THEMEN DER ZEIT
Ärztliche Betreuung von Obdachlosen: Bitte nüchtern zur Blutabnahme erscheinen


Schwester Ogmunda hat keine Berührungsängste. Neben der ärztlichen Versorgung ist es wichtig, sich eingehend um die Sorgen der obdachlosen
Patienten zu kümmern. Fotos: dpa
„Frau Doktor, ich hab da ein narrisches Problem: Ich hab Angst, dass ich hopsgeh.“ Dr. Mechthild Nowottnick hört aufmerksam zu, nickt eindringlich und notiert sich etwas auf einer gelben Karteikarte. Der aufmerksame Blick der Ärztin ist auf den 58-jährigen Patienten gerichtet. Der Mann macht sich Sorgen wegen seines Bluthochdrucks. Er legt zum Messen seine speckige Lederjacke ab, und dünne Ärmchen kommen zum Vorschein. Dr. Nowottnick kneift leicht ihre blaugrünen Augen zusammen, als wolle sie dadurch besser verstehen. Der Mann ist dünn, zu dünn. „Darüber müssen wir noch einmal sprechen“, sagt sie ihm und betont dabei jede Silbe ganz deutlich. „Ja, Frau Doktor, ich weiß. Ich bin magersüchtig.“ Er sitzt da und spielt mit seinen Händen. Leicht verlegen beginnt er den Dreck unter seinen dicken, gelben Fingernägeln zu pulen und fragt, ob er noch etwas gegen seine Depressionen bekommen könnte. Bei einem Facharzt sei er aber noch nicht gewesen, erzählt er auf Nachfragen. „Ich schäme mich...“ In Nowottnicks offenem und attraktivem Gesicht bilden sich kleine Denkfältchen. Sie klemmt ihre halblangen braunen Haare hinters Ohr und denkt kurz nach. „Überlegen Sie, ob Sie sich etwas antun?“, fragt sie ihn direkt. „Ja, Frau Doktor, mit Ihnen kann ich ja offen reden. Gestern hab I den ganzen Tag auf'm Bett g’legen und mir dacht: Ich hab koan Bock mehr.“ Er habe zehn Jahre an der Nadel gehangen. Von seiner Freundin habe er sich vor Kurzem getrennt. Sie habe ihm zu viel gehascht, erklärt er. „Davon wird man doch a’ Psycho!“ Dr. Nowottnick blättert in ihrem schwarzen Adressbuch und findet schließlich die Telefonnummer der psychiatrischen Betreuung für Obdachlose. Der Mann lächelt, als sie ihm anbietet, dort direkt einen Termin für ihn zu vereinbaren. „Den müssen’s mir aber aufschreiben. Ich bin da a bissel vergesslich – aber net dumm!“ Ob er wirklich zu den vereinbarten Terminen geht, weiß Nowottnick nicht – hofft es aber. Manchmal sei die Mühe auch vergebens. Häufig sind Dr. Mechthild Nowottnick und Dr. Irene Frey-Mann, die die ungewöhnliche Praxis ärztlich leitet, mehr als nur Ärztinnen für ihre Patienten – vor allem, da in vielen Fällen eine Familie fehlt, die die Menschen auffängt. Da wird das Haus mit der Praxis und der kostenlosen Kleider- und Essensausgabe schon einmal zur Ersatzfamilie. Die Patienten sind daher froh, dass sie die Anlaufstelle im Sankt Bonifaz seit nun mehr als zehn Jahren haben.
"Manche mögen ja glauben, dass diese Leute einfacher sind, aber in Wahrheit sind sie viel komplexer und vielschichtiger."
Die Praxis ist ein geschützter Raum, hier begegnet man den Obdachlosen auf Augenhöhe: Allerdings gibt es keine Tabus, alles wird offen angesprochen. Ein Mann – Mitte 40 – mit stechend blauen Augen und verfilztem Haar hat sich den Fuß gebrochen und erst versucht, es mit einer Salbe zu behandeln. Erst nach einer Woche ist er in die Praxis gekommen. „Wie ist das passiert?“, fragt ihn die zierliche 60-jährige Irene Frey-Mann resolut. „Das weiß ich nicht mehr...“ „War’s im Suff?“ Er sieht ihr direkt in die Augen: „Ja“, antwortet er und lacht. Seine Hand streicht durch das dunkelblonde Bärtchen. Also doch eine kleine Verlegenheitsgeste. Sie schickt ihn zum Röntgen und gibt ihm Schmerzmittel. „Aber nicht auf nüchternen Magen nehmen!“, warnt sie. „Ach, ich soll vorher was trinken?“
Die ärztliche Sprechstunde ist täglich von 8.30 bis 12.00 Uhr. Viele Obdachlose nutzen zudem die kostenlose Essensausgabe. Pro Tag kommen etwa 150 bis 200 Personen, um eine warme Mahlzeit zu erhalten.
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13 Uhr. Der letzte Patient ist gerade gegangen. Die Wurschtel-Schwester und Dr. Nowottnick sitzen noch in der Kantine zusammen und essen zu Mittag. Das gehört dazu – man muss sich noch austauschen. Dr. Nowottnicks Augen sind leicht von den Kontaktlinsen gerötet und streifen wie Scheinwerfer hin und her. Schließlich finden sie auf ihrem Becher Halt. Sie überlegt und fängt an zu schmunzeln: „Manche mögen ja glauben, dass diese Leute einfacher sind, aber in Wahrheit sind sie viel komplexer und vielschichtiger. Das macht die Arbeit hier so spannend.“ Allerdings kostet in dieser kleinen Praxis mit ungefähr 6 000 Behandlungen pro Jahr alles viel Zeit. „Dann brauchen die noch ein Attest und eine Überweisung. Das dauert dann immer, und wir haben nur einen Computer.“ Für das persönliche Gespräch nimmt sie sich aber gerne Zeit für ihre Patienten und liest noch einmal nach und erklärt ruhig. „Ich will die Menschen ja auch ein bisschen kennenlernen. Und manche fangen erst an zu erzählen, wenn man etwas länger mit ihnen sitzt.“ Hier gibt es noch das breite Spektrum der Allgemeinmedizin, wie man es sich eigentlich vorstellt. Und sie habe noch die Möglichkeit, sich intensiv um die Patienten zu kümmern.
Sunna Gieseke
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