ArchivDeutsches Ärzteblatt PP11/2007Suchtkranke Frauen: Teufelskreis der Hilflosigkeit

THEMEN DER ZEIT

Suchtkranke Frauen: Teufelskreis der Hilflosigkeit

Vogelgesang, Monika

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Foto: photothek
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Der Artikel beschreibt die Entwicklungsbedingungen für Abhängigkeitserkrankungen von Frauen und plädiert für frauenspezifische Therapiegruppen in Suchtkliniken.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schätzt, dass in Deutschland etwa ein Drittel derjenigen, die Alkohol in einer schädlichen Menge zu sich nehmen, weiblich sind. Dementsprechend liegt der Anteil an Patientinnen in stationären Entwöhnungstherapien und ambulanten Einrichtungen etwa bei 25 Prozent.
Vergleicht man die Geschlechter subgruppenübergreifend miteinander, so fällt auf, dass Frauen im Vergleich zu Männern eher heimlich trinken. Sie sind negativeren sozialen Reaktionen bezüglich einer Betrunkenheit in der Öffentlichkeit ausgesetzt. Aufgrund der Verinnerlichung des öffentlichen Urteils dominieren bei Frauen Schuld- und Schamgefühle, die dazu führen, dass sie etwas seltener als Männer gezielt therapeutische Suchtkrankenhilfe in Anspruch nehmen. Frauen setzen das Suchtmittel mehr als Männer im Sinne eines Medikaments ein, das heißt bewusst intendiert um dessen Wirkung willen. Frauen greifen häufig gezielt zu Suchtmitteln, um reibungslos funktionieren zu können und um ihren verschiedensten Aufgaben und sozialen Rollenanforderungen gerecht zu werden. Geselligkeits- und Genusstrinken spielen bei ihnen eine entsprechend weitaus geringere Rolle als bei Männern.
Süchtige Frauen sind eher depressiv und selbstunsicher, und sie neigen zu einer abhängigen Beziehungsgestaltung. Der Konfliktkreis Partner und Familie kommt bei ihnen wesentlich häufiger vor als bei suchtkranken Männern, ihre Ehen sind häufiger zerrüttet. Suchtverhalten ist neben psychosomatischen Auffälligkeiten häufig die einzige Möglichkeit von Frauen, Aufbegehren und Trotz auszudrücken. Diese verdeckte Form der Aggressivität nimmt ihnen scheinbar die Notwendigkeit, für sich auf eine reifere Weise einzustehen und richtet sich letztendlich immer gegen die Verursacherin selbst. Das Suchtmittel, das anfänglich als einzig verfügbare Hilfe in einer unerträglichen Situation angesehen wurde, nimmt den Frauen Antrieb und Kraft zur konstruktiven Veränderung und zwingt sie mittel- und langfristig dazu, in dieser destruktiven Situation zu verharren.
Viele Frauen geraten über einen süchtigen Partner in die Abhängigkeit. Dies gilt vor allem für diejenigen, die irgendwann im Laufe ihres Lebens ebenso wie der schon alkoholabhängige Partner in süchtiger Weise zur Flasche greifen, und für Mädchen und Frauen, die illegale Drogen einnehmen.
Zwischen Traditionalität
und Postmoderne
Die weibliche Sozialisation hat sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere durch bessere Bildung und effizientere Möglichkeiten der Berufs-, Familien- und Lebensplanung tiefgreifend verändert. Frauen haben mehr Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten, mehr Rechte, aber auch mehr und teilweise widersprüchlichere Verpflichtungen als zuvor. Biologische Faktoren können nicht eliminiert werden, alte Ideale sind noch wirksam, neue Entwürfe von Weiblichkeit existieren jedoch schon meist relativ unverbunden in den verschiedensten Ansätzen daneben. Die Übernahme von Haushaltspflichten, die Gestaltung der Partnerschaften, das familiäre und soziale Miteinander sowie häufig auch das weibliche Selbstbild und Rollenverhalten hat mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten können, sodass viele Frauen im Spagat zwischen Traditionalität und Postmoderne stehen. Suchtmittel bieten sich hierbei ebenso als Spannungslöser an wie als Pseudokompensation zur „Erfüllung“ zwar teilweise ersehnter, jedoch zu der gegebenen Lebenssituation komplementärer und damit als unvereinbar eingeschätzter weiblicher Lebensformen.
Schuld- und Schamgefühle suchtkranker Mütter
Einerseits ist die Rolle der Mutter und die damit verbundene Einengung beziehungsweise Überforderung für einige Frauen eine ursächliche beziehungsweise aufrechterhaltende Bedingung des Substanzkonsums. Darüber hinausgehend bleibt jedoch der Suchtmittelgebrauch in der Regel nicht ohne Auswirkung auf die Mutter-Kind-Beziehung. Es muss sich nicht um Fälle von Vernachlässigung, Missbrauch als Partnerersatz oder gar aktiver Miss-handlung von Kindern handeln. Die direkte Substanzwirkung führt in den meisten Fällen zu einer Lockerung der Bindung und des Kontakts zwischen Mutter und Kind und häufig dazu, dass das Suchtmittel wichtiger wird als alles andere. Daraus resultieren gravierende Schuld- und Schamgefühle und perpetuieren oft aufgrund ihrer Unerträglichkeit in einem Circulus vitiosus die weitere Suchtmitteleinnahme.
Nicht selten hindert die Befürchtung, als identifizierte Suchtmittel-abhängige ihre Kinder weggenommen zu bekommen, die betroffenen Frauen, zu ihrer Substanzabhängigkeit zu stehen und therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch bleiben Frauen häufig in destruktiven und den Suchtmittelkonsum unterhaltenden Partnerbeziehungen, da sie befürchten, im Fall der Scheidung wegen ihrer Abhängigkeitserkrankung nicht das Sorgerecht für ihre Kinder übertragen zu bekommen.
Seelischer, körperlicher und sexueller Missbrauch von Mädchen und Frauen führen bei vielen Betroffenen zur Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen in ihren vielfältigsten Formen. US-amerikanische Untersuchungen gehen davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der drogenabhängigen Frauen als Mädchen sexuell missbraucht worden sind. Hier werden die Suchtmittel meist eingesetzt, um die Folgestörungen des Missbrauchs, wie zum Beispiel vermehrte Angst, Schlafstörungen, Schwierigkeiten bei der Affektregulation, Depressivität oder posttraumatische Belas-tungsstörungen zu bekämpfen. Andererseits erhöht die Substanzabhängigkeit die Gefahr erneuter Viktimisation, wobei die Beschaffungsprostitution einen Extremfall darstellt.
Schließlich muss bei der Betrachtung frauenspezifischer Faktoren im Bedingungsgefüge der Substanzabhängigkeit berücksichtigt werden, dass Alkohol beim weiblichen Organismus zu deutlich früheren und gravierenderen körperlichen Schäden als bei Männern führt. Daraus resultieren soziale Folgeerscheinungen wie beispielsweise eine schnellere Invalidisierung.
Dominanz der Männer in der Suchttherapie
Vermutlich biologisch determiniert geht es Männern in Gruppen primär um Machterwerb und Revierabsteckung, während für Frauen eher der Aufbau von Beziehungen im Vordergrund steht. So ist es nicht selten, dass Patientinnen in gemischtgeschlechtlichen Therapien schon aufgrund ihrer meist deutlich geringeren Repräsentation von den männlichen Patienten dominiert werden. Dies zeigt sich nicht nur in der allgemeinen Atmosphäre und den Umgangsformen, sondern ist auch bei der thematischen und dynamischen Gestaltung der Gruppentherapien offensichtlich. Weiterhin führt die unterschiedliche Veranlagung, Sozialisation und Verarbeitung der Abhängigkeitserkrankung dazu, dass die Frauen in eigener Sache oft weniger zum Zuge kommen, beziehungsweise sich nicht so oft zu Wort melden. Im Extremfall findet männlich-narzisstisches Imponiergehabe in weiblich-dependenter Servilität seine die jeweilige Pathologie verstärkende Ergänzung. Sonst therapeutisch fruchtbare Übertragungskonstellationen können zu einer in diesem Rahmen nur schwer therapierbaren gegenseitigen Verschärfung dysfunktionaler Verhaltensmuster führen.
In diesem Setting wird es unter Umständen schwer sein, den sozialen Kontext, die Lebenspläne und die übergeordneten Ziele ebenso wie die individuellen ursächlichen und aufrechterhaltenden Bedingungen des Suchtmittelkonsums zu analysieren, weil hier immer auch geschlechtsspezifische Faktoren mitberücksichtigt werden müssen.
Die Kritik an der gemischtgeschlechtlichen Therapie hat mancherorts zu Überlegungen geführt, die stationäre Entwöhnung wieder getrenntgeschlechtlich durchzuführen. Insbesondere bei einer Vorgeschichte von Prostitution und ähnlich gelagerter Viktimisation kann dies passager entlastend und zur primären psychischen Stabilisierung wirksam sein. Da die normale Lebenswirklichkeit für so gut wie alle Patientinnen jedoch auch die Begegnung mit Männern beinhaltet, sollte eine solche Maßnahme nur vorübergehend sein und muss von einer Phase gefolgt werden, die die Konfrontation mit dem anderen Geschlecht einschließt.
Gruppentherapie nur mit Frauen kann vorübergehend sehr entlastend wirken. Foto: mauritius images/age
Gruppentherapie nur mit Frauen kann vorübergehend sehr entlastend wirken. Foto: mauritius images/age
Bewährtes Modell
Gut bewährt hat sich ein Modell, wie es seit fast 20 Jahren in der Psychosomatischen Fachklinik Münch-wies praktiziert wird. Hier gibt es im Rahmen eines allgemein gemischtgeschlechtlichen, realitätsadäquaten Settings eine inzwischen langjährige geschlechtsspezifische Behandlungstradition. Zusätzlich zu der Basistherapiegruppe, an der abhängige Männer und Frauen teilnehmen, werden Frauen mit spezifischen Problemen ein- bis zweimal pro Woche eingeschlechtlichen Gruppen zugeteilt. Wesentlich ist, dass die geschlechtsspezifischen Therapien gut und selbstverständlich in das gelebte Klinikkonzept und das Gesamtsetting integriert sind. Es wäre kontraproduktiv, falls die Angebote „Exoten“ im Klinik-alltag beziehungsweise bloße „Alibiveranstaltungen“ wären.
In der Therapie steht der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, das Schaffen einer annehmenden, entspannten Arbeitsatmosphäre und einer ausreichend guten Gruppenkohäsion im Vordergrund. Die Entscheidung, wie viel die Betroffene mitteilen will, soll explizit in ihre eigene Verantwortlichkeit gegeben werden. Werden diese grundlegenden Leitlinien berücksichtigt, bildet sich recht schnell eine Atmosphäre, die die Vorteile des Gruppensettings sehr gut nutzen kann: Die Frauen beginnen sich durch das solidarische Erleben gemeinsam gelebten Leids zu öffnen und sich gegenseitig zu stützen. Am Therapiemodell schon fortgeschrittener Patientinnen können sie neue Verhaltensweisen lernen und eigene Auffälligkeiten im Spiegel ihrer Gruppenkolleginnen leichter erkennen. Sozial isolierte sowie extrem auf dependente Zweierbeziehungen fixierte Frauen erleben in der Gruppe erstmalig und beispielhaft die Geborgenheit eines sozialen Netzes. Übereinstimmend wird berichtet, dass sie sich in der gleichgeschlechtlichen Umgebung viel eher trauen, über persönliche Belange, insbesondere aus dem Themenkreis Partnerschaft, Familie, Sexualität und Körper zu sprechen, ohne befürchten zu müssen, nicht wahr- oder nicht ernstgenommen zu werden. Dieses positive Annehmen eines auf gegenseitige Unterstützung angelegten Gruppensettings könnte die gerade bei Frauen besonders stark ausgeprägte Tendenz widerspiegeln, sich in schwierigen Zeiten zusammenzuschließen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Zur Therapie gehört auch eine detaillierte Planung von Partnerbesuchen und Wochenendheimfahrten. Denn häufig erleben die Frauen, die während vieler Jahre Sexualität nur unter Suchtmitteleinfluss gekannt hatten oder deren Sexualität nur hierbei möglich gewesen war, die Forderung des Partners nach sexuellen Kontakten als große Belas-tung, jedoch auch als unentrinnbare Verpflichtung. Dies bildet ein nicht zu unterschätzendes Rückfallpotenzial.
Durchgängige Themen der frauenspezifischen Therapie sind, Zusammenhänge zwischen der weiblichen Sozialisation und Suchtverhaltensweisen zu erkennen, die Analyse, welche Probleme die Betroffene mit ihrem Suchtmittel zu lösen versuchte und die gemeinsame Erarbeitung von Möglichkeiten, diesen Schwierigkeiten auf eine angemessenere Art zu begegnen.
Fazit für die Praxis
Die geschlechtsspezifische therapeutische Herangehensweise fokussiert auf die Belange des eigenen Geschlechts ohne gegengeschlechtliche Irritationen. Sie nutzt die im weitesten Sinne verstandene Geschlechtlichkeit als eine individuell bereichernde Ressource. Hierbei sind Solidarität und Empathie elementare Wirkfaktoren. Frauen soll in eingeschlechtlichen Gruppen in der Abhängigkeitstherapie die Möglichkeit gegeben werden, unrealistische und widersprüchliche Rollen-klischees und deren Wirksamkeit im Bedingungsgefüge der Substanzabhängigkeit zu hinterfragen.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2007; 104(41): A 2782–6

Anschrift der Verfasserin
Dr. med. Monika Vogelgesang,
Psychosomatische Fachklinik Münchwies,
Turmstraße 50–58, 66540 Neunkirchen
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