KULTUR
Harry Graf Kessler: Vom Hauptmann zum „roten Grafen“


Später vertrat er Ideen der Weimarer Republik und mutierte zum „roten Grafen“. Bereits am 9. November 1918 hatte er einen Passierschein in der Tasche, der ihm in Berlin den Weg durch Absperrungen in den nächtlichen, von Matrosen besetzten Reichstag öffnete. An seiner Seite befand sich der elsässische Schriftsteller René Schickelé, Redakteur der „Weißen Blätter“, den er in der Schweiz kennengelernt und an sich gebunden hatte. Schickelé sollte für deutsche Kriegsziele eintreten, jedoch sein Pazifismus und sehnlicher Wunsch, zwischen Deutschland und Frankreich Frieden zu stiften, wurden missachtet. Schickelé suchte Geldgeber für seine neue Wochenschrift, doch Kessler hielt ihn und seine Frau lieber frei bei Diners und Einladungen zum Frühstück in den vornehmsten Lokalen der Schweiz. Man diskutierte viel und tiefgründig. Doch Privatbriefe des Elsässers wurden von deutschen Spionen entwendet und gelesen. Bis zum bitteren Ende wurde der unglückliche Schickelé von Graf Kessler eingespannt für reichsdeutsche Interessen.
Historische Augenblicke schildert Graf Kessler kühl-überlegen. So berichtet er im Tagebuch über eine Geburtstagsfeier für den OHL-Befehlshaber Hindenburg im Zelt, bei der er neben Ludendorff Platz genommen hatte. Doch geheime Friedensverhandlungen mit den Franzosen einfädeln wollte er nicht. Graf Kessler, „der Mann mit 10 000 Bekannten“, traf sich am 9. November 1918 in Berlin mit dem in deutscher Festungshaft sitzenden polnischen General Pilsudski, den er in einen Zug nach Warschau setzte, damit er in Polen Staatschef werde. Parallelen zu Lenin 1917 sind unverkennbar. Im neuen polnischen Staat wurde Harry Graf Kessler erster deutscher Botschafter. Schriftsteller Schickelé blieb nach 1918 in Deutschland. Mit Kessler hatte er erwogen, deutsche „rote Matrosen“ ins Elsass einmarschieren zu lassen, um eine autonome Republik zu gründen. Richard E. Schneider
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937. Band 6: 1916 –1918. Hrsg. von Günther Riederer, bearbeitet von Christoph Hilse. Klett-Cotta, Stuttgart, 2006, 963 Seiten, Leinen, 58 Euro
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