THEMEN DER ZEIT
Die Contergan-Katastrophe: Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten


Beruhigende
Aussichten:
Die Bildmotive
stammen von
einem Werbeträger
der Firma Grünenthal
in Form einer
kleinen Litfaßsäule.
Das Exponat befindet
sich im Deutschen
Orthopädischen
Geschichtsund
Forschungsmuseum.
Fotos: Klaus-Dieter Thomann
Mit der Einführung des rezeptfreien Beruhigungsmittels Thalidomid (Contergan) am 1. Oktober 1957 nahm die folgenschwerste Arzneimittelkatastrophe des 20. Jahrhunderts ihren Lauf (1). Das neue Medikament wirkte beruhigend, es erschien im Tierversuch als atoxisch, die ersten Anwendungen am Menschen ließen keine Nebenwirkungen erkennen. Die Herstellerfirma empfahl die Einnahme des Medikaments unter anderem bei Nervosität, klimakterischen Beschwerden, verstärkter sexueller Erregbarkeit der Frau, Schlafstörungen, Affektlabilität, Angst und Kontaktschwäche (2). Auch Schmerzmitteln wurde es zugesetzt.
Innerhalb kurzer Zeit wurde Thalidomid ein wirtschaftlicher Erfolg, es wurde zunehmend häufiger verordnet und spielte in der Selbstmedikation eine bedeutende Rolle. Contergan eroberte einen sehr großen Anteil des Beruhigungsmittelmarkts in Westdeutschland. Doch das Mittel war nur scheinbar frei von Nebenwirkungen; es schädigte die Nerven und beeinflusste die Entwicklung des Embryos. Je nach dem Zeitpunkt der Einnahme störte es die Ausbildung der Extremitäten, des Schädels oder der inneren Organe. Waren lebenswichtige Organe betroffen, starb der Embryo ab; hemmte das Thalidomid die Entwicklung der Extremitäten, kamen fehlgebildete Kinder zur Welt. 1958 wurden 24 geschädigte Kinder geboren, die Zahl schnellte im Jahr 1961 auf 1 515 hoch, um ein Jahr später wieder auf knapp 1 000 zu sinken. In Deutschland wurden ungefähr 5 000 Kinder mit Contergan-Schäden geboren, bis heute haben 2 500 Menschen mit zum Teil schwersten Fehlbildungen überlebt.
Obwohl bereits Mitte 1958 die ersten „Contergan-Kinder“ die Welt erblickten, dauerte es mehr als drei Jahre, bis ein Kinderarzt den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Thalidomid und den Fehlbildungen aufdeckte.
Atombombenversuche
und Missbildungen
Es stellt sich die Frage, wie es in einem hoch entwickelten Gesundheitswesen passieren konnte, dass Tausende von behinderten Kindern geboren wurden, ohne dass dies auffiel. Tuberkulöse und Syphilitiker wurden registriert, gemeldet und notfalls mit staatlichem Zwang behandelt. Derselbe Staat – vom Gesundheitsamt bis zum zuständigen Ministerium – schien aber die Augen vor der schwersten gesundheitlichen Bedrohung der Bevölkerung zu verschließen. Hatten die staatlichen Aufsichtsbehörden ihre Pflicht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, sträflich vernachlässigt?
Die Untersuchungen Becks schlugen hohe Wellen. Erich Mende, Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, griff die Vermutungen Becks auf und machte diese am 14. Mai 1958 zum Thema einer Anfrage im Bundestag (5). Die Bundesregierung wurde ersucht, Erhebungen anzustellen, ob die „Zahl der Missgeburten (Lebend- und Totgeburten)“ seit 1950 zugenommen habe und ob ein Zusammenhang mit der Einwirkung radioaktiver Strahlung bestehe. Da das Bundesgesundheitsministerium erst 1962 eingerichtet wurde, oblag die Bearbeitung der Anfrage der Gesundheitsabteilung im Bundesministerium des Inneren. Der zuständige Sachbearbeiter Dr. Zoller legte seine Vorermittlungen Bundesinnenminister Gerhard Schröder vor (6). Dieser wies die Gesundheitsabteilung an, detaillierte Erhebungen über die Missbildungen der letzten Jahre in allen elf Bundesländern zu veranlassen.
Im August 1958 wurden die zuständigen Landesministerien aufgefordert, die Frage eingehend zu prüfen (7). Diese Aufgabe gestaltete sich angesichts fehlender Daten nicht einfach. In Baden-Württemberg wurden die Hebammentagebücher durchgesehen und die großen Frauenkliniken angeschrieben. In Stuttgart wurden alle Entbindungen seit 1915 statistisch ausgewertet, danach konnte „von einer Zunahme der Missgeburten nicht gesprochen“ werden. In Bayern wurde die Anfrage mit besonderer Sorgfalt bearbeitet, hatte doch ein Bayreuther Arzt den Stein ins Rollen gebracht (8). Neben den Kliniken hatten auch alle 53 ärztlichen Kreisverbände Erhebungen anzustellen. Die Geburten wurden bis 1935 zurückverfolgt, ohne dass die ermittelten Zahlen Hinweise für eine Zu- oder Abnahme der Fehlbildungen ergeben hätten. Der „Münchener Merkur“ glaubte, Entwarnung geben zu können, und überschrieb am 25. Oktober 1958 einen entsprechenden Zeitungsbericht mit der Schlagzeile: „Übertriebene Angst vor Missbildungen“.
Die Umfragen in Hessen, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Niedersachsen und den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin erbrachten ähnliche Ergebnisse.
Der Parlamentsbericht
entkräftet Befürchtungen
Das Ministerium befragte auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie über ihre Erfahrungen. Deren Vorsitzender, der Frankfurter Prof. Dr. med. Hans Naujoks, konnte keine Zunahme feststellen (9). Im Januar 1959 nahm die Bundesärztekammer Stellung (10). Der Vorsitzende der „Atomkommission“, Dr. med. Paul Eckel, konnte die Zunahme von Fehlbildungen Neugeborener nicht bestätigen, gleichwohl verwies er auf einen Beschluss des Deutschen Ärztetages, der 1958 dringend eine Einstellung der Kernwaffenversuche gefordert hatte.
Nach Abschluss der Ermittlungen verfasste Zoller einen Bericht für den Deutschen Bundestag. Am 18. März 1959 konnten die Abgeordneten sich ausführlich über „die Häufigkeit und die Ursachen von Missgeburten in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950“ informieren. Die sorgfältige Aufarbeitung der eigens erhobenen Statistiken und der wissenschaftlichen Literatur war vorbildlich. Der Bericht verzeichnete eine Zunahme der Missbildungshäufigkeit seit Anfang des Jahrhunderts, allerdings hätten die Fehlbildungen nach den Kriegen wieder abgenommen (11). Seit 1950 sei „nicht nur keine Zunahme, sondern an manchen Entbindungsanstalten sogar eine Abnahme der Missgeburtenhäufigkeit zu verzeichnen“ gewesen. Von den Experten würde allgemein „die begründete Auffassung vertreten, dass es bisher beim Menschen kein äußeres Ereignis“ gäbe, „durch das in den letzten zehn Jahren Missbildungen gehäuft entstanden sein könnten“.
Nach getaner Arbeit hätte das Ministerium nun die Akte schließen können. Aber trotz der in der Öffentlichkeit verbreiteten Sicherheit blieb eine nicht fassbare, untergründige Stimmung, die das Gefühl erzeugte, an den Vermutungen Becks könnte doch etwas Wahres sein. Nach der Lektüre des Berichts für den Bundestag meldete sich der international bekannte Freiburger Pathologe Prof. Dr. med. Franz Büchner zu Wort (12). Er kritisierte Einzelheiten des Berichts und prophezeite, dass „die Fragen der Missbildungshäufigkeit und der Missbildungsentstehung . . . nicht zur Ruhe kommen“ würden. In einem Brief an Innenminister Schröder bat er um Unterstützung eines von ihm bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) angeregten Arbeitskreises, der sich mit diesem Themenkomplex beschäftigte. Das Ministerium (13) bat die DFG im September 1959, die „erforderlichen Untersuchungen und Arbeiten in geeigneter Weise einzuleiten“. Zu diesem Zeitpunkt hatten 90 Kinder mit Contergan-Schäden das Licht der Welt erblickt. Als das Thema der Missbildungen im Herbst jenes Jahres innerhalb der Westeuropäischen Union (WEU) diskutiert wurde, verwies das Ministerium auf den Arbeitskreis der DFG und empfahl auch, „den anderen Mitgliedstaaten der WEU“ entsprechende Kommissionen zu gründen (14).
Obschon angesichts der Datenlage der Beweis erbracht erschien, dass die Missbildungen nicht zugenommen hatten, zeigten sich am Horizont die ersten Anzeichen der heraufziehenden Contergan-Katastrophe. Nachdem mehrere Aufsätze zur Missbildungsfrage in der medizinischen Fachpresse erschienen waren, wandte sich das Ministerium im Oktober 1960 erneut an die DFG und bat um Auskunft, welche Ergebnisse der Arbeitskreis zur Missbildungshäufigkeit erzielt habe (15). Die Antwort war enttäuschend: Der von Prof. Büchner erwähnte Arbeitskreis sollte erst gegründet werden (16). Die Erwartung des Innenministeriums, dass die von der Behörde angestoßenen epidemiologischen Forschungen an kompetenter Stelle fortgeführt würden, hatte sich nicht erfüllt. Dabei nahm die Zahl der Neugeborenen mit Fehlbildungen von Tag zu Tag zu.
Verwirrende Sachlage
Im Januar 1961 wurde einer Hamburger Familie als zweites Kind ein Sohn ohne Arme geboren. Nachdem in Hamburg drei weitere Kinder mit ähnlichen Fehlbildungen zur Welt kamen, wandte sich der Vater im Sommer 1961 an den Bundestagspräsidenten (17). Er vermutete einen Zusammenhang mit den Atombombenversuchen und bat diesen, „keinerlei Mühe“ zu scheuen, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, „ob die Atomstrahlen . . . eine Gefahr für unsere Kinder“ darstellten. Sein Schreiben gelangte endlich wieder zu Dr. Zoller. Die Informationen, die er in den letzten Monaten erhielt, konnten immer weniger durch seine Erhebungen erklärt werden. Doch was sollte er tun? Zoller informierte den Vater über das Ergebnis der parlamentarischen Anfrage und verwies darauf, dass „eine Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft gebildet worden (sei), die sich in Zusammenarbeit mit der internationalen Forschung mit diesen Fragen“ beschäftige.
Als der Marburger Orthopäde Prof. Dr. med. Gerhard Exner zwei Wochen vor Aufklärung der Ursache der Contergan-Schädigung um die Übersendung der Bundestagsdrucksache nachsuchte, da in seiner Klinik mehrere behinderte Kinder geboren worden waren, bat Zoller eindringlich um Überlassung künftiger Untersuchungsergebnisse (18).
Aufdeckung der Teratogenität
Die Aufdeckung der Ursachen der Contergan-Schädigung sollte die westdeutsche Gesellschaft verändern. Der weit verbreitete Fortschrittsglaube erhielt einen ersten Dämpfer, die Gefahren der Arzneimittel rückten in das Interesse der Öffentlichkeit und der Gesetzgebung. In der sich anbahnenden Kapitalismuskritik der 1960er-Jahre war Contergan das Paradebeispiel für profitgierige Konzerne. Das Ministerium für Gesundheitswesen wurde eher zufällig zu diesem Zeitpunkt gegründet. In der Öffentlichkeit wurde der Gesundheitsabteilung des Innenministeriums der Vorwurf gemacht, die Katastrophe nicht rechtzeitig erkannt zu haben.
Dabei waren die Vorwürfe im Wesentlichen unbegründet. Die demokratischen Institutionen der jungen Bundesrepublik hatten sich bestens bewährt. Bei einem geringfügig verschobenen Zeithorizont hätte die frühzeitige Aufklärung über die teratogene Wirkung des Thalidomid die Leistungsfähigkeit der Kontrollorgane unter Beweis gestellt. Aber die Experten erhoben ihre Daten exakt bis zum Beginn der Katastrophe. Danach sahen sie den „Wald vor lauter Bäumen“ nicht. Sie vertrauten ausschließlich auf die „harten Fakten“ der Epidemiologie und die langjährige wissenschaftliche Statistik. Die nicht dazu passenden Einzelfälle wurden als Bestätigung der Regel interpretiert.
Im Frühjahr 1959 stand in einem überzeugenden Parlamentsbericht, dass die Zahl der fehlgebildeten Kinder nicht zugenommen habe. Eltern, die sich danach an die Gesundheitsbehörden wandten, konnten nun mit gutem Gewissen auf die offizielle Publikation hingewiesen werden. Die Öffentlichkeit war immunisiert, „die Angst vor Missbildungen“ wurde als übertrieben abgetan. Die Contergan-Katastrophe nahm ihren ungehinderten Lauf.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2007; 104(41): A 2778–82
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Thomann
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik
der Medizin
Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
Am Pulverturm 13, 55131 Mainz
E-Mail: kdthomann@ivm-versicherungsmedizin.de+
1.
Kirk B: Der Contergan-Fall: eine unvermeidliche Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid. (Greifswalder Schriften zur Geschichte der Pharmazie und Sozialpharmazie, hrsg. v. C. Friedrich. Stuttgart 1999). Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum (Hrsg.): Die Contergankatastrophe – eine Bilanz nach 40 Jahren. Darmstadt 2005.
2.
Anzeigen der Firma Grünenthal in der Hauszeitschrift „Die Waage“ 1959/1960, 1.
3.
NN: Zum Schutz der Ungeborenen. In: Schwäbische Landeszeitung, 10.5.1958.
4.
Beck KF: Missbildungen und Atombombenversuche. Stuttgart 1958.
5.
Antrag der Fraktion der FDP betr. Zunahme von Missgeburten. Dt. Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 386.
6.
Bericht des Referates IV A 3 an den Innenminister vom 11.6.1958. Bundesarchiv Koblenz, B 142-474.
7.
Schreiben des Bundesinnenministeriums an die für das Gesundheitswesen zuständigen obersten Landesbehörden vom 7.8.1958. Bundesarchiv Koblenz, B 142-474.
8.
Bayerische Staatsministerium des Inneren an das Bundesinnenministerium vom 12.11.1958. Bundesarchiv Koblenz, B 142-474.
9.
H. Naujoks an das Bundesinnenministerium vom 28.10.1958, Bundesarchiv Koblenz, B 142-474.
10.
Bundesärztekammer an Bundesinnenministerium vom 16.1.1959, Bundesarchiv Koblenz, B 142-474.
11.
Deutscher Bundestag 3. Wahlperiode, Drucksache 954: Bericht über die Häufigkeit und die Ursachen von Missgeburten in der der Bundesrepublik Deutschland seit 1950.
12.
F. Büchner an das Staatssekretariat des Bundeskanzleramtes (Dr. Dr. Janz) vom 2.6.1059. BA Koblenz B 142-474-II.
13.
Bundesinnenministerium an F. Büchner, BA Koblenz B 142-474-II.
14.
Internes Schreiben betr. Note des Vereinigten Königreiches vom August 1959. Siehe auch: Bundesinnenministerium an F. Büchner v. 5.9.1959.
15.
Bundesministerium des. Inneren an DFG vom 13.10.1960, BA Koblenz B 142-474-II.
16.
DFG an Bundesinnenministerium vom 17.10.1960, BA Koblenz B 142-474-II.
17.
N. A. an Bundestagspräsidenten vom 30.8.1961, BA Koblenz B 142-474-II.
18.
Bundesinnenministerium an G. Exner vom 13.11.1961, BA Koblenz B 142-474-II.
19.
Lenz W: Diskussionsbemerkung von Privatdozent Dr. W. Lenz, Hamburg zu dem Vortrag von R. A. Pfeiffer und K. Kosenow: Zur Frage der exogenen Entstehung schwerer Extremitätenmißbildungen. Tagung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärztevereinigung in Düsseldorf am 19.11.1961.BA Koblenz B 189-11733.
Bogdanski, Joachim
Zierer, Otto
Jacobi, Gert