DÄ plus


Die trockenen Lippen sind aufgeplatzt. Die alte Frau atmet langsam und schwer durch den Mund. Aus dem zahnlosen Unterkiefer ragt das Kinn hervor. Seit Tagen hat die 91-Jährige nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Nicht weil sie schlecht versorgt wird, sondern weil sie nicht möchte. „Sie will nicht leben, aber kann auch nicht sterben“, sagt Marita Halfen (61), die sie seit Jahren kennt und regelmäßig besucht. Im Nachbarbett liegt eine deutlich jüngere, grauhaarige Dame mit Brille. Sie hat ein Boulevardmagazin in der Hand und schaut herüber. „Schlimm ist das“, sagt sie. Sie spricht vom Zustand ihrer Zimmergenossin. Aber jeder hätte wohl dafür Verständnis, wenn sie sich selbst meinte. Sterben im Doppelzimmer und leben mit einem Sterbenden im Doppelzimmer: Das ist Alltag in Pflegeheimen.
Marita Halfen findet es nicht akzeptabel, dass Pflegebedürftige ihre letzten Stunden mit fremden Menschen verbringen, die sie vielleicht gar nicht mögen. Aber bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit für die Bonner Initiative „Handeln statt Misshandeln“ wird sie in der Regel mit noch viel gravierenderen Problemen konfrontiert. Dann geht es um kindskopfgroße Dekubiti oder prügelnde Familienmitglieder. Manchmal rufen auch Altenpfleger an, die mit ihrer Kraft am Ende sind. Meistens aber wählen Angehörige die Nummer des Krisentelefons, die sich um den Zustand ihrer pflegebedürftigen Eltern oder Geschwister sorgen. Oft hat Halfen schon gedacht: „Wenn Kinder in einem so desolaten Zustand wären wie manche Pflegebedürftige, dann hätte man längst die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.“
Die Missstände, auf die nun der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) in seinem Pflegequalitätsbericht hingewiesen hat, sind für Halfen nicht weiter überraschend. Denn die Anrufe, die beim Bonner Krisentelefon eingehen, beziehen sich oftmals auf Mängel in genau den Bereichen, die im MDS-Bericht zur Sprache kommen: Flüssigkeitsversorgung und Ernährung, Dekubitusprophylaxe und -therapie, Inkontinenzversorgung sowie die gerontopsychiatrische Behandlung.
Schmidt: Verbesserungen durch die Pflegereform
Obwohl die MDS-Untersuchung sogar besser ausfiel als der Vorgängerbericht aus dem Jahr 2003, hatten Politik und Öffentlichkeit offenbar nicht mit einem derart schlechten Ergebnis gerechnet. Zumindest fielen die Reaktionen heftig aus. Die „Bild-Zeitung“ sprach von einer „Pflege-Schande“. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) versprach zügige Verbesserungen durch die anstehende Pflegereform. Bereits in den Eckpunkten hatte sich die Große Koalition darauf geeinigt, dass die Prüfberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) in allgemeinverständlicher Form veröffentlicht werden sollten. „Damit schaffen wir eine große Erleichterung für die Angehörigen, die sich in einer schwierigen Situtation für eine Einrichtung entscheiden müssen“, sagte Schmidt. Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf, der im Oktober vorgelegt werden soll, mehr unangemeldete Prüfungen vor. Jede Einrichtung soll mindestens alle drei Jahre kontrolliert werden.
Ohne Ankündigung, regelmäßig und von unabhängigen Prüfern – so stellt sich die stellvertretende SPD-Vorsitzende Elke Ferner wirksame Kontrollen vor. Unterstützung für ein solches Modell, das auch als „Pflege-TÜV“ bezeichnet wurde, erhielt sie unter anderem vom CDU-Pflegeexperten Willi Zylajew: „Eine Art Stiftung Warentest für Pflegeheime und ambulante Dienste ist dringend notwendig.“
„Alle werden doch
mal älter“: Irmgard
Schwittai (rechts) bei
der Demo in Essen. Foto: Birgit Hibbeler
Man könne nicht über den MDS-Bericht diskutieren, ohne über die Rahmenbedingungen der Pflege zu sprechen, findet auch Elisabeth Frischhut vom Deutschen Caritasverband. Die Frage der Finanzierung aber beurteilt sie anders: Entscheidend sei es, wie viel Geld man für die Pflege ausgeben wolle. Darüber rede aber zurzeit niemand. „Das ist der große blinde Fleck, den wir in der Debatte haben“, sagt sie. Ein Beispiel: Es gebe für die Einrichtungen keine bundesweit einheitliche und verbindliche Personalbemessung in Bezug auf den vorhandenen Pflegebedarf der Bewohner. „Gute Pflege braucht Zeit und Menschen“, betont Frischhut. Eine Diskussion darüber werde vermieden, weil sie Folgen für die Kosten hätte. Der momentane „Aufruhr“ diene dazu, von den wesentlichen Problemen abzulenken.
Während dieser Aufruhr in vollem Gang ist, haben sich wenige Tage nach Veröffentlichung des MDS-Berichts etwa 50 Demonstranten vor dem katholischen Pflegeheim Marienhaus in Essen versammelt. Die Polizei hat eine Fahrspur abgesperrt. Flugblätter werden an die vorbeifahrenden Autofahrer verteilt. „Pflege am Fließband?“ steht auf einem Transparent. Irmgard Schwittai (86) ist eine Protestlerin. Sie hat sich auf der Sitzfläche ihres Rollators niedergelassen und bläst in eine rote Trillerpfeife. „Den Krach kann ich eigentlich gar nicht mehr ab“, sagt sie und nimmt den Stöpsel aus dem linken Ohr, bevor sie auf die Frage antworten kann, warum sie dabei ist. „Es hilft ja nichts, da muss man ja mitmachen.“
Der Termin für die Demonstration wurde nicht wegen des MDS-Berichts gewählt, sondern stand schon lange fest. Mittlerweile ist es im Marienhaus Tradition, dass Bewohner, Angehörige und Mitarbeiter auf die Straße gehen. Der Protest (www.nachdenkaktion.com) richtet sich gegen die Einstufungspraxis des MDK. Für die Heime ist dies ein existenzielles Problem, denn auf Grundlage der Pflegestufen der Bewohner berechnet sich der Personalschlüssel. „Die meisten Pflegebedürftigen werden aber zu niedrig eingestuft“, sagt Georg Bonerz, Geschäftsführer der Marienhaus gGmbH – eine Kritik, die der MDK Nordrhein zurückweist.
Dass ausgerechnet der MDS Qualitätsmängel in der Pflege anprangert, kann Bonerz nicht nachvollziehen. „Das Dilemma in der Altenpflege ist zu einem großen Teil durch die Einstufungspraxis des Medizinischen Dienstes bedingt“, erklärt er. Aktuell laufen 57 Widerspruchsverfahren des Marienhauses gegen Pflegeeinstufungen der Bewohner, 34 davon sind bereits vor dem Sozialgericht anhängig. Dabei geht es um mehr als 300 000 Euro. Bisher habe das Marienhaus in so gut wie allen Fällen Recht bekommen. Von den Zahlungen, die dann manchmal erst Jahre später eintreffen, wird der hohe Personalschlüssel in der Einrichtung finanziert.
„Wir wollen die Leute wachrütteln“, sagt Schwittai. Und bläst nochmal in ihre Trillpfeife. Mehr Zeit für alte Menschen wünscht sie sich. Die Probleme von Pflegebedürftigen würden in der Gesellschaft verdrängt, findet sie. Das müsse sich ändern. „Alle werden doch mal älter.“
Dr. med. Birgit Hibbeler
Der Qualitätsbericht
Die Daten
Prüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen von 2004 bis 2006: 4 215 in Heimen, 3 736 von Pflegediensten
Die Ergebnisse
Besser als der Qualitätsbericht 2003, aber:
- Mängel bei Ernährung und Flüssigkeitszufuhr:
stationär 34 Prozent, ambulant 30 Prozent
- Defizite in Dekubitusprohylaxe/-versorgung: stationär 36 Prozent, ambulant 42 Prozent
- Gesundheitsgefährdende Pflege: zehn Prozent der Heimbewohner, sechs Prozent ambulant Versorgten
Deutsches Ärzteblatt plus
zum Thema
Meyer, Gabriele; Köpke, Sascha
Hölker, Reinhold
Randzio, Ottilie