ArchivDeutsches Ärzteblatt PP11/2007Wilhelm Reich: Orgastische Potenz und Vegetotherapie

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Wilhelm Reich: Orgastische Potenz und Vegetotherapie

Goddemeier, Christof

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Foto: picture-alliance/KPA
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Vor 50 Jahren starb der umstrittene Arzt und Psychoanalytiker.

Wilhelm Reichs Werk ist außerordentlich vielfältig. Er selbst verstand sich immer als Naturwissenschaftler, allerdings nicht in einem konventionellen Sinn: Indem er an der zentralen Bedeutung der Sexualität festhielt, war er davon überzeugt, die Grenzen der einzelnen Wissenschaften überschritten zu haben. So befand er sich zeitlebens zwischen allen Stühlen und war im Wesentlichen auf sich selbst gestellt. 1968 wurde er zu einer Leitfigur der rebellierenden Studenten. Sie lasen in seinen Werken die Aufforderung zum Ungehorsam, zur Auflehnung gegen Staat, Gesellschaft und Moral.
Am 24. März 1897 wird Wilhelm Reich im galizischen Dobzau geboren. Seine Eltern sind assimilierte Juden, die sich von der Religion ihrer Vorfahren gelöst haben, ohne zum Christentum zu konvertieren. So wächst Reich ohne religiöse Erziehung im Sinne eines bestimmten Bekenntnisses auf. Als er zwölf Jahre alt ist, nimmt seine Mutter sich das Leben. Ihr Mann hat – offenbar durch den jungen Wilhelm – von ihrem Liebesverhältnis mit einem der Hauslehrer erfahren. Fünf Jahre später stirbt der Vater an Tuberkulose. Reich studiert in Wien Medizin und wird 1922 promoviert. Früh gilt sein Interesse der „Sexuologie“. Dabei stößt er auf die Werke Sigmund Freuds, die er intensiv studiert. Bereits 1920 wird er in die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft aufgenommen.
Drei Jahre später behandelt Reich in einem Vortrag vor Kollegen die „nicht unwichtige Frage“, dass von seinen 28 neurotischen Patienten alle „auch Impotenz oder Frigidität beziehungsweise Abstinenz“ aufweisen. Er erforscht die Sexualität seiner Patienten genauer und kommt zu dem Schluss, dass neurotisch Erkrankte hinsichtlich der „Gefühlsqualität“ fast immer unbefriedigt bleiben. 1927 erscheint sein Buch „Die Funktion des Orgasmus“. Reich zufolge kann man von „sexueller Normalität“ nur dann sprechen, wenn der sexuelle Höhepunkt unwillkürlich, ohne „bewusste Fantasietätigkeit“ und in einer „Entladung des ganzen Erregungspotenzials“ durch lustvolle Körperzuckungen erfolge. Das nennt er „orgastische Potenz“. Gemessen daran erweist sich die Mehrzahl seiner Patienten als „relativ impotent“.
Psychotherapie ist demnach erfolgreich, wenn es ihr gelingt, die Orgasmusfähigkeit herzustellen und so den Krankheitssymptomen ihre Energie zu entziehen. Ab etwa 1930 nennt Reich diese Lehre „Sexualökonomie“. Ihm zufolge spielt die orgastische Impotenz „für die Sexualökonomie eine ähnliche Rolle wie der Ödipuskomplex für die Psychoanalyse“. Die Psychoanalytiker reagieren distanziert. Freud bezeichnet Reich in einem Brief als „passionierten Steckenpferdreiter“, der im genitalen Orgasmus das Gegengift jeder Neurose verehre, und bleibt skeptisch.
In den Zwanzigerjahren drängt sich eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Warum gelingt „Heilung“ in der psychoanalytischen Kur so oft nicht? Man spricht vage von „negativer therapeutischer Reaktion“. Doch Reich ist jede Resignation fremd. Er vermutet Lücken in der Behandlungstechnik, die man nicht als „unausweichliches Schicksal“ hinnehmen müsse. 1933 erscheint sein Buch „Charakteranalyse“. Damit trennen sich Reichs und Freuds Wege. Reich kann den von Freud postulierten „Todestrieb“ in der Natur nirgends erkennen und sieht in der neurotischen Autoaggression lediglich den Ausdruck eines sexuell gestörten Charakters. Masochismus ist für ihn im Unterschied zu Freud „Ergebnis und nicht Ursache der Neurose“. Ihm zufolge muss die analytische Therapie alles daransetzen, die „Charakterwiderstände“ aufzubrechen. Neben psychischen Phänomenen versteht Reich darunter auch Muskelverspannungen, den „Muskelpanzer“. Er entwickelt Techniken der Muskelentspannung und behandelt seine Patienten „physiotherapeutisch“. Das Verfahren nennt er „Vegetotherapie“.
Seit 1928 ist Reich Mitglied der kommunistischen Partei. Im Gegensatz zur Auffassung ihrer organisierten Vertreter können sich ihm zufolge Psychoanalyse und Marxismus sinnvoll ergänzen („Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse“, 1930). 1931 gründet er in Berlin den Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik („Sex-Pol“). Die Vereinigung zur politischen und sexuellen Befreiung des Volkes wird von der kommunistischen Parteiführung zunächst akzeptiert, dann aber als „bürgerliches Ablenkungsmanöver“ abgelehnt. Bei den Psychoanalytikern ist Reich nicht mehr beliebt – nun verliert er auch den Rückhalt bei den Kommunisten. 1934 – Reich befindet sich im Exil in Dänemark – wird er aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen.
„Orgonomie“
1939 emigriert Reich nach New York. Seiner Erforschung der „Bione“, der Entdeckung des „Orgons“ und der daraus folgenden „Orgonomie“ als „Naturwissenschaft von der Orgonenergie“ mochte nur noch ein kleiner Kreis folgen. Seit 1940 baut Reich „Orgonakkumulatoren“, Kästen, in denen angeblich „Orgonenergie“ gespeichert werden kann. Mit ihnen behandelt er neurotisch und psychosomatisch, aber auch an Krebs Erkrankte. Angebliche Widersprüche zwischen Reichs Apparatur und der Thermodynamik kann Albert Einstein nicht nachvollziehen und distanziert sich. Reich erklärt seine Fehlschläge mit einer Verschwörung gegen seine Person und gerät schließlich mit dem Gesetz in Konflikt. Nach Vernichtung seiner Akkumulatoren und von Teilen seiner Schriften wird er wegen Missachtung des Gerichts zu einer zweijährigen Haft verurteilt. Am 3. November 1957 erliegt Wilhelm Reich im Gefängnis von Lewisburg einem plötzlichem Herztod.
Christof Goddemeier

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