ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2007Gefährdungen durch Nadelstichverletzungen

MEDIZIN: Übersichtsarbeit

Gefährdungen durch Nadelstichverletzungen

Betrachtung aus arbeitsmedizinischer und virologischer Sicht

Risk of Needlestick Injuries from an Occupational Medicine and Virological Viewpoint

Wicker, Sabine; Gottschalk, René; Rabenau, Holger F.

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LNSLNS Zusammenfassung
Einleitung: Nadelstichverletzungen (NSV) zählen zu den häufigsten Arbeitsunfällen der Mitarbeiter des Gesundheitswesens. Sie stellen für die Betroffenen eine ernstzu-nehmende Gefährdung dar. Sofern die medizinischen Arbeitsgeräte mit Blut oder anderen Körperflüssigkeiten kontaminiert sind, besteht das Risiko einer Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus (HBV), Hepatitis-C-Virus (HCV) oder dem humanen Immundefizienzvirus (HIV). In Deutschland kommt es jedes Jahr zu schätzungsweise 500 000 Nadelstichverletzungen; diese verursachen Kosten von etwa 50 Millionen Euro. Methoden: Selektive Literaturaufarbeitung und Analyse einer aktuellen Studie zu Nadelstichverletzungen am Universitätsklinikum Frankfurt. Die Daten der Frankfurter Nadelstichstudie wurden mittels eines anonymen Fragebogens erhoben. Ergebnisse: Innerhalb der letzten 12 Monate hatten 31,5 % (n = 503/1 598) der Befragten mindestens eine Nadelstichverletzung erlitten. Diskussion: Die möglichst vollständige und lückenlose Erfassung von Nadelstichverletzungen ist eine Voraussetzung, um risikoträchtige Tätigkeiten zu identifizieren und um suffiziente präventive Maßnahmen – zum Beispiel die Einführung sicherer Instrumente sowie die Schulung der Beschäftigten – zu implementieren.
Dtsch Arztebl 2007; 104(45): A 3102–7
Schlüsselwörter: Gesundheitsberufe, Virusinfektionen, Nadelstichverletzungen, medizinsche Instrumente, TRBA 250

Summary
Risk of Needlestick Injuries from an Occupational Medicine and Virological Viewpoint
Introduction: Occupational exposure to blood is a common problem among health care workers. Needlestick injuries are a significant health hazard. If medical devices are contaminated with blood or other body fluids, there is a risk of transmission of hepatitis B virus (HBV), hepatitis C virus (HCV), and human immunodeficiency virus (HIV). In Germany, approximately 500 000 needlestick injuries occur among health care workers annually. The resulting costs are about 50 million euros. Methods: Selective literature review and analysis of a study carried out at Frankfurt University Hospital. The Frankfurt needlestick study data were obtained by anonymous questionnaire survey. Results: In the Frankfurt needlestick study 31.5% (n = 503/1 598) of participant health care workers had sustained at least one needlestick injury in the last 12 months. Discussion: Complete exposure surveillance is necessary to identify high-risk activities and work environments to define new targets for preventive measures, such as the implementation of safety devices and training in safe working procedures.
Dtsch Arztebl 2007; 104(45): A 3102–7
Key words: bloodborne viruses, health care workers, needlestick injuries, medical devices, technical Rule 250


Virale, durch Blut übertragbare Infektionen treten bei medizinischem Personal berufsbedingt weltweit auf. Dabei sind Nadelstichverletzungen (NSV) eine der häufigsten Übertragungswege für diese Infektionen. Das Ausmaß des Gefährdungspotenzials hängt wesentlich von der Prävalenz der viralen Erreger bei den Patienten und der daraus resultierenden potenziellen Möglichkeit eines infektiösen Kontaktes ab (1).
Prävalenz via Blut
übertragbarer Infektionen
Weltweit sind circa 300 bis 420 Millionen Menschen, das heißt 5 bis 7 % der Weltbevölkerung, chronisch mit HBV infiziert (HBs-Antigen-positiv) und damit potenziell infektiös. Während in manchen Regionen Asiens bis weit über 10 % der Bevölkerung HBs-Antigen-Träger sind, wird die Zahl in Deutschland auf circa 0,4 bis 0,8 % beziffert – das heißt auf circa 400 000 bis 500 000 Personen. Mit Hepatitis C sind nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit circa 100 bis 130 Millionen Menschen chronisch infiziert. Die HCV-Prävalenz beträgt in einzelnen Ländern, zum Beispiel Ägypten, bis zu 20 %. Demgegenüber weist Deutschland mit 0,4 bis 0,7 % eine niedrige Prävalenz auf. Man geht in Deutschland von 400 000 bis 500 000 HC-Virusträgern (HCV-PCR positiv; PCR, Polymerasekettenreaktion) aus.
Nach Schätzungen von UNAIDS (Aids-Bekämpfungsprogramm der Vereinten Nationen, United Nations Programme on HIV/Aids) und der WHO hatten im Jahr 2006 etwa 40 Millionen Menschen weltweit eine HIV-Infektion oder Aids; 4,3 Millionen infizierten sich neu mit dem HI-Virus. Mehr als 95 % aller HIV-Infizierten leben in Entwicklungsländern. In Deutschland sind nach Schätzung des Robert Koch-Institutes (RKI) derzeit circa 56 000 Menschen mit HIV infiziert, circa 2 700 Menschen haben sich im Jahr 2006 neu mit HIV angesteckt (1).
Verletzungshäufigkeit
Weltweit sind 35 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen potenziell durch NSV gefährdet. Beruflich bedingt sind nach Berechnungen von Prüss-Üstün et al. jährlich circa 2,1 Millionen Mitarbeiter durch perkutane Verletzungen dem HB-Virus ausgesetzt. Für HCV betrifft die Exposition etwa 926 000 und für HIV bei ungefähr 327 000 Mitarbeiter (2).
In Deutschland waren im Jahr 2005 circa 4,3 Millionen Menschen und damit etwa jeder neunte Beschäftigte im Gesundheitswesen tätig. Für einen Großteil dieser Mitarbeiter besteht täglich das Risiko einer NSV. Man nimmt an, dass jedes Jahr rund 500 000 NSV bei den Mitarbeitern des Gesundheitswesens vorkommen (3). Trotz des mitunter erheblichen Infektionsrisikos werden NSV jedoch nur selten gemeldet. Der Anteil dieses sogenannten „Underreporting“ wird international auf 26 bis 90 % geschätzt – für Deutschland auf etwa 90 % (4, 5, 6). Die Ursachen dieser Meldedefizite sind vielfältig und erschweren die Ermittlung der Inzidenzrate. Gründe für das Underreporting sind unter anderem die Annahme eines geringen Risikos durch die Ärzte und die Selbstversorgung von Verletzungen ohne Einbindung und Information eines D-Arztes (7).
Nach einer deutschen Studie wurden 0,98 NSV pro Jahr und Mitarbeiter ermittelt (8). Die Schwankungsbreite solcher Angaben ist erheblich und bewegt sich, je nach Studie, auf 1 Unfall pro Mitarbeiter innerhalb von 2 Jahren bis zu 1 NSV pro Tag bei einem operativ tätigen Chirurgen (5, 8, 9, 10).
In einer Studie des Universitätsklinikums Frankfurt hatten innerhalb der letzten 12 Monate 31,5 % der Befragten mindestens 1 NSV erlitten. 978 NSV wurden im Rahmen einer Fragebogenerhebung angegeben (Range: 1–55 NSV/12 Monaten). Man fand deutliche Unterschiede innerhalb der einzelnen Fachrichtungen (Grafik 1).
Betrachtet man die einzelnen Berufsgruppen, hatten Ärzte insgesamt das höchste Risiko einer NSV. 49,9 % der befragten Ärzte nannten mindestens 1 NSV innerhalb der letzten 12 Monate. In anderen Studien werden hingegen häufig Mitarbeiter aus dem pflegerischen Bereich als diejenigen aufgeführt, die am häufigsten von NSV betroffen sind. Diese Verschiebung ist unter anderem auf das Underreporting zurückzuführen – insbesondere im ärztlichen Bereich – sowie auf eine mangelnde Berücksichtigung von Überstunden und Teilzeitkräften (Basis: Äquivalent der Vollzeitkraft [ÄV]). Durch Überstunden sind die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden höher als die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit. Würde man diesen höheren Arbeitsaufwand zugrunde legen, wäre die Dauer der Gefährdung wesentlich genauer wiedergegeben. Das Äquivalent der Vollzeitarbeitskraft insgesamt und in den einzelnen Berufsgruppen würde eine bessere Gefährdungsabschätzung ergeben als die Anzahl der Beschäftigten. Eine Schweizer Studie zeigte, dass Ärzte unter Berücksichtigung des ÄV ein fünfmal höheres NSV-Risiko als Krankenschwestern aufweisen (11,05/ÄV/Jahr versus 2,23 ÄV/Jahr) (7).
Infektionsrisiko
nach beruflicher Exposition
Das Infektionsrisiko nach einer NSV ist abhängig von:
- dem Infektionsstatus des Indexpatienten (Viruslast)
- dem Immunstatus des Mitarbeiters
- der Verletzungstiefe
- der Dauer des Kontaktes
- dem Zeitintervall zwischen Verletzung und Reinigung
- prophylaktischen Maßnahmen.
Das Risiko einer NSV-bedingten Infektion errechnet sich aus Prävalenz und Serokonversionsrate. Die Serokonversionsrate nach NSV wird bei HBV auf circa 30 bis 100 %, bei HCV auf etwa 3 % und bei HIV auf unter
0,3 % geschätzt. Das Risiko einer HIV-Übertragung kann jedoch durch verschiedene Faktoren deutlich erhöht werden – so ist es zum Beispiel bei einer sehr tiefen Schnitt- oder Stichverletzung etwa um das 16-fache, oder wenn die verletzende Kanüle oder Nadel vorher in einem Blutgefäß platziert war, circa um das 5-fache erhöht.
Die Prävalenz der via Blut übertragbaren Erreger ist bei Klinikpatienten in der Regel deutlich höher als in der „Normalbevölkerung“. Nach einer Erhebung des Universitätsklinikums Freiburg beträgt bei HBV-Ungeimpften das Risiko für eine Infektion nach einer NSV mit HBV 1 : 23, für eine HCV-Infektion 1 : 147 und für eine Infektion mit HIV 1 : 9 000 (6).
Wenngleich HBV, HCV und HIV im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sollte man nicht vergessen, dass neben diesen Viren weitere Erreger während einer Infektion temporär virämisch auftreten können. Zu diesen Erregern zählen das Hepatitis-A-Virus, Hepatitis-D-Virus, Zytomegalievirus, Epstein-Barr-Virus, Parvovirus B19, HTLV 1/2, Enteroviren und Dengueviren. Bei diesen Viren ist das Risiko einer Infektionsübertragung durch eine NSV jedoch eher niedrig (11).
Postexpositionsprophylaxe
Nach beruflicher Exposition gegenüber HBV, HCV oder HIV sollten sowohl der Patient, von dem das (potenziell) infektiöse Material stammt (Indexpatient), als auch der Exponierte serologisch und gegebenenfalls molekularbiologisch (nach)untersucht werden (12).
Während für HBV die Option einer Impfung und für HBV und HIV die Möglichkeit einer postexpositionellen Prophylaxe besteht, ist dies für HCV nicht möglich. Hier kann man bei erfolgter Infektion lediglich durch eine Frühtherapie der Chronifizierung entgegen wirken.
Infektionen
Trotz der Möglichkeiten einer PEP und präventiver Maßnahmen wie der HBV-Impfung kommt es durch beruflich bedingte Expositionen weltweit zu schätzungsweise 66 000 HBV-, 16 000 HCV- und 1 000 HIV-Infektionen. Diese treten überwiegend in Ländern auf, in denen für das medizinische Personal keine ausreichenden Schutz- beziehungsweise Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Infolge dieser berufsbedingten Infektionen kommt es pro Jahr zu geschätzten 261 frühzeitigen Todesfällen durch HBV, 145 durch HCV und 736 durch HIV. Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass beruflich bedingte Infektionen circa 37 % der HBV-, 39 % der HCV- und 4,4 % der HIV-Infektionen bei Mitarbeitern im Gesundheitswesen verursachen (2).
Beruflich bedingte virale Infektionen treten in Deutschland bei Beschäftigten des Gesundheitsdienstes nur selten auf beziehungsweise werden als solche nur in begrenztem Maße erkannt oder als Berufskrankheit angesehen. So wurden im Jahr 2005 insgesamt 119 berufsbedingte HCV- und 40 HBV-Infektionen durch die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) anerkannt. Die BGW versichert in Deutschland schätzungsweise die Hälfte der im Gesundheitsbereich tätigen Mitarbeiter. Ein weiterer Unfallversicherungsträger – der Bundesverband der Unfallkassen – hat im Jahr 2004 insgesamt 16 Fälle einer akuten Hepatitis B, 20 Fälle einer akuten Hepatitis C, 53 Fälle einer chronischen Virushepatitis B/C sowie 5 HIV-Erkrankungen anerkannt. Insgesamt wurden in Deutschland bisher 57 HIV/AIDS-Erkrankungen bei Beschäftigten im Gesundheitswesen als Berufserkrankung sowohl von BGW als auch Unfallkassen anerkannt (13).
Kosten
NSV verursachen in Deutschland jährlich hohe Kosten. Die durchschnittlichen Aufwendungen einer gemeldeten NSV werden auf knapp 500 Euro beziffert (14). Die BGW hat im Jahr 2003 rund 3,1 Millionen Euro für Heilbehandlungen, etwa 81 000 Euro für berufliche Rehabilitationsmaßnahmen und rund 11 Millionen Euro für Rentenzahlungen bei durch Blut übertragenen Virusinfektionen bezahlt. Entsprechend detaillierte Angaben von den Landesunfallkassen liegen nicht vor.
Auch die Kosten durch nicht gemeldete NSV sind hoch. Sie werden pro NSV mit mehr als 50 Euro angegeben und basieren auf der hochgerechneten Zahl der Mitarbeiter, die sich zunächst unerkannt infizieren und später therapiert werden müssen (15). Die Gesamtkosten durch gemeldete und nicht gemeldete NSV belaufen sich in Deutschland auf circa 50 Millionen Euro. Die Mehrkosten für die Einführung sicherer Instrumente liegen in einem ähnlichen Bereich, allerdings lassen sich durch ihren Gebrauch rund 85 % der NSV verhindern (16).
Rechtliche Situation
In Deutschland wollte der Gesetzgeber bereits im Jahr 2003 die Mitarbeiter des Gesundheitswesens besser vor Infektionen durch NSV schützen und hat mit der Technischen Regel für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA 250) Vorgaben zum Einsatz von sicheren Instrumenten veröffentlicht (17). Zu solchen sicheren Produkten zählen zum Beispiel Systeme, die spitze oder scharfe Instrumententeile verhüllen, oder bei denen das Herausziehen des Instruments die spitze Kanüle automatisch abstumpfen lässt oder diese in eine Schutzhülle einzieht. Selbstaktivierende Sicherheitssysteme – hier aktiviert sich der Sicherheitsmechanismus automatisch – sind empfehlenswert, jedoch nicht für alle Anwendungsbereiche erhältlich.
Darüber hinaus gibt es sichere Instrumente, bei denen der Schutzmechanismus erst durch den Anwender aktiviert werden muss, wie zum Beispiel der Klappmechanismus einer Kanülenschutzkappe sowie Spritzen oder Blutentnahmesysteme mit automatischem Kanüleneinzug. Auch diese Instrumente bieten einen zuverlässigen Schutz sobald der Sicherheitsmechanismus in Gang gesetzt wurde.
Die aktuelle Fassung der TRBA 250 fordert, dass bei der Behandlung von Patienten, bei denen eine Infektion mit Erregern der Risikogruppe 3 (zum Beispiel HBV und HIV) oder höher nachgewiesen wurde, sichere Instrumente eingesetzt werden müssen. Sicherheitsprodukte sind darüber hinaus in der Notfallaufnahme, im Rettungsdienst sowie bei der Behandlung von fremdgefährdenden Patienten und in Gefängniskliniken zu verwenden. Sichere Instrumente sind aber auch bei allen Tätigkeiten zu benutzen, bei denen Körperflüssigkeiten in infektionsrelevanter Menge übertragen werden können. Explizit nennt die TRBA 250 in diesem Kontext Blutentnahmen sowie sonstige Punktionen zur Entnahme von Körperflüssigkeiten. Abweichungen hiervon sind nur begrenzt möglich. Die seit August 2006 gültige, geänderte TRBA 250 lies eine Übergangsfrist für das Aufbrauchen vorhandener Bestände spitzer oder scharfer medizinischer Instrumente bis zum 1. August 2007 zu. Bei Nicht-Umsetzung kann die Institution im Sinne eines Organisationsverschuldens zur Rechenschaft gezogen werden.
Die TRBA und die gleichlautenden Regeln der Unfallversicherer gelten, wie fast alle Arbeitsschutzvorschriften, nur für abhängig Beschäftigte. Der Arbeitgeber selbst, also zum Beispiel der niedergelassene Arzt, ist nicht an diese Vorschriften gebunden. Er muss diese jedoch zum Schutz seiner Mitarbeiter umsetzen. Falls der Arzt Blutentnahmen oder Injektionen selbst durchführt, ist er nicht verpflichtet, die TRBA 250 einzuhalten. Dies betrifft jedoch ausschließlich die eigene Person (16).
Vor dem Hintergrund der Neufassung der TRBA 250 wurde am Universitätsklinikum Frankfurt am Main vom Betriebsärztlichen Dienst und dem Institut für Medizinische Virologie eine Gefährdungsanalyse bezüglich NSV erstellt. Ziel der Studie war die Erhebung der Zahl sowie der Ursachen von NSV und die Evaluation präventiver Maßnahmen.
Die Ergebnisse der Frankfurter Nadelstichstudie unterstreichen die Relevanz von NSV und die Sinnhaftigkeit von sicheren Instrumenten.
Innerhalb der letzten 12 Monate hatten 31,5 % der Befragten (n = 503/1 598) mindestens eine NSV erlitten. Das Risiko einer NSV war abhängig von der Art der Tätigkeit: Die venöse (n = 219/978) und die kapilläre (n = 190/978) Blutentnahme wurden am häufigsten als unfallverursachende Tätigkeiten benannt (Grafik 2).
In der Frankfurter Nadelstichstudie ermittelte man, welche NSV mithilfe von sicheren Produkten vermeidbar gewesen wären. Dabei wurde differenziert nach: höchstwahrscheinlich, vielleicht oder nicht vermeidbar (Einteilungskriterien siehe [18]). Durchschnittlich 50,3 % der Verletzungen hätten durch sichere Produkte vermieden werden können. Dabei zeigten sich innerhalb der einzelnen Fachdisziplinen signifikante Unterschiede: In der Inneren Medizin wären 91,2 % der NSV vermeidbar gewesen, in der Neurologie/Psychiatrie 66,3 %. In der Chirurgie wären jedoch lediglich 11,9 % und in der Pathologie/Rechtsmedizin nur 16,1 % der NSV höchstwahrscheinlich vermeidbar gewesen (Grafik 3).
Durch organisatorische Maßnahmen wie zum Beispiel der Optimierung bei der Entsorgung spitzer und scharfer Gegenstände hätten nach dieser Studie lediglich 15,2 % (n = 149/978) der Nadelstichverletzungen vermieden werden können (Grafik 4).
Sichere Instrumente
Sichere Instrumente reduzieren das Infektionsrisiko für Beschäftigte im Arbeits- und Gesundheitsdienst und verbessern den Schutz der Patienten. Zahlreiche Studien haben den Nutzen von sicheren Instrumenten belegt (19, 20, 21). Derzeit stehen jedoch noch nicht für alle invasiven Tätigkeiten adäquate Sicherheitsinstrumente zur Verfügung. So sind in der Pathologie und Chirurgie noch technische Verbesserungen der Instrumente erforderlich, um eine sichere und funktionelle Nutzung zu ermöglichen.
Die meisten der in der Frankfurter Nadelstichstudie befragten Mitarbeiter waren davon überzeugt, dass sichere Instrumente ihre Arbeitssicherheit erhöhen und waren größtenteils (91,8 %) mit deren Handhabung zufrieden. Pflegekräfte beurteilten die sicheren Instrumente insgesamt besser (96,7 %) als das ärztliche Personal (87,6 %). Unter den befragten Ärzten waren knapp 90 % von einer Erhöhung der Arbeitssicherheit durch sichere Instrumente überzeugt (Grafik 5). Betrachtet man die einzelnen Fachgebiete, so waren die Mitarbeiter aus dem Zentrum für Innere Medizin mit 89,8 % davon am häufigsten überzeugt (Grafik 6).
Diese Einstellung ist insbesondere deshalb wichtig, weil eine Reduzierung von NSV nur erreicht werden kann, wenn die sicheren Instrumente von den Anwendern als praktikabel angesehen und damit auch eingesetzt werden (19).
Bei der Einführung sicherer Instrumente empfiehlt es sich, tätigkeitsbezogen vorzugehen, das heißt sie sollten je nach Art der invasiven Tätigkeit flächendeckend umgestellt werden, um einheitliche Arbeitsmittel verfügbar zu machen. Das Nebeneinander von sicheren und konventionellen Instrumenten für die gleiche Tätigkeit ist im Sinne eines adäquaten Arbeitsschutzes nicht zielführend. Häufig rotieren die Mitarbeiter während ihrer Ausbildung und sind im Rahmen von Bereitschaftsdiensten auf unterschiedlichen Stationen und in verschiedenen Einsatzbereichen tätig. Dies hätte zur Folge, dass sie sich gegebenenfalls an jedem Arbeitsplatz auf neue Gegebenheiten mit sicheren oder unsicheren Instrumenten einstellen müssten.
Doch auch bei sicheren Instrumenten gilt, dass sie keine 100-prozentige Sicherheit bieten. Eine Studie des Centers for Disease Control and Prevention zeigte, dass bis zu 5 % der NSV durch sichere Instrumente verursacht werden (22). Verletzungen mit sicheren Instrumenten können beispielsweise durch eine fehlerhafte oder fehlende Aktivierung des Sicherheitsmechanismus auftreten (23).
Fazit für die Praxis
Die berufliche Exposition gegenüber Blut ist ein häufiges und ernstzunehmendes Problem für medizinisches Personal. Nadelstichverletzungen bedeuten für die Betroffenen ein erhebliches Infektionsrisiko für via Blut übertragbare Erreger wie HBV, HCV und HIV (24). NSV können jedem im Gesundheitswesen Tätigen jederzeit passieren. Durch einen unglücklichen Umstand in einer einzigen Sekunde oder durch eine kurze Unaufmerksamkeit sowie durch die Verkettung von Einzelereignissen ergeben sich zahlreiche potenzielle Gefährdungssituationen (25). Organisatorische Maßnahmen wie beispielsweise Schulungen oder die Bereitstellung sicherer Entsorgungsbehälter dürfen zwar nicht vernachlässigt werden, sind jedoch im Vergleich zu sicheren Instrumenten weniger effektiv.
Es ist dringend geboten, die Mitarbeiter im Gesundheitsdienst vor NSV und durch Blut übertragbare Infektionen zu schützen. Zielführende und angemessene Veränderungen des Arbeitsablaufs, der Arbeitsgeräte sowie individuelle Mitarbeiterschulungen werden nachhaltige Effekte in der Prävention zeigen.

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 1. 6. 2007; revidierte Fassung angenommen: 30. 8. 2007

Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Sabine Wicker
Betriebsärztlicher Dienst
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main, Germany
E-Mail: Sabine.Wicker@kgu.de

The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt.de/english
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