ArchivDeutsches Ärzteblatt40/2007Palliativmedizin in Europa: Noch keine flächendeckende Versorgung

POLITIK

Palliativmedizin in Europa: Noch keine flächendeckende Versorgung

Spielberg, Petra

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Das palliativmedizinische Angebot lässt in den meisten Ländern noch zu wünschen übrig. Auch der Europarat sieht Verbesserungsbedarf. Foto: picture-alliance/epa
Das palliativmedizinische Angebot lässt in den meisten Ländern noch zu wünschen übrig. Auch der Europarat sieht Verbesserungsbedarf. Foto: picture-alliance/epa
Die Palliativmedizin hat sich in den einzelnen europäischen Ländern in unterschiedlichem Tempo und in unterschiedlicher Intensität entwickelt. Dennoch gewinnt das Thema auf europäischer Ebene zusehends an Bedeutung.

Es ist zwar nicht ganz das, was sich Dr. med. Peter Liese erhofft hat. Aber es ist ein Anfang. Der CDU-Politiker hat nämlich durchsetzen können, dass europäische Forscherteams, die für medizinische Projekte Gelder von der EU einwerben, künftig dabei auch palliativmedizinische Ansätze berücksichtigen müssen. Liese hätte es zwar lieber gehabt, wenn die EU eigenständigen palliativmedizinischen Projekten Mittel aus ihrem Forschungshaushalt zugestanden hätte. Dennoch ginge die Entwicklung in die richtige Richtung, meint der Europaabgeordnete. Denn in fast allen europäischen Ländern erreichen die Menschen ein immer höheres Durchschnittsalter. Auch steigt der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung fast überall schneller als der der jungen Generation. Dies führt zwangsläufig zu einem immer höheren Bedarf an palliativmedizinischer Betreuung. Doch inwieweit haben sich die Länder der Europäischen Union bereits auf diese Entwicklung eingestellt?
Aus Sicht der WHO jedenfalls lässt das palliativmedizinische Angebot in den meisten Ländern noch zu wünschen übrig. Auch der Europarat, dem mittlerweile 47 Staaten angehören, sieht noch Verbesserungsbedarf. Im November 2003 hat er deshalb Empfehlungen für eine bedarfsgerechte palliativmedizinische Versorgung verabschiedet. Eine der zentralen Forderungen lautet: Die Palliativmedizin sollte integraler Bestandteil der nationalen Gesundheitssysteme sein.
In Großbritannien beispielsweise fand die Palliativversorgung zunächst vornehmlich außerhalb des staatlichen Gesundheitssystems (National Health Service, NHS) statt. Denn die Versorgung Sterbender und Schwerkranker durch den NHS wies Ende der 60er-Jahre noch große Defizite auf. Und auch heute noch sind die meisten stationären britischen Hospize gemeinnützige Einrichtungen. Sie finanzieren sich zu etwa 70 bis 80 Prozent aus Spenden und anderen privaten Mitteln.
Ab 1969 gesellten sich zu den stationären Einrichtungen mehr und mehr häusliche Betreuungsdienste. Inzwischen haben auch Tageskliniken einen großen Stellenwert in der palliativmedizinischen Versorgung Großbritanniens. Im Jahr 2004 gab es einem Bericht des britischen Unterhauses zufolge im Vereinigten Königreich 130 gemeinnützige Hospize für Erwachsene mit 2 147 Plätzen, 27 Kinderhospize mit 201 Betten sowie 42 NHS-Palliativstationen für 490 Patienten. Die Tageseinrichtungen verfügten über 259 Plätze.
Konkrete Verbesserungen erfuhr die staatliche palliativmedizinische Versorgung vor allem nach der Wiederwahl der Labour Party im Jahr 2001. Ein Ziel der Regierung war es, die Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheits- und Sozialwesen sowie zwischen dem öffentlichen, privaten und ehrenamtlichen Sektor auszubauen. Dennoch gibt es auch heute noch Regionen in Großbritannien, in denen die palliativmedizinische Versorgung nicht ausreichend sichergestellt ist. Auch richtet sich das leitliniengestützte Angebot des NHS nach wie vor vornehmlich an Tumorpatienten. Gleichwohl genießt die Palliativmedizin im Königreich seit 1987 den Status einer eigenständigen Fachdisziplin.
Gänzlich anders verlief die Entwicklung in den Niederlanden. Bis 1995 gab es dort nur vereinzelte palliativmedizinische Initiativen. Erst danach erkannte auch die niederländische Regierung die Bedeutung der palliativmedizinischen Versorgung für eine immer älter werdende Bevölkerung. Offizielle Hochrechungen ergaben, dass der Bedarf an palliativer Betreuung in den Niederlanden zwischen 1997 und 2015 um rund 20 Prozent steigen wird.
Die notwendige Verbesserung der Versorgung geschah zeitgleich mit der Entwicklung eines Gesetzes zur aktiven Sterbehilfe, das 2002 in Kraft trat. Die Niederlande und Belgien sind die einzigen EU-Länder, die aktive Sterbehilfe unter gewissen Auflagen erlauben. Mit dem Ausbau der Palliativmedizin wollte die Regierung die Anzahl der Sterbehilfefälle in Grenzen halten. Selbst die niederländische Palliativgesellschaft kann mit der liberalen Gesetzgebung gut leben. „Sie geht davon aus, dass Palliativmedizin und Euthanasie sich nicht gegenseitig ausschließen“, schreibt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Prof. Dr. med. Eberhard Klaschik, in seinem neuesten Werk (1).
Mit staatlicher Unterstützung entstanden zahlreiche integrierte palliativmedizinische Versorgungsmodelle. Hospize dienen dabei als zentrale Einrichtungen. Schwer kranke Patienten sollen dort kurz vor ihrem Tod Aufnahme und eine spezialisierte Betreuung finden. Im Jahr 2004 existierten nach offiziellen Angaben 70 solcher Netzwerke.
Die häuslichen Pflegedienste wiederum können im Bedarfsfall auf Konsiliarteams zurückgreifen. Diesen Teams gehören neben erfahrenem Pflegepersonal auch Onkologen, Anästhesisten, Strahlentherapeuten, Psychologen, Physiotherapeuten und Apotheker an. Die Pflegedienste machen einer Studie zufolge von dem Angebot regen Gebrauch. Darüber hinaus gibt es inzwischen drei Lehrstühle für Palliativmedizin.
Ambulante Versorgung
Anders in Frankreich: Dort existieren bislang weder Lehrstühle noch hat die Palliativmedizin den Rang eines eigenständigen Fachgebiets. Grund hierfür ist unter anderem, dass die Palliativbewegung in Frankreich erst Mitte der 80er-Jahre politische Bedeutung erlangte. Und obwohl die Regierung die Palliativmedizin 1991 offiziell zur dritten Säule der stationären Versorgung erhob, sollte es noch mehrere Jahre dauern, bis eine effektive palliativmedizinische Versorgung sichergestellt werden konnte. Entscheidend hierfür war das Palliativgesetz von 1999, das auch eine großzügige finanzielle Unterstützung der palliativmedizinischen Versorgung vorsah. Dadurch stieg allein die Zahl der Palliativbetten in den Krankenhäusern innerhalb von zwei Jahren von 675 auf 1 040. Die Zahl der ambulanten Pflegedienste erhöhte sich zeitgleich von 18 auf 30.
Die häusliche Versorgung wiederum erfolgt nach einem „Hospitalisation à Domicil“ (Krankenhaus zu Hause, HAD) getauften Konzept. Pflegekräfte, Physiotherapeuten Diätassistenten und Psychologen arbeiten hierbei Hand in Hand. Die Teams kooperieren eng mit Hausärzten und Krankenhäusern. Zu den Leistungen, die im Rahmen des HAD zu Hause erbracht und mit den Krankenkassen nach Tagessätzen abgerechnet werden dürfen, gehören auch chemotherapeutische Maßnahmen, der Einsatz von Morphinpumpen sowie Maßnahmen zur künstlichen Ernährung.
Das Konzept ist allerdings nicht nur auf die palliativmedizinische Betreuung ausgerichtet, sondern umfasst auch die Pflege von Kranken, die ohne häusliche Unterstützung ins Krankenhaus eingewiesen werden müssten. Die Palliativstationen in den Krankenhäusern ähneln strukturell denen deutscher Einrichtungen. Sie verfügen in der Regel über ein multidisziplinäres Team einschließlich ehrenamtlicher Mitglieder, das unter ärztlicher Leitung steht. Hinzu kommen sogenannte Équipes Mobiles de Soins Palliatifs (EMSP), mobile Konsiliardienste. Die EMSP beraten die Pflegeteams bei medizinischen Problemen und übernehmen auch psychosoziale Aufgaben.
In Schweden fand im Gegensatz zu Frankreich eine intensive politische Auseinandersetzung mit der Hospizidee schon sehr viel früher statt. Bereits 1979 veröffentlichte eine von der schwedischen Regierung eingesetzte Kommission Normen und Standards für die Versorgung Sterbender und Schwerkranker. Die Berichte und Empfehlungen zur Schmerztherapie und zur palliativmedizinischen Betreuung in der letzten Lebensphase wurden in den Jahren danach ständig aktualisiert. Die palliativmedizinische Betreuung in Schweden zeichnet sich auch dadurch aus, dass die Patienten überwiegend ambulant versorgt werden. Bei den Teams arbeitet immer mindestens ein Arzt mit.
Die häuslichen Pflegedienste stehen im engen Kontakt mit Krankenhäusern, die auch Betten für eine stationäre Aufnahme vorhalten. Hospize sind in Schweden eher selten. Die Kosten für die ambulante Versorgung tragen die Gemeinden. Inzwischen genießt die palliativmedizinische Betreuung in Schweden offiziell denselben Stellenwert wie die Versorgung akuter, lebensbedrohlicher Erkrankungen.
Ethos der Solidarität
Auch die Polen haben sich frühzeitig mit der Hospizidee auseinandergesetzt. Einer Gruppe Freiwilliger wird die Gründung des ersten osteuropäischen Hospizes zugeschrieben. Es entstand 1981 in Krakau. Dem Engagement der Gewerkschaft Solidarnos´c´ und der katholischen Kirche ist es zu verdanken, dass die Palliativmedizin auch während des kommunistischen Regimes fortbestehen und sich weiterentwickeln konnte.
Inzwischen ist das Fach nicht nur fester Bestandteil der medizinischen, sondern auch der pflegerischen Ausbildung. Seit 1998 hat zudem jeder Bürger das Recht auf eine palliativmedizinische Versorgung. Ein Gesetz aus dem Jahr 2003 regelt darüber hinaus, dass der Nationale Gesundheitsfonds (NGF) auch einen Teil der Kosten für die palliativmedizinische Versorgung in nicht staatlichen Einrichtungen übernehmen muss. Im Regelfall sind dies 60 Prozent. Den Rest finanzieren die Einrichtungen aus eigenen Mitteln oder Spenden.
Etwa zwei Drittel aller nicht staatlichen Einrichtungen haben einen entsprechenden Vertrag mit dem NGF beziehungsweise einer Krankenkasse abgeschlossen. Für eine flächendeckende Versorgung reichen die Mittel allerdings nicht. Dennoch gilt die Entwicklung der Hospizarbeit und Palliativmedizin in Polen als vorbildhaft für ganz Osteuropa.
Petra Spielberg


Literatur
1. Huseboe S, Klaschik E: Palliativmedizin – Grundlagen und Praxis.
4. Auflage, Springer Verlag 2006.

2. Europarat: Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zur Organisation von Palliative Care vom 12. November 2003.

3. Schindler T, Jaspers B: Stand der Palliativmedizin und Hospizarbeit in Deutschland und im Vergleich zu ausgewählten Staaten. Gutachten im Auftrag der Enquete-Kommission des Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“, 2004.

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