BEKANNTGABEN DER HERAUSGEBER: Bundesärztekammer
Bekanntmachungen: Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer zur Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) - Zusammenfassung - (September 2007)


Auch wenn die gesundheitspolitischen Entscheidungen der letzten Jahre noch nicht einmal vollständig umgesetzt sind, so besteht doch kein Zweifel, dass die Reformen den gesetzlichen Krankenkassen allenfalls mittelfristig wirksame finanzielle Entlastungen ermöglichen. Der wachsende medizinische Fortschritt sowie der demografische und epidemiologische Wandel werden dazu beitragen, dass die gesetzliche Krankenversicherung auch in Zukunft vor erheblichen Finanzierungsproblemen stehen. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) möchte mit dieser Stellungnahme erneut eine Vorgehensweise aufgreifen und öffentlich zur Diskussion stellen, die bislang in den politischen Entscheidungen wenig Resonanz gefunden hat: die Priorisierung medizinischer Leistungen. Sie knüpft damit an ein erstes Memorandum aus dem Jahre 2000 an zu „Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Müssen und können wir uns entscheiden?“. Die ZEKO ist der Überzeugung, dass gewichtige ethische Argumente für eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen sprechen – auf Ebenen oberhalb der Patientenversorgung in Klinik und Praxis (d. h. oberhalb der sogenannten Mikroebene). Sie will mit dieser Stellungnahme auf konstruktive Weise zur Diskussion über die Gestalt unseres Gesundheitswesens beitragen.
Der nachfolgende Text entspricht dem Kapitel 3 „Zusammenfassung und Empfehlungen“ einer umfangreicheren Stellungnahme der ZEKO zur „Priorisierung medizinischer Leistungen im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)“. Die ausführliche Stellungnahme ist im Internet unter www.zentrale-ethikkomission.de abrufbar.
Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission
bei der Bundesärztekammer
1. Zusammenfassung und Empfehlungen
Die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dürfte sich in den kommenden Jahren ungeachtet aller Reformversuche durch ausgaben- und einnahmenseitige Faktoren weiter verschärfen. Ein steigender Bedarf an Gesundheitsleistungen ist vor allem durch den demografischen und epidemiologischen Wandel zu erwarten. Gleichzeitig eröffnet der – grundsätzlich zu begrüßende – medizinisch-technische Fortschritt immer neue, nicht selten kostspielige(re) Diagnose- und Therapieverfahren. Sie treiben Bedarf und Nachfrage nach medizinischen Leistungen und damit die Gesundheitsausgaben weiter in die Höhe.
Da viele medizinische Innovationen insbesondere älteren Menschen und chronisch Kranken zugute kommen, trägt die Interaktion von medizinischem Fortschritt und demografischem und epidemiologischem Wandel wesentlich zur Ausgabenexpansion im Gesundheitswesen bei.
Angesichts dieser Herausforderungen hält es die ZEKO für dringend erforderlich, auch in Deutschland eine breite öffentliche Diskussion über eine explizite Prioritätensetzung in der solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung zu beginnen und dauerhaft zu implementieren. Ohne dem notwendigen gesellschaftspolitischen Diskussionsprozess vorgreifen zu wollen, unterbreitet die ZEKO im Folgenden Empfehlungen, an welchen normativen – ethischen wie rechtlichen – Maßstäben sich eine Prioritätensetzung orientieren sollte und welche Maßnahmen geeignet sein könnten, den Prozess einer Prioritätensetzung dauerhaft im deutschen Gesundheitswesen zu etablieren.
1.1 Kriterien der Prioritätensetzung
Aufgrund der besonderen Bedeutung des Gutes „Gesundheit“ für das Wohlergehen und die Selbstbestimmung des Einzelnen sowie die Chancengleichheit in der Gesellschaft sollten sich Prioritätensetzungen im Gesundheitswesen primär an ethischen und rechtlichen und nicht ausschließlich an wirtschaftlichen Maßstäben orientieren. Grundlegend ist die Überzeugung, dass es in der GKV unter Knappheitsbedingungen gerechter wäre, allen Bürgern Zugang zu einer Basisversorgung zu ermöglichen als nur einem Teil der Bevölkerung Zugang zu allen aktuell verfügbaren medizinischen Maßnahmen. Dabei sind die Probleme vulnerabler und benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen.
Die ZEKO setzt sich mit Nachdruck für einen Vorrang der Rationalisierung vor der Rationierung ein. Angesichts der solidarisch aufgebrachten und begrenzten Finanzmittel ist es vordringlich, noch erreichbare Effizienzreserven im System zu mobilisieren. Wenn man bereits mit der Rationierung beginnt, obwohl Rationalisierungsreserven nicht ausgeschöpft sind, dann verweigert man bestimmten Patienten sinnvolle medizinische Maßnahmen, während gleichzeitig Gelder ausgegeben werden, die sich ohne Nachteile für die Patienten einsparen lassen. So könnte es sein, dass man, um Besitzstände zu wahren, Patienten wirksame Maßnahmen vorenthält. Dies steht in einem Gegensatz zur Grundausrichtung des Gesundheitswesens.
Trotz aller Bemühungen um eine Rationalisierung der medizinischen Versorgung werden sich aber Schwerpunktsetzungen nicht vermeiden lassen. Diese sollten nach explizit festgelegten Verfahren und Kriterien durchgeführt werden. Im Folgenden seien deshalb in Anknüpfung an sozialethische und verfassungsrechtliche Grundlagen normative Kriterien vorgestellt, die für eine Prioritätensetzung in der Gesundheitsversorgung maßgeblich sein sollten. Diese beziehen sich zum einen auf das Verfahren der Priorisierung (formale Kriterien, Abschnitt 1.1.1) und bieten zum anderen inhaltliche Orientierung bei der Festlegung von Versorgungsprioritäten (inhaltliche Kriterien, siehe Abschnitt 1.1.2).
1.1.1 Formale Kriterien einer gerechten Prioritätensetzung
Sowohl für den praktischen Erfolg als auch für die Legitimität der Prioritätensetzung ist ein faires Verfahren unabdingbar. Folgende formale Kriterien sind Voraussetzung für eine gerechte Schwerpunktsetzung in der medizinischen Versorgung. Sie lassen sich auch unter dem Aspekt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren, also aus verfassungsrechtlicher Sicht, begründen und wie folgt formulieren:
- Transparenz: Priorisierungen sollten nach klar erkennbaren Kriterien und öffentlich zugänglichen Verfahren erfolgen.
- Begründung: Jede Priorisierung sollte auf nachvollziehbaren Begründungen beruhen.
- Evidenzbasierung: Jeder Priorisierungsvorschlag sollte die verfügbare wissenschaftliche Evidenz wenigstens hinsichtlich Wirksamkeit, Nutzen- und Schadenpotenzialen sowie Notwendigkeit der zu erwartenden Kosten der involvierten Leistungen berücksichtigen. Dies erfordert die Einbindung von Fachleuten verschiedener medizinischer und anderer Disziplinen.
- Konsistenz: Priorisierungsregeln und -kriterien sollten in allen Fällen gleichermaßen angewendet werden, sodass Patienten in vergleichbaren medizinischen Situationen gleich behandelt werden.
- Legitimität: Bindende Priorisierungsentscheidungen sollten durch demokratisch legitimierte Institutionen erfolgen.
- Offenlegung und Ausgleich von Interessenkonflikten: Priorisierungsverfahren und -entscheidungen sollten so geregelt sein, dass Interessenkonflikte offengelegt und die involvierten Interessen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden.
- Wirksamer Rechtsschutz: Patienten und Leistungserbringern, denen aufgrund von Priorisierungsentscheidungen Leistungen verwehrt werden, sollten Widerspruchs- und Klageverfahren zur Verfügung stehen.
- Regulierung: Durch eine freiwillige Selbstkontrolle oder staatliche Regulierung sollten diese Bedingungen einer gerechten Prioritätensetzung gesichert und umgesetzt werden.
1.1.2 Inhaltliche Kriterien einer gerechten Prioritätensetzung
Die Berücksichtigung von Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine vertretbare Prioritätensetzung in der Gesundheitsversorgung. Jede Schwerpunktsetzung setzt darüber hinaus eine inhaltliche ethische und rechtliche Begründung voraus. Nach Auffassung der ZEKO sollten hierfür vor allem folgende drei Kriterien maßgeblich sein:
(1) Medizinische Bedürftigkeit: Schweregrad und Gefährlichkeit der Erkrankung, Dringlichkeit des Eingreifens
(2) Erwarteter medizinischer Nutzen
(3) Kosteneffektivität
Dabei sind Grad und Konsistenz der vorliegenden Evidenz zu Wirksamkeit, erwartetem Nutzen, Risiken und Kosten sowie die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf die aktuelle Versorgungssituation eines Landes oder einer Region zu berücksichtigen.
Ad 1: Medizinische Bedürftigkeit
Auf der Grundlage verfassungsrechtlicher und ethischer Überlegungen sei im Folgenden ein Stufenmodell „erlaubter“ Kriterien der Prioritätensetzung vorgestellt, das mit Bezug auf das vorrangige Kriterium der medizinischen Bedürftigkeit unterschiedlich starke Leistungsansprüche begründet. Normative Maßstäbe sind dabei das aus der Menschenwürde (Art. 1 GG) folgende medizinische Existenzminimum, die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) sowie die verschiedenen Ausprägungen des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 I–III GG).
Die nachfolgenden generalisierenden Kriterien sind nicht im Sinne individuell einklagbarer Leistungsansprüche, sondern als Prinzipien und Abwägungskriterien gesellschaftlicher Entscheidungen zu verstehen. Sie beziehen sich auf typische medizinische Handlungsanlässe und können nach zulässigen Kriterien der Priorisierung und nicht zulässigen Kriterien eingeteilt werden. Angesichts des Rahmencharakters der Aussagen versteht es sich dabei von selbst, dass die Besonderheiten des Einzelfalles oder besonders betroffener Gruppen ein Abweichen erforderlich machen können.
Zulässige Priorisierungskriterien: Ein Stufenmodell
- Erste Stufe: Lebensschutz und Schutz vor schwerem Leid und Schmerzen
Unstreitig hat die Erhaltung des Lebens Vorrang. Die Menschenwürde gebietet, dass auch der Schutz vor erheblichen Schmerzen, schwerem menschlichem Leid und Erniedrigung auf dieser Stufe steht.
- Zweite Stufe: Schutz vor dem Ausfall oder der Beeinträchtigung wesentlicher Organe und Körperfunktionen
Auf der zweiten Stufe der Prioritätensetzung steht der Schutz vor dem Ausfall oder schwerer Beeinträchtigung wesentlicher Organe, Gliedmaßen und körperlicher wie seelischer Funktionen. Im Lichte des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) muss medizinische Versorgung auch bei Knappheit vorhandener Mittel vorrangig dafür sorgen, dass z. B. Erblindung, Verlust des Gehörs oder eines Beines verhindert werden. Die Relevanz der Schädigungen und Risiken ergibt sich aus ihrer Bedeutung für den ungestörten Vollzug alltäglicher Aktivitäten und für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
- Dritte Stufe: Schutz vor weniger schwerwiegenden oder nur vorübergehenden Beeinträchtigungen des Wohlbefindens
Hier geht es um weniger gravierende Beeinträchtigungen der körperlichen und seelischen Gesundheit (leichte Schmerzen, ungefährliche Krankheiten ohne wesentliche und dauerhafte Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe). Sie fallen zwar unter den Krankheitsbegriff der WHO, aus konkretem Verfassungsrecht lässt sich aber nur ein nachrangiger Anspruch auf entsprechende Leistungen ableiten. Auf dieser Stufe sind die Mitwirkungsbereitschaft und -befähigung des Patienten von besonderer Bedeutung (s. unten 1.1.3). 1
- Vierte Stufe: Verbesserung und Stärkung von Körperfunktionen
Erst auf einer vierten und letzten Stufe kann es um die Vervollkommnung von Körperfunktionen (Fitness, Wohlbefinden, Ansehnlichkeit) gehen.
Unzulässige Kriterien
Folgende Kriterien sind aus verfassungsrechtlicher und ethischer Sicht generell nicht zulässig:
- Auf der ersten und zweiten Stufe (Lebensschutz, Schutz vor Schmerzen, Schutz vor Ausfall oder Beeinträchtigung wesentlicher Organe) ist eine Differenzierung nach Art und Umfang der Krankenversicherung oder Zahlungsfähigkeit ausgeschlossen.
- Art. 3 II und III GG schließen Differenzierungen nach Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöser und politischer Anschauung sowie Behinderung auf allen Stufen aus.
Die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz schließen darüber hinaus eine Differenzierung nach Alter und sexueller Orientierung aus.
Ad 2: Erwarteter individueller Nutzen der Maßnahme
Wichtigste Kriterien für die Konstatierung eines Versorgungsbedarfs sind die generelle und einzelfallbezogene Wirksamkeit und die Nutzen- und Schadenspotenziale der entsprechenden Leistungen. Auch in Grenzsituationen kann es nicht um die Erfüllung persönlicher Wünsche nach bestimmten Heilmethoden gehen, für die jeglicher Wirksamkeitsnachweis fehlt. Auch nach dem Urteil des BVerfG vom 6. 12. 2005 zur Bioresonanztherapie (NJW 2006, 891) muss die vom Versicherten gewählte Behandlungsmethode zumindest eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Dafür kommen nach Auffassung der evidenzbasierten Medizin grundsätzlich nur Daten aus kontrollierten Studien oder in Ausnahmefällen auch aus Beobachtungsstudien oder einer größeren Zahl sorgfältig dokumentierter individueller Heilversuche mit ausreichend langer Vor- und Nachbeobachtung infrage. Hierbei muss die Situation von seltenen (meist genetisch bedingten) Erkrankungen Berücksichtigung finden. Bei ihnen ist die Datenlage zu einer evidenzbasierten Priorisierung naturgemäß lückenhaft und unzureichend.
Dieselben Kriterien gelten für die Teilhabe an notwendigen Ausgleichs- und Rehabilitationsmaßnahmen mit der Chance zur (Wieder-)Erreichung eines Lebens ohne dauerhafte Beeinträchtigungen und Behinderungen. Auch die verschiedenen Formen der Prävention müssen sich an den Kriterien von Wirksamkeit und Nutzen messen lassen.
Ad 3: Kosteneffektivität der Maßnahme
Die ZEKO teilt die Auffassung der Prioritätenkommissionen anderer Länder, dass unter der Bedingung insgesamt begrenzter Mittel auch zu berücksichtigen ist, welche Kosten ein medizinischer Nutzengewinn verursacht. Das Kriterium der Kosteneffektivität soll dazu beitragen, dass mit den begrenzt verfügbaren Ressourcen ein möglichst großer gesundheitlicher Effekt, gemessen am Zugewinn an Lebenszeit und Lebensqualität, erzielt wird. Wenn Maßnahmen mit einem sehr ungünstigen Kosten-Nutzen-Profil unterbleiben, können die frei werdenden Ressourcen anderen Patienten mit einem größeren zu
erwartenden Nutzen zugute kommen. Die Berücksichtigung der Kosteneffektivität medizinischer Maßnahmen kann damit indirekt auch die Verteilungsgerechtigkeit erhöhen. Dies setzt aber voraus, dass nicht nur der Nutzen medizinischer Maßnahmen, sondern auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis im Rahmen gesundheitsökonomischer Evaluationen systematisch abgeschätzt wurde. Die hierbei zugrunde gelegten methodischen Vorannahmen und Wertungen sollten explizit und transparent dokumentiert werden. Eine allein an der Kosteneffektivität orientierte Priorisierung ist politisch nicht zu vermitteln und ethisch nicht zu vertreten. Ethisch am ehesten angemessen erscheint es, bei Priorisierungen nicht nur einen einzigen normativen Maßstab zugrunde zu legen, sondern die drei Priorisierungskriterien in Kombination anzuwenden (1.1.4). Der Vorrang lebenserhaltender Maßnahmen und des Erhalts wichtiger Organe und Körperfunktionen gilt natürlich auch für deren Finanzierung.
1.1.3 Weitere Kriterien
Wenn die jeweils relevanten Kriterien bei mehreren Patienten in gleicher Weise erfüllt sind, kann eine zeitliche Priorisierung (Warteliste) eine Rolle spielen.
Jeder Einzelne ist gehalten, im Rahmen seiner Möglichkeiten Vorsorge gegen Gesundheitsgefahren zu treffen. Allerdings umfasst die solidarische Finanzierung grundsätzlich auch die medizinische Behandlung selbst verursachter Krankheiten und Risiken (z. B. Tabakrauchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, gefährliche Sportarten). Inwieweit Ausnahmen gelten sollen, ist strittig.
Die Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft des Patienten sind für alle an eine verständige Befolgung ärztlicher Vorschläge gebundenen Behandlungen (z. B. nach Organtransplantationen) brauchbare Kriterien, soweit sie sich auf die medizinische Prognose auswirken. Beide Faktoren bedürfen gegebenenfalls einer aktiven Förderung.
In hohem Maß strittig ist, inwieweit die Anerkennung spezifischer Solidaritätsbeiträge (z. B. erklärte Bereitschaft zur Organspende) ethisch und verfassungsrechtlich vertretbar ist.
1.1.4 Hinweise zur Abwägung der Priorisierungskriterien
Die große Herausforderung besteht darin, das relative Gewicht der genannten Kriterien zu bestimmen; dies lässt sich nicht mit hinreichender Konkretisierbarkeit aus einer allgemein akzeptierten ethischen Theorie ableiten. Erforderlich ist jeweils eine wohlüberlegte Abwägung der drei normativen Kriterien, wobei die Einhaltung prozeduraler Gerechtigkeitsstandards eine wesentliche Voraussetzung für die Legitimität des Abwägungsprozesses darstellt.
Insbesondere stellt sich die Frage, welches Gewicht der Kosteneffektivität der Maßnahmen zukommen soll. Die Festlegung eines festen Grenzwertes, wie er in der gesundheitsökonomischen Literatur häufig zugrunde gelegt wird ($ 50 000 je qualitätsbereinigtes Lebensjahr) ist ethisch nicht vertretbar, da das Kriterium der Kosteneffektivität nach Überschreiten des Grenzwertes zum alleinigen Zuteilungskriterium werden würde. Eher angemessen erscheint ein Vorgehen, wie es das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) praktiziert. Ab einem bestimmten Schwellenwert (£ 25 000 bis £ 35 000) ist eine besondere Begründung erforderlich, damit die Kosten vom National Health Service (NHS) übernommen werden. Dabei sind weitere Überlegungen zur Evidenzlage und zur Alternativlosigkeit, zum Innovationscharakter und zu den sozialen Kosten und Nutzen der jeweils beurteilten Maßnahme relevant. Allgemeiner könnte man die Abwägungsregel wie folgt formulieren: Die ethische Begründungslast für die Durchführung einer medizinischen Maßnahme steigt mit einem zunehmend ungünstigen Kosten-Effektivitäts-Verhältnis. Ethische Argumente für die Durchführung von Interventionen mit schlechtem Kosten-Effektivitäts-Verhältnis können zum Beispiel der Schweregrad der Erkrankung oder die Alternativlosigkeit bei einer gleichzeitig guten Evidenzlage für den zu erwartenden gesundheitlichen Effekt sein. Selbstverständlich ist, dass bei gleicher Wirksamkeit und Nützlichkeit die jeweils kostengünstigere Alternative gewählt werden muss.
1.2 Priorisierungsdiskussion und Prioritätensetzung in Deutschland:
Welche Schritte sind notwendig?
1.2.1 Etablierung eines öffentlichen Diskurses über Prioritäten in der Gesundheitsversorgung
Angesichts der eingangs skizzierten Herausforderungen scheint es in Deutschland dringend geboten, einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs über die notwendigen Schwerpunktsetzungen in der medizinischen Versorgung zu initiieren. Dabei gilt es vor allem zu klären, wofür die solidarisch aufgebrachten Mittel eingesetzt werden sollen: Welche Versorgungsziele, Gesundheitsstörungen, Leistungen und Indikationen sollen als vorrangig gelten, welche als nachrangig? Welche Kriterien sollen aus welchen Gründen gelten, wer soll sie wie anwenden, wer soll Prioritäten feststellen und schließlich rechtssicher umsetzen?
Ohne ein größeres Problembewusstsein in Bevölkerung und Politik für die Begrenztheit der Ressourcen in der Gesundheitsversorgung scheint jede explizite Prioritätensetzung zum Scheitern verurteilt.
Da eine Prioritätensetzung im Gesundheitswesen vielfältige Wertentscheidungen voraussetzt, die sich nicht mit hinreichender Konkretheit aus einer ethischen Theorie ableiten lassen, ist ein öffentlicher Diskurs erforderlich, um Entscheidungen darüber zu treffen, für welche Ziele und Zwecke die gemeinschaftlich aufgebrachten und begrenzt verfügbaren Gesundheitsressourcen vordringlich verwendet werden sollen.
Wie die Erfahrungen anderer Länder zeigen, handelt es sich bei der Prioritätensetzung um einen fortdauernden Prozess, der gleichermaßen in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft zu führen ist. Hierfür müssen entsprechende Institutionen geschaffen werden, die zum einen die wissenschaftliche Evidenz über Nutzen und Kosten medizinischer Maßnahmen auswerten und zusammenführen und zum anderen den politischen Diskurs dauerhaft implementieren. Jede Implementierung sollte von Beginn an Möglichkeiten der Beteiligung für Bürger und Interessenvertreter vorsehen.
Um den politischen und gesellschaftlichen Diskussionsprozess anzustoßen, unterstützt die ZEKO die Empfehlung des außerordentlichen Ärztetages 2006, eine nationale Prioritätenkommission („Gesundheitsrat“) einzurichten; sie sollte – institutionell unabhängig, aber unter Einbindung von Ärzteschaft, Politik und Patientenvertretern – die Grundwerte für eine Schwerpunktsetzung in der Gesundheitsversorgung definieren und Empfehlungen für die konkrete Umsetzung auf den verschiedenen Ebenen des Gesundheitswesens erarbeiten. Insbesondere wäre es eine Aufgabe der Kommission zu prüfen, ob Prioritäten eher in Form von Leitlinien (nach einem schwedischen Modell) oder in Form von verbindlichen Richtlinien (wie vorzugsweise in England und Deutschland) in der Praxis umgesetzt werden sollen. Darüber hinaus sollte die Kommission – auch durch Recherchen im Ausland – ermitteln, welche konkreten Verfahren der Bürgerbeteiligung und Präferenzermittlung existieren und sich bewährt haben.
Sofern eine nationale Kommission mit der Erarbeitung einer Stellungnahme zur Prioritätensetzung beauftragt wird, sollte der klare politische Wille vorhanden sein, im Anschluss weitere Schritte zu unternehmen, um die Ergebnisse in der Praxis umzusetzen. Dabei sollten die internationalen Erfahrungen konsequent und aufmerksam weiter verfolgt werden.
1.2.2 Beteiligung der Ärzteschaft
Eine medizinisch rationale und ethisch vertretbare Prioritätensetzung kann nur in Zusammenarbeit mit medizinischen Experten und der Ärzteschaft gelingen. Dies entspräche – nach Daten aus verschiedenen Ländern – auch dem Wunsch der Bürger und Patienten. Zum einen sollten die Vorgaben hinsichtlich des medizinischen Nutzens der Maßnahmen patientenorientiert und evidenzbasiert sein, zum anderen müssen sie von der Ärzteschaft akzeptiert und in der Praxis umgesetzt werden. Der Ärzteschaft bietet sich die Chance, die weitere Entwicklung der medizinischen Versorgung in unserem Land aktiv mitzugestalten und die Autonomie der ärztlichen Profession gegenüber staatlicher Einflussnahme zu stärken.
Die ZEKO empfiehlt deshalb auch und vor allem der Bundesärztekammer, in der Ärzteschaft einen Diskussionsprozess darüber zu organisieren, wie eine angemessene ärztliche Beteiligung an einer Prioritätensetzung im Gesundheitswesen aussehen könnte. Ohne diesem Diskussionsprozess vorgreifen zu wollen, seien im Folgenden einige Bereiche und Aufgaben skizziert, in denen eine Mitwirkung der Ärzteschaft unerlässlich oder zumindest sinnvoll ist.
- Beteiligung am gesellschaftspolitischen Diskurs: Primär ist es sicher die Aufgabe der Ärzteschaft, ihr medizinisches Fachwissen und die ummittelbare Kenntnis der Versorgungsrealität in die Diskussion einzubringen. Darüber hinaus könnte es auch eine Aufgabe der Ärzteschaft sein, für die Belange insbesondere derjenigen Patienten einzutreten, die sich selbst politisch wenig Gehör verschaffen können. Die Erfahrungen in Schweden verdeutlichen, wie eine konstruktive Beteiligung der Ärzteschaft an einer Prioritätensetzung im Gesundheitswesen aussehen kann.
- Beteiligung an der systematischen Gewinnung und Aufarbeitung wissenschaftlicher Evidenz zu Wirksamkeit, Nutzen, Risiken, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit medizinischer Verfahren (vgl. laufende Aktivitäten im Ärztlichen Zentrum für Qualität [ÄZQ], der Kassenärztlichen Bundesvereinigung [KBV] und im Gemeinsamen Bundesausschuss [G-BA]). Insbesondere erscheint es erforderlich, Politik und Rechtsprechung dabei zu unterstützen, ein angemessenes Verständnis einer evidenzbasierten Medizin (EbM) zu entwickeln und dieses in der Praxis sachgerecht anzuwenden.
- Verantwortliche Priorisierungsentscheidungen im Einzelfall: Obwohl es sehr gute Gründe gibt, grundsätzliche Priorisierungsentscheidungen „oberhalb“ der individuellen Arzt-Patient-Beziehung zu treffen, wird es sich unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 6. 12. 2005 aufgrund der aktuellen finanziellen Rahmenbedingungen und der durch allgemeine Regeln nie vollständig erfassbaren Besonderheit des Einzelfalls nicht vermeiden lassen, dass Ärzte auch in der klinischen Situation Verantwortung für einen medizinisch rationalen und ethisch vertretbaren Umgang mit knappen Ressourcen übernehmen. Hierzu ist es erforderlich, über die traditionelle individualethische Orientierung hinaus Einstellungen, Wissen und Urteilsfähigkeit im Bereich sozialethischer Fragestellungen in Aus-, Weiter- und Fortbildung zu vermitteln und zu fördern.
1.2.3 Förderung der evaluativen klinischen und Versorgungsforschung
Ethisch vertretbare Prioritätensetzungen in der Gesundheitsversorgung setzen die methodisch-systematische Evaluierung medizinischer Verfahren voraus. Die ZEKO empfiehlt deshalb, die finanzielle Förderung der evaluativen klinischen und Versorgungsforschung unter Einschluss gesundheitsökonomischer Analysen weiter zu stärken. Darüber hinaus ist es sinnvoll, bestehende Verfahren des Health Technology Assessment (HTA) insbesondere im Hinblick auf die Berücksichtigung ethischer Aspekte und die Beteiligung von Bürgern und Patienten zu erweitern.
1.2.4 Weiterentwicklung der Gemeinsamen Selbstverwaltung
Für die Bundesrepublik Deutschland erscheint es vorzugswürdig, den traditionellen Weg der gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen und medizinischen Leistungserbringern weiterzuentwickeln. Die spezifische Verknüpfung politischer und fachlicher Kriterien und Diskurse, von eigener Betroffenheit und dem Bemühen um Objektivität und verallgemeinerbare Kriterien kann durch Gremien gesellschaftlicher Selbstverwaltung besser erreicht werden als durch politische Entscheidungen, wie sie beim Ministerium für Gesundheit oder einer fachlich weisungsabhängigen Behörde getroffen werden. Zugleich ist in einem verpflichtenden Sozialversicherungssystem eine Rückkopplung mit der demokratisch legitimierten Exekutive notwendig. Besonders die Einhaltung eines geregelten und transparenten Verfahrens muss garantiert werden. Entsprechend sollte es beim System der gemeinsamen Selbstverwaltung bleiben, die ihre Priorisierungsentscheidungen unter Rechtsaufsicht trifft und damit keiner Fachaufsicht unterliegt.
Zu einer Weiterentwicklung der gemeinsamen Selbstverwaltung in Deutschland in ein System bewusster Prioritätensetzung im gesetzlichen Rahmen schlägt die ZEKO vor:
- Vertiefte Beteiligung der Verbände chronisch kranker und behinderter Menschen als Vertreter besonders betroffener Gruppen
- Bewertung nicht nur neuer, sondern auch etablierter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in einem vergleichenden Verfahren, das der G-BA initiativ in Gang setzt; Ergänzung des Antragsprinzips
- Stärkung der für die Verfahrensbewertung in der Medizin zuständigen Einrichtungen
Eine explizite Priorisierung sollte darüber hinaus Vorschläge für eine gezielte Gestaltung der Infrastruktur der Gesundheitsversorgung und eine Schwerpunktsetzung in der medizinischen und Versorgungsforschung machen. Hierbei sind die gemeinsame Selbstverwaltung, beteiligte Forscher und Akteure in der Gesundheitsversorgung und die wichtigsten Forschungsförderer mit einzubeziehen. Zu klären bleibt, wie die Zuständigkeiten für solche Art von Prioritätensetzung möglichst sachgerecht zwischen Bundes- und Länderebene aufzuteilen sind.
Voraussetzung für die Weiterentwicklung von bewusst gesetzten Prioritäten in der Gesundheitsversorgung ist, dass der politisch durch das GKV-Wettbewerbstärkungsgesetz eingeschlagene Weg einer impliziten Prioritätensetzung durch verstärkten Kassenwettbewerb nicht fortgesetzt wird. Die immer wieder diskutierte Aufspaltung in Grundleistungen und Wahlleistungen birgt die Gefahr, dass Ressourcen auch im gesetzlichen System nach Zahlungsbereitschaft und
-fähigkeit verteilt werden und damit eine gesundheitspolitisch begründete zentrale Priorisierung scheinbar überflüssig machen. Benachteiligt hiervon wären insbesondere chronisch kranke und behinderte Menschen mit eingeschränkter Zahlungsfähigkeit.
1.2.5 Berücksichtigung veränderter Versorgungsbedarfe
Der durch den demografischen Wandel qualitativ und quantitativ veränderte Versorgungsbedarf legt es nahe, die Art der erbrachten Gesundheitsleistungen zu überdenken und Prioritäten hin zur Versorgung chronisch kranker Menschen unter Berücksichtigung auch rehabilitativer und pflegerischer Leistungen zu verlagern, in der die solidarisch finanzierten Leistungen bereits heute nicht bedarfsdeckend sind. Hierzu bedarf es optimierter Versorgungsstrukturen und einer verbesserten Qualifikation der im Gesundheitswesen Tätigen im Hinblick auf die Bedürfnisse älterer Menschen.
Angesichts der Zunahme multifaktorieller chronischer Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atmungsorgane und des Stoffwechsels, deren Entstehung vor allem auch von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen abhängt, erscheint es geboten, der Prävention und Gesundheitsförderung eine höhere Priorität einzuräumen. Da gesundheitsrelevante Verhaltensweisen erheblich von der Sozialisation, von den Einkommens-, Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnissen sowie vom sozialen Beziehungsgefüge beeinflusst sind, muss neben die Verhaltensprävention auch die Verhältnisprävention treten. Sie zielt darauf ab, über eine Gestaltung des Umfelds die Voraussetzungen für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu verbessern.
1.2.6 Berücksichtigung sozialer Ungleichheiten
Sozialepidemiologische Studien belegen, dass soziale Ungleichheiten – gemessen an den Faktoren Bildung, Einkommen und beruflicher Status – einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Gesundheitszustand der Menschen haben. Dieser Zusammenhang zwischen sozialem Status und Morbidität sowie Mortalität ist bei einer expliziten Prioritätensetzung zu berücksichtigen. Eine effektive und gerechte Gesundheitspolitik sollte deshalb intersektoral ausgerichtet sein und einkommens-, arbeitsmarkt- und bildungspolitische Maßnahmen umfassen. Nur auf diese Weise lassen sich die sozial bedingten Ungleichheiten bei Gesundheit und Krankheit verringern.
1.3 Abschließende Bemerkungen: Einladung zum Diskurs
Die ZEKO ist sich bewusst, dass das hier vorgelegte Positionspapier allenfalls der Anstoß zu einem umfassenden und längerfristig auf verschiedenen Ebenen zu implementierenden Diskussionsprozess über eine explizite Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen sein kann. Die Empfehlungen zu Verfahren und Kriterien der Priorisierung sind folglich nicht als abschließende Handlungsanweisungen zu verstehen. Im Gegenteil: Die ZEKO lädt nachdrücklich alle relevanten Gruppierungen im Gesundheitswesen, die Bevölkerung und die Politik dazu ein, sich mit der Problemanalyse und den vorgeschlagenen Lösungsansätzen kritisch auseinanderzusetzen.
4. Mitglieder der Zentralen Ethikkommission
Prof. Dr. phil. D. Birnbacher, Düsseldorf
Prof. Dr. theol. P. Dabrock, Marburg
Frau Dr. med. A. Dörries, Hannover
Prof. Dr. med. B. Gänsbacher, München
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. G. Geißlinger, Frankfurt/M.
Frau Dr. rer. nat. S. Graumann, Berlin
Prof. Dr. jur. F. Hufen, Mainz
Prof. Dr. med. D. Niethammer, Tübingen/Berlin
Frau Prof. Dr. rer. soz. I. Nippert, Münster
Prof. Dr. med. Dr. phil. H. H. Raspe, Lübeck (federführend)
Prof. Dr. theol. habil. J. Reiter, Mainz
Dr. med. J. Schuster, Würzburg
Prof. Dr. jur. J. Taupitz, Mannheim
Prof. Dr. med. Dr. phil. J. Vollmann, Bochum
Frau Prof. Dr. med. I. Walter-Sack, Heidelberg
Prof. Dr. med. Dr. phil. U. Wiesing, Tübingen (Vorsitzender)
Als externe Experten in der Arbeitsgruppe mitgewirkt haben
Prof. Dr. med. G. Marckmann
Frau Dr. M. Schmedders (beratend)
PD Dr. jur. habil. F. Welti
Korrespondenzadresse
Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer
Herbert-Lewin-Platz 1
10623 Berlin
Telefon: 0 30/40 04 56-4 67
Fax: 0 30/40 04 56-4 86
E-Mail: zeko@baek.de
Günther, Heinrich
Bertram, Mathias
Gieselmann, Winfrid