzteverband damals: „Versicherte wählen freiwillig einen Hausarzt und eine Hausapotheke, die sie von nun an immer als erstes ansteuern. Das Ziel: Mehr Qualität in der ärztlichen Behandlung, mehr Arzneimittelsicherheit sowie eine finanzielle Entlastung der Versicherten.“
Fragt man Hausärztinnen und Hausärzte vor Ort nach ihren Erfahrungen, bekommt man unterschiedliche Antworten, was gut und was schlecht ist an Hausarztverträgen. Schon der Einstieg verlief unterschiedlich. „Wir sind sofort gestartet, als der erste hessische Vertrag draußen war“, sagt Kytzia-Kubesch. „Für unsere Arzthelferinnen war es am Anfang aber eine Umstellung, weil zahlreiche Formulare in den PC eingelesen und bearbeitet werden mussten und man ständig dasselbe bei der Patientenanmeldung zu erklären hatte.“
In Hessen wurden rasch zwei Hausarztverträge hintereinander angeboten: Parallel zum Barmer-Vertrag ohne die KV schlossen acht Ersatzkassen mit der KV einen Vertrag nach § 73 b. Abweichungen in den Vertragsdetails erschwerten die Abwicklung, findet Monika Buchalik (51), die im hessischen Maintal als Hausärztin niedergelassen ist. So sind die Patienten in unterschiedlichem Umfang von der Praxisgebühr befreit. Auch die Boni differieren.
Gezögert einzusteigen, haben weder Kytzia-Kubesch noch Buchalik. Es gebe eine hohe Akzeptanz bei ihren Patienten für die hausarztzentrierte Versorgung, sagt Kytzia-Kubesch. Buchalik bestätigt das: „Die AOK kommt in Hessen mit den Hausarztverträgen nicht in die Gänge. Deren Versicherte sind zum Teil schon sauer, und einige haben bereits die Krankenkasse gewechselt.“ Beide Hausärztinnen begrüßten die zwei Hausarztverträge voll und ganz, „weniger aus finanziellen Gründen als aus der Überzeugung, wirklich gern Hausärztin zu sein“, sagt Kytzia-Kubesch. „Die Arzt-Patient-Beziehung wird dadurch verbessert“, findet Buchalik. „Sich zu einem Hausarzt zu bekennen, das ist die Idee.“
„Ein gewisser Zwang
war schon da“
Ganz anders beurteilt die Verträge Dr. med. Marie-Louise Fasshauer (63), die seit rund 20 Jahren in Wuppertal niedergelassen ist. Sie habe den Barmer-Vertrag schnell unterschrieben, weil Versicherte drängten: „Ehe mir die Patienten weglaufen, schlucke ich diese Kröte, dachte ich.“ Der Verwaltungsaufwand halte sich mittlerweile in Grenzen, meint Fasshauer. Doch viel abgewinnen kann sie dieser Versorgungsform nicht: „Der Hausarzt ist der erste Ansprechpartner, er koordiniert die medizinische Behandlung, er bildet sich fort“, zitiert sie aus dem Informationsmaterial für die Patienten. „Als ob wir das nicht alles längst täten.“
Die Berliner Hausärztin Dr. med. Catharina Benkwitz (39) erinnert sich noch gut daran, welche „Flut an Informationen“ sie Anfang 2005 abarbeitete. „Damals startete ja nicht nur der Barmer Hausarztvertrag, sondern wir mussten uns auch auf einen neuen EBM einstellen.“ Benkwitz zögerte zuerst, „weil es nach enormem bürokratischem Aufwand aussah“. Aber als immer mehr Patienten danach fragten, entschied sie sich dafür: „Ein gewisser Zwang war schon da.“
Sofort gestartet: Dr. med. Kathrin Kytzia- Kubesch und ihre Praxismitarbeiterin Christina Hein mit ihren Patienten Margarete und Ottomar Dorn, die sich beide im Barmer-Hausarztvertrag eingeschrieben haben.
Sofort gestartet: Dr. med. Kathrin Kytzia- Kubesch und ihre Praxismitarbeiterin Christina Hein mit ihren Patienten Margarete und Ottomar Dorn, die sich beide im Barmer-Hausarztvertrag eingeschrieben haben.
Es gibt allerdings auch Ärzte, die gar nicht mitmachen, so wie Dr. med. Hanns Dubischar aus Ravensburg (58): „Für mich kommt eine Teilnahme auch deshalb nicht infrage, weil man dafür eine entsprechende EDV-Ausstattung braucht. Ich habe nicht einmal einen Computer.“ Das akzeptierten so ohne Weiteres nicht alle Patienten, sagt Dubischar: „Man muss als Hausarzt schon erklären, warum man nicht in einem Hausarztmodell ist. Das Ganze ist wie ein Pokerspiel: Gewinnt die gute Arzt-Patient-Beziehung? Oder der Anreiz bei den Patienten, zehn Euro zu sparen?“ Viele langjährige Patienten, sagt Dubischar, seien allerdings geblieben, gegangen sei nur einer.
Es kann allerdings auch anders kommen. Manche Patienten steigen aus oder wollen wegen der Vorgaben nicht in den Hausarztvertrag hinein. Benkwitz hat erlebt, dass ein Ehepaar aus dem Barmer-Hausarztvertrag ausgestiegen ist. Der Grund: Ein Orthopäde hatte ihrem Patienten zur Operation in einer bestimmten Klinik geraten, die Barmer beharrte auf einer anderen.
„Die Bindung an eine Hausapotheke ist das größte Hindernis für eine Einschreibung“, hat Kytzia-Kubesch festgestellt. „Die meisten Patienten wollen sich nicht festlegen.“ Ein großer Erfolg ist die Einbindung der Apotheker sowieso nicht, obwohl sie das einzige Argument für einen Integrationsvertrag ist. Die befragten Ärzte und Ärztinnen können allesamt nicht feststellen, dass sie besser über die Medikation von Patienten informiert werden als früher.
„Wir sind noch nicht zufrieden“, sagt auch BDA-Hauptgeschäftsführer Mehl. Es gebe zu viele Kann-Formulierungen im Vertrag, und es fehle an EDV-technischer Unterstützung, um Hausärzte und Hausapotheker regelhafter zu koordinieren. Fasshauer hat es überdies mehrfach erlebt, dass Patienten sich nicht daran halten, nur ihre Hausapotheke aufzusuchen: „Das wird auch gar nicht sanktioniert.“
Viele Kritiker der Programme fürchteten anfangs, dass die teilnehmenden Ärzte zulasten ihrer Patienten nur noch wenig verordnen würden. Die befragten Hausärzte winken jedoch ab. „Eingeschränkt ist man sowieso, daran ändert der Barmer-Vertrag nichts“, sagt Fasshauer. „Wir sind nicht sparsam mit Wirkstoffen, sondern nur mit Originalpräparaten“, betont Kytzia-Kubesch. Buchalik ergänzt, dass sie manchmal anders oder mehr verschreibe, aber wirtschaftlicher, seit sie sich in den Qualitätszirkeln selbstkritisch mit ihrem Verordnungsverhalten auseinandersetze.
Höhere Arzneimittelausgaben anstelle von Einsparungen
Mehl wiederum stellt klar, dass sich die Hoffnungen der Krankenkassen auf 15- oder 20-prozentige Einsparungen im Arzneimittelbereich nicht erfüllt hätten. Vor allem 45- bis 70-Jährige schrieben sich ein, sagt er. Gerade bei den jüngeren Patienten diagnostizieren Hausärzte dann bislang unentdeckte Erkrankungen, beispielsweise Bluthochdruck, Asthma, Allergien. „Sehr konsequent“ werden nach seinen Worten im Rahmen der Hausarztprogramme auch chronisch Kranke eingestellt.
Nur: „Das hat auch gewisse Probleme bei den Arzneimitteln bereitet. Im ersten Jahr waren höhere Verordnungen im generischen Bereich zu verzeichnen als bei Patienten, die nicht im Barmer-Vertrag eingeschrieben sind.“ Für Mehl ist das allerdings ein Beweis dafür, dass die Versorgung in Hausarztprogrammen qualitativ hochwertig ist: „Die Ärzte haben zwar preiswert verordnet, aber mehr.“
„Sich zu einem Hausarzt zu bekennen, das ist die Idee“. Monika Buchalik hat gute Erfahrungen mit den Verträgen gemacht. Fotos: Kay-Uwe Ripke
„Sich zu einem Hausarzt zu bekennen, das ist die Idee“. Monika Buchalik hat gute Erfahrungen mit den Verträgen gemacht. Fotos: Kay-Uwe Ripke
Darüber hinaus, betont Mehl, sei das Preisniveau auf dem Generikamarkt heute schon so niedrig, dass man über Hausarztverträge in diesem Bereich keine großen Einsparungen mehr erzielen könne. Das hält weder seinen Verband noch Krankenkassen davon ab, dem ein oder anderen Arzt Druck zu machen. So heißt es in einem Brief, den Repräsentanten von Barmer und BDA gemeinsam unterzeichnet haben: „Sie haben sich verpflichtet, durch wirtschaftliches Arzneiverordnungsverhalten an der Refinanzierung des Vertrags mitzuwirken. Leider zeigen die Verordnungsdaten eine solche Entwicklung noch nicht in gewünschtem Umfang . . . In der Anlage finden Sie zwei wirkstoffbezogene Aufstellungen zu Ihrer Information. Darüber hinaus erhalten Sie über die Barmer ein praxisbezogenes Arzneiverordnungsprofil, in dem . . . gezielte Einsparmöglichkeiten ausgewiesen werden.“
Sehr genau verfolgt die Barmer zudem, in welchem Umfang Hausärzte Patienten in Chronikerprogramme einschreiben. Denn für jeden eingeschriebenen Patienten erhält die Kasse eine Ausgleichszahlung aus dem Risikostrukturausgleich in Höhe von mehreren Tausend Euro. Die Quoten seien zufriedenstellend, sagt Mehl, es gebe allerdings große regionale Unterschiede. Details will er mit Rücksicht auf die Vertragspartner nicht nennen. Barmer-Vorstand Fischer nennt einen Anteil von rund 30 Prozent.
Auch da belegen Briefe an Hausärzte jedoch, dass Druck aufgebaut wird. „Bislang konnte die Barmer bei Ihnen keine aktive Teilnahme am DMP feststellen“, heißt es in einem Schreiben, das die HÄVG verschickt hat. „Wir bitten Sie deshalb so höflich wie dringend, Ihre DMP-fähigen Patienten . . . einzuschreiben. Die Barmer wird Ihnen gerne auf Nachfrage eine Liste Ihrer möglichen DMP-Teilnehmer zukommen lassen.“
Ebenso bietet die AOK für ihr DMP, den AOK-Curaplan Koronare Herzkrankheiten, Hilfe an: „Wir bieten Ihnen eine Ihrer Praxis zugeordnete Liste mit Patientennamen an, bei denen wir annehmen, dass diese von der Teilnahme am AOK-Curaplan KHK profitieren würden“, heißt es. Die AOK könne darüber hinaus zu einschreibeunwilligen Patienten direkt Kontakt aufzunehmen; der Arzt solle einfach die betreffenden Namen angeben. Zur Belohnung gibt es mehr Geld: „Bis 30. Juni erhalten Sie noch zusätzlich zehn Euro auf jede plausible Erstdokumentation.“
Vielen Ärzten geht das zu weit. Sie beschweren sich nicht offiziell, aber solche Briefe sind Thema bei Ärztestammtischen. Fasshauer zum Beispiel hält besonders die Chronikerprogramme mit ihren Normierungen für „eine Medizin, wie sie sich Lieschen Müller so vorstellt“. Benkwitz findet, dass sie ihre Patienten, die nun in ein DMP eingeschrieben sind, vorher nicht schlechter behandelt hat. Für die Chronikerprogramme erwärmen sich ihrer Erfahrung nach am ehesten die Patienten, „die sowieso ein gewisses Gesundheitsbewusstsein haben“. Die, die träge sind und nicht wirklich anders leben möchten, wollen sich auch nicht einschreiben: „Sie sind geradezu erleichtert, dass sie das nicht müssen und sich für sie nichts ändert.“
Positive Effekte für Ärzte
und Patienten
Positiver bewerten Kytzia-Kubesch und Buchalik die Chronikerprogramme – nach anfänglichem Datenchaos. Ihre Mitarbeiterinnen haben die Verwaltung nun im Griff, sodass sich die beiden Ärztinnen auf medizinische Aspekte konzentrieren können. „Es läuft mittlerweile, und man kann den Patienten DMP gut erklären“, findet Buchalik. „Ich erläutere, dass chronisch kranke Patienten eben teuer für die Kasse sind und es deshalb in Ordnung ist, wenn sie dafür aus einem Ausgleichstopf Geld bekommt.“
Kytzia-Kubesch findet: „Patienten sind im DMP auf Dauer besser versorgt, weil sie besser geführt werden. Gerade die Langzeitbetreuung von chronisch Kranken benötigt eine strukturierte Verlaufskontrolle.“
Ob die erzwungene Fortbildung im Rahmen der Hausarztverträge nutzt, wird unterschiedlich bewertet. „Zwangsfortbildung ist öde und ärgert einen“, sagt Fasshauer. „Man ist doch nicht Ärztin geworden, weil einen die Medizin nicht interessiert.“ „Das geht für mich in die normale Fortbildung ein“, sagt Benkwitz. Allenfalls schaue sie etwas gezielter, ob sie mit ihren Fortbildungsthemen auch die Pflichten nach dem Barmer Hausarztvertrag abdeckt. Bislang, berichten einige Ärzte, habe nur die KV nachgehakt, ob die vorgeschriebene Fortbildung absolviert wurde. Die Barmer ist offenbar großzügiger – notgedrungen, wie Mehl zu erkennen gibt.
Da, wo mehrere Hausarztverträge abgeschlossen wurden, erkennen die einzelnen Vertragspartner nicht ohne Weiteres gegenseitig die abgeleisteten hausärztlichen Fortbildungen an, vor allem dann nicht, wenn ein Vertrag ohne die KV und ein anderer mit ihrer Beteiligung geschlossen wurde. Offenbar wollen BDA und HÄV die Hausärzte dann aber nicht durch zu strenge Kontrollen verärgern. Hinzu kommt, dass es zwischen dem internen Erfassungssystem der HÄVG und den Fortbildungskonten von Ärzten bei ihrer jeweiligen Kammer keinen Abgleich gibt. „Wenn die Ärzte angeben, dass sie sich bei ihrer Kammer bereits fortgebildet haben, akzeptiert das die HÄVG ohne weitere Kontrollen“, sagt Mehl.
Sein Fazit ist dennoch positiv: „Mit dem Barmer-Vertrag haben wir demonstriert, dass wir flächendeckend ohne die KV Verträge perfekt abwickeln können“, sagt Mehl. „Das war eine Leistung, die man uns nicht zugetraut hat, und es ist der größte Erfolg, den wir haben.“ Ein weiterer sei die hohe Akzeptanz dieser Vertragsform in der Bevölkerung. Noch etwas freut Mehl: „Wir sind die Einzigen, die es geschafft haben, gleiche Leistungen auch gleich zu vergüten, in Bayern wie in Mecklenburg-Vorpommern.“
Nach seinen Worten profitieren die Hausärzte mittlerweile finanziell von den Hausarztverträgen. Mehl schätzt, dass eine Praxis im Durchschnitt 11 000 bis 12 000 Euro zusätzliches Honorar pro Jahr erzielen könne. Das höchste zusätzliche Honorar erwirtschaftete bislang eine Praxis mit zweieinhalb Arztstellen: 92 000 Euro. Aber die Zusatzhonorare fielen je nach Praxisausrichtung, Patientenzusammensetzung und dem Angebot an Hausarztverträgen vor Ort sehr unterschiedlich aus, schränkt er ein.
Kytzia-Kubesch findet das zusätzliche Honorar erfreulich, aber auch notwendig: „Man muss ein tolles EDV-Equipment haben und sich stets um Updates kümmern, sonst kann man die Hausarztverträge und die DMP gar nicht bewältigen.“ Ausreichend findet sie die Zusatzhonorierung noch nicht: „Das Wichtigste sind für uns gute Mitarbeiterinnen. Nur wenn sie die ganze Bürokratie im Griff haben, kann ich mich auf die medizinischen Fragen konzentrieren. Doch ihre Tarifgehälter sind angesichts dessen, was sie heute leisten und wie sie sich engagieren müssen, ein Witz.“
Sabine Rieser, Samir Rabbata


RECHTE + PFLICHTEN

2005 startete der erste und bislang einzige bundesweit geltende Hausarzt-/Hausapothekervertrag der Barmer Ersatzkasse. Der Form nach einigten sich Barmer, Deutscher Hausärzteverband und Deutscher Apothekerverband auf einen Vertrag zur integrierten Versorgung (IV) nach § 140 SGB V. Das trug ihnen sofort Kritik ein und bald darauf ein Gerichtsverfahren. Die KV Thüringen klagte, weil das Abkommen ihrer Meinung nach kein echter IV-Vertrag ist. Derzeit prüft das Bundessozialgericht den Fall.
Ärzte erhalten zusätzliches Honorar, wenn sie sich beteiligen: Pro Patient 15 Euro Einschreibepauschale und eine Betreuungspauschale von fünf Euro im ersten und 20 Euro im zweiten Jahr, außerdem für den jährlichen Präventionscheck 35 Euro. Hinzu kommen rund fünf Euro für jeden in ein DMP eingeschriebenen Patienten, sofern 40 Prozent aller infrage kommenden Barmer-Versicherten eingeschrieben werden. Weiterhin müssen sich die teilnehmenden Hausärzte verpflichten, Fax und EDV zu nutzen, Behandlungsdaten an die Kasse weiterzuleiten, kostengünstig zu verordnen, mindestens vier hausärztliche Qualitätszirkel zu besuchen, Patienten zur DMP-Einschreibung zu motivieren und sie zu einem präventiven Lebensstil anzuhalten.


Grosse Vielfalt an Verträgen

Zwar wäre es übertrieben, von einem „Boom“ der Hausarztverträge zu sprechen. Doch entwickelt sich die Einführung der neuen Versorgungsform in den letzten drei Jahren gut. Mittlerweile haben mehr als 25 Millionen Versicherte die Möglichkeit, sich an einem Hausarztprogramm zu beteiligen. Rund 5,3 Millionen Patientinnen und Patienten nehmen die neuen Angebote bereits in Anspruch. So zählte das Bundesgesundheitsministerium bis August dieses Jahres 44 Hausarztprogramme. Bis auf den Barmer-Vertrag sind alle Programme regional ausgelegt. Bei mehr als der Hälfte davon sind die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als Vertragspartner beteiligt. In Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland arbeiten die KVen mit dem Hausärzteverband beziehungsweise der hausärztlichen Vertragsgemeinschaft zusammen. Dass es mithilfe der KVen schon bald bundesweit gültige Verträge geben werde, glaubt Dr. med. Carl-Heinz Müller, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Die „Arbeitsgemeinschaft Vertragskoordination“ von KBV und Kven sei bereits in Verhandlungen mit Krankenkassen getreten.
Bislang ist die Ausgestaltung ebenso vielfältig wie deren vertragliche Grundlagen. So basieren die meisten Programme auf Verträgen nach
§ 73 b SGB V sowie auf Kombinationen aus 73-b-Kontrakten und Verträgen zur integrierten Versorgung nach § 140 SGB V. Zu den vom BMG gelisteten 44 Verträgen kommt eine Vielzahl reiner Integrationsverträge, die schwerpunktmäßig ebenfalls die Koordination des Behandlungsgeschehens durch Hausärzte zum Inhalt hat.
Die Gründe für das wachsende Interesse von Kassen, Ärzten und Versicherten an der neuen Versorgungsform sind vielfältig. Seit Einführung der Anschubfinanzierung für die integrierte Versorgung 2004 sind Hausarztprogramme auf Grundlage von Integrationsverträgen für die Leistungserbringer finanziell interessanter geworden. Auch Patienten können finanziell profitieren, weil die meisten Kassen ihren Versicherten die Teilnahme mit einer Befreiung von der ungeliebten Praxisgebühr schmackhaft machen. Die Kostenträger selbst wollen sich im härter werdenden Wettbewerb mit anderen Kassen profilieren. Zudem hoffen die Kassen auf Einspareffekte durch Wirtschaftlichkeitsvorgaben für die Hausärzte und eine stärkere Teilnahme chronisch kranker Patienten an entsprechenden Disease-Management-Programmen (DMP).
So stehen einige Hausarztprogramme – etwa in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Sachsen – ausschließlich chronisch kranken Versicherten offen. Gerade diese Patienten benötigten eine intensivere persönliche Versorgung, erläutert der Vorsitzende der KV Nordrhein, Dr. med. Leonhard Hansen, einen seit Juli 2005 laufenden Vertrag der KV mit der AOK und den Innungskrankenkassen zur hausärztlichen Versorgung von Chronikern sowie von Krebs- und Palliativpatienten. An dem Programm können sich neben Hausärzten auch Onkologen, Schmerztherapeuten und Palliativmediziner beteiligen.


ZUFRIEDEN – MIT UND OHNE

„Verkürzen Sie Ihre Wartezeiten beim Arzt! Erhalten Sie schneller einen Facharzttermin! Sparen Sie Praxisgebühr!“ Mit diesen Worten wirbt die „IKK gesund plus“ auf ihrer Homepage für ihr Hausarztprogramm in Sachsen-Anhalt. Es wird seit 1. Juli 2004 angeboten und war das erste landesweite Hausarztprogramm in Deutschland.
In Sachsen-Anhalt sind bei der IKK gesund plus derzeit 250 000 Menschen versichert, 80 000 sind im Hausarztprogramm eingeschrieben. Ende Juni präsentierte die Kasse Ergebnisse einer repräsentativen Studie zur Patientenzufriedenheit. Betrachtet man die Antworten zu Terminerhalt, Wartezeiten oder Hilfestellung bei Facharztterminen, so unterscheiden sich Antworten der Versicherten im Hausarztprogramm kaum von denen der Kontrollgruppe. Insgesamt ist die Zufriedenheit bei allen hoch.
Allerdings glauben 40 Prozent der Versicherten im Programm, dass ihr Hausarzt „sehr gut“ über ihren Gesundheitszustand informiert ist, während es in der Kontrollgruppe nur 20 Prozent sind. In beiden Gruppen halten aber rund 50 Prozent sein Wissen für „gut“, ebenso viele seinen Informationsstand über Facharztbefunde. Diesen bewerten 34 Prozent der Versicherten im Programm als „sehr gut“, während es in der Kontrollgruppe 22 Prozent sind.


KVEN UND VERBÄNDE LEGEN STREIT VORERST BEI

Der Kampf um die politische Deutungshoheit der Textpassage entbrannte, bevor der Bundestag das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) verabschiedete. Statt klar die Möglichkeiten und Grenzen der Kassenärztlichen Vereinigungen im Vertragsgeschäft um die hausarztzentrierte Versorgung zu benennen, beließ es der Gesetzgeber bei einer vagen Formulierung. So ist nach dem GKV-WSG eine Beteiligung der KVen an Hausarztprogrammen nur unter der Bedingung möglich, dass Gemeinschaften vertragsärztlicher Leistungserbringer, die an der hausärztlichen Versorgung teilnehmen, sie hierzu ermächtigen. Was genau unter solchen Gemeinschaften zu verstehen ist und wie die Mandatierung ablaufen soll, blieb offen. Die Folge war ein Streit zwischen dem Deutschen Hausärzteverband (BDA) beziehungsweise dessen Landesverbänden und den vertragsärztlichen Körperschaften darüber, wer entsprechende Verhandlungen mit den Kassen führen darf. Am lautesten krachte es in Nordrhein, wo sich die KV mithilfe einer Faxumfrage unter den Hausärzten die Ermächtigung für Vertragsverhandlungen mit den Kassen einholte. Der Hausärzteverband bezweifelte die Legitimität dieses Vorgehens.
„Wir plädieren für eine vernünftige Kooperation auf Augenhöhe“, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Eberhard Mehl. Doch müsse man den Eindruck gewinnen, dass die KVen nicht mit den Hausärzten kooperieren wollten. Zumindest haben sich die Wogen allmählich geglättet – nicht nur in Nordrhein, wo sich KV und Hausärzte zusammengerauft haben und nun gemeinsam mit den Krankenkassen über dreiseitige Hausarztverträge verhandeln. Nach einer Umfrage des Deutschen Ärzteblattes haben sich nahezu alle KVen von den Hausärzten Mandate für Vertragsverhandlungen geben lassen. So haben sich bei der KV Thüringen sowie in Schleswig-Holstein knapp 80 Prozent der Hausärzte für Vertragsverhandlungen durch die KV ausgesprochen. Während in Bayern sowohl Hausärzteverband als auch KV die Zuständigkeit für das Vertragsgeschäft für sich reklamieren, verfügt die KV Westfalen-Lippe über kein Verhandlungsmandat. Dort haben sich aber Körperschaft, Hausärzteverband und andere Berufsverbände zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen. „Dadurch wird es in Westfalen-Lippe keine Zersplitterung der Patientenversorgung durch zahlreiche unterschiedliche Hausarztverträge geben“, begründete KV-Chef Dr. med. Ulrich Thamer das Vorgehen.
Stören wird den vorläufigen Schulterschluss von KVen und Verbänden wohl auch nicht ein Gesetzentwurf, den Bayern am 21. September in den Bundesrat einbringen will. Die Initiative sieht vor, dass nur noch Hausärzte alleinige Vertragspartner der Krankenkassen sein dürfen. Der Vorstoß gilt als nicht mehrheitsfähig in der Länderkammer.


EINSPAREFFEKTE ÜBERSCHÄTZT

Prof. Dr. Jürgen Wasem. Foto: Daniel Rühmkorf
Prof. Dr. Jürgen Wasem. Foto: Daniel Rühmkorf
Der Nutzen von Hausarztprogrammen sei in Deutschland bislang nur unzureichend erforscht, sagt Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen. Internationale Studien hätten gezeigt, dass zwar Zugangskontrollen bei Krankenhauseinweisungen die Gesamtausgaben senkten, die Kontrolle des Zugangs zu den Fachärzten jedoch nur bei den ambulanten Ausgaben einen kostendämpfenden Effekt hätten, nicht bei den Gesamtausgaben. Der Anteil öffentlicher Gesundheitsausgaben und die Höhe des Bruttoinlandsprodukts wirkten eindeutiger auf das Niveau der Gesundheitsausgaben. Auch die Hypothese, dass Hausarztprogramme die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbesserten, lasse sich empirisch nicht belegen. Die Konsultationszeit in Ländern mit Hausarztmodellen sei sogar kürzer als in Ländern ohne solche Programme.
Zudem warnt Wasem davor, die Hausärzte durch die hohen Anforderungen, die die Programme an sie stellen, zu überfordern: „Uns muss klar sein, dass die Hausärzte für die komplexen Aufgaben als ,Gatekeeper‘ und ,Lotsen‘ im Gesundheitswesen überhaupt nicht ausgebildet sind.“ Primärarztsysteme wie das in den Niederlanden seien über Jahrzehnte gewachsen. „In Deutschland müssen die Ärzte erst einmal gründlich auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet werden. Das kann Jahre dauern“, so Wasem.

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