ArchivDeutsches Ärzteblatt40/2007Medizingeschichte: Zu den Wurzeln „entarteter“ Kunst

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Medizingeschichte: Zu den Wurzeln „entarteter“ Kunst

Goddemeier, Christof

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B.-A. Morel: Sozialmilieu und falscher Lebenswandel führen zu fortschreitender Degeneration. Foto: wikipedia
B.-A. Morel: Sozialmilieu und falscher Lebenswandel führen zu fortschreitender Degeneration. Foto: wikipedia
Vor 150 Jahren führte der Psychiater Bénédict-Augustin Morel das Degenerationsmodell in die Psychiatrie ein.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmt der Streit zwischen „Psychikern“ und „Somatikern“ die Psychiatriegeschichte. Für beide sind Leib und Seele eng miteinander verbunden, doch nehmen sie unterschiedliche Gewichtungen vor. So sieht etwa der Psychiker Johann Christian Heinroth im Leib das Instrument der Seele; für die Somatiker Friedrich Nasse und Maximilian Jacobi folgt dagegen die Seele den Funktionen des Organismus.
Dabei haben beide Parteien keinen Zweifel an einem nicht körperlichen, unsterblichen Seelenanteil, der letztlich unerkennbar bleibe. Die Lehren Franz Joseph Galls und Samuel Thomas Soemmerrings, die den Sitz des „Seelenorgans“ auf der Oberfläche der Großhirnhemisphären oder im Innern des Gehirns vermuten, lehnen daher auch die Somatiker ab. Zwar betont Wilhelm Griesinger die Bedeutung des Gehirns und räumt der körperlichen Entstehung psychischer Erkrankungen einen festen Platz in der psychiatrischen Krankheitslehre ein, doch ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs allgemein anerkannt, dass bei körperlich erklärbaren psychischen Krankheiten „nur das Gehirn der Sitz (. . .) krankhafter geistiger Tätigkeiten sein kann“, wie Griesinger 1845 schreibt. Mit seinem Werk findet der Streit zwischen Psychikern und Somatikern im alten Sinn ein Ende. „Hirnpsychiater“, wie Carl Westphal, Theodor Meynert und Carl Wernicke, versuchen nun, der Psychiatrie eine positivistisch-naturwissenschaftliche Richtung zu geben; doch dem größten Teil der Psychosen kommt die rein biologisch orientierte Forschung nicht näher.
In dieser Zeit der immer differenzierteren Beschreibung krankhafter Veränderungen des Gehirns und der raren Erklärungen betritt eine eigenartige Theorie die Bühne der Psychiatriegeschichte – die Lehre von der Degeneration oder Entartung. Sie scheint eine ätiologische Erklärung für bis dahin Unverstandenes zu bieten.
In abwertendem Sinn wird der Begriff bereits im 17. Jahrhundert verwendet – wenig widerstandsfähige Kinder und Kriminelle bezeichnet man als „entartet“. Genetische Erklärungen sind bereits vertrautes Gedankengut, als die Degenerationshypothese im wissenschaftlichen Diskurs auftaucht: Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vermutet man, dass bestimmte krankhafte Veränderungen erblich sind. In „L’Hérédité naturelle“ (1847–1850) nimmt der französische Arzt Prosper Lucas die Erblichkeit psychischer und psychopathologischer Merkmale an. Doch er kann nicht erklären, warum auch gesund erscheinende Familien kranke Mitglieder aufweisen.
Diese Lücke sucht der französische Psychiater Bénédict-Augustin Morel (1809–1873) zu schließen, als er 1857 seine „Abhandlung über die physischen, intellektuellen und moralischen Entartungen des Menschengeschlechts“ vorlegt. Der 1809 in Wien geborene Morel wird zunächst Lehrer und dann Arzt. Zeitlebens ist er ein gläubiger Katholik. So versteht er Degeneration eher im theologischen als im biologischen Sinn. Am Beginn seiner Überlegungen steht der „type primitif“, ein ursprünglicher Mensch, der dem biblischen Adam vor dem Sündenfall entspricht. Weil dieser vom gottgewollten Menschenbild abweicht, sieht er sich künftig widrigen äußeren Einwirkungen ausgesetzt. Ein Teil seiner Nachkommen bleibt nun kraft Anpassung gesund, erfüllt das göttliche Gebot und setzt die Einheit der Gattung Mensch fort. Bei anderen führen Belastungen, hervorgerufen durch die Eltern, das soziale Milieu und einen falschen Lebenswandel (wie etwa Alkoholismus), zu fortschreitender Degeneration. Die Progression entwickelt sich in vier Stadien: von charakterlichen Anomalien, wie nervöser Reizbarkeit, über Schlaganfall und andere körperliche Krankheiten bis zu schweren geistigen Störungen – so das „Gesetz von Morel“.
Jacques Joseph-Valentin Magnan (1835–1916) befasst sich zunächst mit Degeneration bei Alkoholabhängigen. Er nimmt Morels Lehre auf, verwirft jedoch dessen religiöse Vorstellungen und orientiert sich an der Evolutionstheorie Charles Darwins, der Degeneration als Regression auffasst: Weil ein krank machender Einfluss den „dégéneré“ in seinem aufsteigenden Entwicklungsweg hemmt, geht er rückwärts, bis er schließlich – im Lauf von Generationen – ausstirbt. Magnans Lehre bestimmt für Jahrzehnte die französische Psychiatrie und findet auch Eingang in die deutsche Psychiatrie. Hier ist es Paul Julius Möbius, der wesentlich zu ihrer Verbreitung beiträgt. Er übersetzt Magnan, will aber degenerativ nicht mit erblich gleichsetzen und führt den Begriff „endogen“ im Sinn von erblich ein.
Von der Degeneration kaum zu trennen ist der Begriff der Minderwertigkeit. Bei der „Biologisierung des Menschen“ ist sie ein grundlegender Gedanke: Bereits vor Darwin geht es darum, etwa bei der Gall’schen Schädellehre, aus morphologischen Parametern von Organen, Individuen und Rassen auf eine mögliche Minderwertigkeit zu schließen. Keine Minderwertigkeit ohne Norm – das lateinische „degenerare“ bedeutet abweichen, und zwar abweichen von einer Norm. Dabei bleibt Degeneration ein unklarer Begriff. So ermöglicht er Morel, verschiedene Krankheiten in einer Generation über eine besondere Art der Vererbung auf ganz andere in der vorhergehenden Generation zurückzuführen: „Alle erblichen Krankheiten sind Schwestern.“
Relativ willkürlich beschreibt man in der Folge seelische und körperliche Auffälligkeiten und bezeichnet sie als Entartungszeichen oder Stigmata. Zweifellos ist es leichter, äußere Stigmata, wie Hasenscharte und fliehendes Kinn, sowie vermeintlich von einer Norm abweichende charakterliche Merkmale zu finden als klinischen Krankheitseinheiten eindeutige pathologisch-anatomische Befunde zuzuordnen. Schließlich sind 110 Degenerationszeichen beschrieben. Der Psychiater Eugen Bleuler sieht 1919 sechs unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Definitionen von Degeneration.
Zwar ist Darwins Evolutionstheorie jünger als die Degenerationslehre und entsteht zunächst unabhängig von ihr. Doch bereits Magnan berücksichtigt Darwins Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“ (1859) und bringt seine Theorien mit der Lehre von der Degeneration in Einklang. Gemeinsam sind sie stark und dominieren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sämtliche Wissenschaften. Ohne Darwins Hilfestellung hätte die Degenerationslehre womöglich Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Bedeutung verloren. Denn eine befriedigende Erklärung für die meisten Geisteskrankheiten kann sie nicht liefern, von wirksamer Behandlung ganz zu schweigen. Zudem stößt das Konzept zunehmend auf Kritik.
Doch längst hat sich der Begriff aus dem wissenschaftlichen Kontext gelöst. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert sich nämlich nicht nur die Medizin für Psychopathologie, sondern auch die Literatur. Zunehmend etabliert sich die Psychiatrie unter Literaten als Modewissenschaft. Der Begriff Degeneration verbindet sich mit dem Begriff „décadence“. Dabei ist Degeneration hier durchaus positiv besetzt und soll den Betroffenen besondere intellektuelle Fähigkeiten und Sensibilität verleihen. In den Texten des „fin de siècle“ erscheint sie als Voraussetzung für künstlerische Schaffenskraft und verfeinerten Geschmack. In Thomas Manns „Buddenbrooks“ kann man den Niedergang einer Familie durch Degeneration verfolgen. Felix Dörmann feiert in seiner Gedichtsammlung „Neurotika“ (1891) dieses Untergangsgefühl geradezu hymnisch: „Ich liebe, was niemand erlesen / Was keinem zu lieben gelang / Mein eignes urinnerstes Wesen / Und alles, was seltsam und krank.“
Normal und „entartet“
Ganz und gar nicht einverstanden mit der Kunstfassade des „fin de siècle“ ist dagegen der jüdische Arzt Max Nordau. 1892 veröffentlicht er sein Buch „Entartung“. Innerhalb weniger Jahre wird es wiederholt neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt. Überzeugt von der Richtigkeit der Thesen Darwins, folgt Nordau der selbst gestellten Aufgabe, den „normalen Bürgern“ die Krankheitsbilder der Künstler und ihre „krank machende Kunst“ zu erläutern. Dabei nimmt er der Darwin’schen Theorie den Faktor Zufall und ersetzt ihn durch den Willen: Anpassung erscheint somit als Willenshandlung und nicht als Ergebnis zufällig erworbener Eigenschaften. Den „Entarteten“ fehlen Nordau zufolge Gemeinschaftssinn sowie die Fähigkeit, regelmäßig zu arbeiten und sich der Gesellschaft anzupassen. Oberste sittliche Instanz ist für ihn die Vernunft. Alles, was der Autor nicht mit ihr in Einklang bringen kann, wird pathologisiert und ausgegrenzt. Nordau ist jedoch von der Gesundung der Gesellschaft überzeugt – die Kranken würden aussterben.
Nordau sieht auch den Pessimismus als Symptom eines „Gehirn-Mangels“, das heißt als Zeichen von „Entartung“. Dabei ist die Degenerationslehre im Kern selbst fatalistisch und pessimistisch. Die Möglichkeit von Prävention und Therapie des Einzelnen ist lediglich im Kampf gegen Alkoholismus erkennbar – Alkohol wird als gefährliches „Keimgift“ und Alkoholkonsum als eine Ursache der Degeneration angesehen.
Auch wenn der Verdacht nahe liegt, haben die Nationalsozialisten den Begriff „Entartung“ wohl nicht von Nordau übernommen. Zur Zeit des Dritten Reichs ist er sehr verbreitet und in mehreren Texten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden. Eine der Grundlagen der nationalsozialistischen Verbrechen kann die Lehre von der Degeneration nur werden, indem sie sich unheilvoll mit anderen Anschauungen und Strömungen verbindet: Der Sozialdarwinismus überträgt die Erkenntnisse Darwins von der Biologie auf gesellschaftliche Verhältnisse. Eugenik und Erbforschung setzen sich zum Ziel, die Fortpflanzung geeigneter Individuen zu fördern, sogenannte Ungeeignete jedoch daran zu hindern, Nachkommen zu zeugen. Der Mediziner Alfred Ploetz führt den Begriff „Rassenhygiene“ ein und dehnt damit eugenisches Denken auf Völker und Rassen aus. Fortan wird im „Daseinskampf des Volkes“ rücksichtslos gegen „gemeinschaftsschädliches Verhalten“ vorgegangen, der Kranke wird gar zum „Volksschädling“.
Zu keiner Zeit ihres Bestehens verfügte die Degenerationshypothese über ein wissenschaftliches Fundament. Von Morels heute naiv-religiös anmutenden Vorstellungen entwickelte sie sich zu einer der geistigen Grundlagen, die die nationalsozialistischen Verbrechen – Zwangssterilisation, die Ermordung Kranker und den organisierten Völkermord – möglich machten.
Christof Goddemeier

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