ArchivDeutsches Ärzteblatt37/2007Refluxösophagitis: Keine Milch mehr für GERD

POLITIK: Kommentar

Refluxösophagitis: Keine Milch mehr für GERD

Brune, Kay

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Prof. Dr. med. Dr. h. c. Kay Brune
Prof. Dr. med. Dr. h. c.
Kay Brune
Manchmal „zappt“ man in eine sehr interessante Fernsehsendung. Im konkreten Fall, zum Thema „Großer Einfluss – die Pharmaindustrie in den Medien“ im NDR-Magazin „Zapp“, kamen nicht nur bekannte Journalisten zu Wort, sondern auch Fachleute, wie der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Dr. W. D. Ludwig. Alle äußerten zum Teil vernünftige, zum Teil angreifbare Meinungen. Was allerdings der „Stern“-Redakteur Markus Grill vorbrachte, bedarf eines Kommentars:
„Ich glaube“, sagte er, „dass man heute Dinge als behandlungsbedürftig bezeichnet, die man früher normal ertragen hätte: Nehmen wir das Sodbrennen. Früher hätte man ein Glas Milch getrunken. Heute wird Sodbrennen als ,gastroösophagealer Reflux‘ bezeichnet, und es gibt auch Medikamente, die das behandeln können und die zu den Top-Umsatzbringern in Deutschland gehören.“
Wie schön für Markus Grill, dass er (noch) nicht an GERD (Gastroesophageal Reflux Disease) leidet. In der Bevölkerung sieht es anders aus. Besonders Frauen zwischen 50 und 70 Jahren sind oft GERD-Geschädigte. Allerdings – und das scheint Markus Grill nicht bekannt zu sein – äußert sich diese scheinbar von der Industrie erfundene neue Krankheit oft nicht durch Sodbrennen, sondern die Patienten leiden lange verkannt unter unspezifischen Beschwerden beim Schlucken (Globusgefühl), beim Atmen (Asthma, Luftnot, Brustschmerz ), beim Singen (Heiserkeit), die erst durch Laryngoskopie (Schwellung der Stimmbänder), Gastroskopie (offene Speiseröhre) und spezifische Therapieversuche (Protonenpumpeninhibitoren, PPI) als Refluxösophagitis erkannt werden. Wer es nicht glaubt, der schaue einmal in Internet-Foren. Im eigenen Umfeld erwiesen sich jahrelange Beklemmungsgefühle mit Atemstörungen und Heiserkeit als Refluxösophagitis. Leider hilft ein Glas Milch so gut wie gar nicht. Auch die üblichen Antazida sind oft wirkungslos. Erst die Anwendung von Protonenpumpenhemmern führt zur Befreiung vom das Wohlbefinden stark einschränkenden, die Nachtruhe störenden und das Risiko des Speiseröhrenkrebs erhöhenden Reflux.
Trotzdem: Markus Grill hat auch irgendwo recht. Früher scheint die Krankheit seltener gewesen zu sein, und man muss sich fragen, ob ältere Menschen vor 20 bis 30 Jahren die genannten Beschwerden nicht hatten. Sind wir also wieder einmal Opfer unserer denaturierten Umwelt? Eine Recherche führt zu der Erkenntnis, dass GERD so neu nicht ist. So stellte Kollege Scheu noch 1975 fest:
„Die Ösophagitis mit ihren verschiedenen Ursachen scheint wesentlich häufiger zu sein, als früher angenommen wurde. Gerade bei der durch Schleimhautatrophie des oberen Ösophagusabschnitts bei Eisenmangel erzeugten sideropenischen Dysphagie (Plummer-Vinson-Syndrom), die nur bei Frauen vorkommt, wird der Zusammenhang mit dem Schluckakt relativ häufig vermisst (. . .). Eine ähnliche Symptomatologie ohne organisches Substrat (sic!) findet sich in Form des Globus hystericus bei Neurotikern.“
Er zeigt also ein gewisses Problembewusstsein und schlägt zwei Diagnosen vor: Die eine (sideropenische Dysphagie) klingt eindrucksvoll und impliziert einen naturwissenschaftlich belegbaren Mechanismus – trotzdem ist sie heute eine extreme Rarität. Die andere (Globus hystericus) wurde von der – unsere Kolleginnen würden sagen männlich dominierten – Medizin in den Bereich der nicht behandelbaren und daher auszuhaltenden, typischen weiblichen, funktionellen (neurotischen!) Störungen eingeordnet.
Auch diese Diagnose scheint nunmehr Vergangenheit. Neue Untersuchungsmethoden (wie obere Endoskopie, pH-Metrie und Manometrie) zwingen uns wieder einmal, ein lange als psychosomatisch apostrophiertes Syndrom als organische, säureassoziierte Krankheit zu akzeptieren, die nicht nur behandlungsfähig, sondern auch aus medizinischen Gründen behandlungspflichtig ist. Der Glaube, die Pharmaindustrie habe wieder einmal eine Krankheit erfunden, ist also Unfug. Es ist heute möglich, mithilfe invasiver Diagnostik und exploratorischer Pharmakotherapie die Ursachen und die Existenz der Refluxkrankheiten aufzudecken. Die Definition der Ursachen begründet die Therapie mit Protonenpumpenhemmern. Dass diese Mittel nun in großem Umfang und zu hohen Kosten konsumiert werden, ist der Industrie sicher lieb und recht, den Krankenkassen eher nicht. Die Kosten sind eben auch Ausdruck der Tatsache, dass die Menschen immer älter werden und die Refluxkrankheit eine typische Erkrankung der Älteren ist. Zahlreiche Refluxpatienten dürften in der Vergangenheit als Ulkuskranke verkannt und mit inadäquaten Mitteln (Rollkuren, Anticholinergika, verstümmelnde Operationen) zu hohen Kosten behandelt worden sein. Trotzdem möchte kaum jemand, der dank PPI wieder eine fast ungestörte Nachtruhe hat, nicht mehr heiser ist, keine Beklemmungen im Thorax spürt, auf diese Therapie verzichten und zu Milch und Antazida zurückkehren.

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