MEDIZIN: Übersichtsarbeit
Medizinische Daten und Qualitätsmanagement
Medical Data and Quality Management
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Einleitung: Die Inzidenz behandlungsbedingter Patientenschäden ist erst seit Kurzem bekannt. Methoden: Selektive Literaturaufarbeitung. Ergebnisse: 2 umfangreiche Krankenblattstudien ergaben behandlungsbedingte Patientenschäden bei 3,7 und 2,9 % der Hospitalbehandlungen, davon waren 28 % durch Fehler verursacht. 48 % der Schäden betrafen Operationen,19 % Medikationen und 14 % Invasivmaßnahmen. In Schlichtungsverfahren betrafen 75 % der Fälle operative Fächer, in den nicht operativen ging es häufig um Invasivmaßnahmen. 66 % der Patienten erlitten behandlungsbedingte Schäden. Mediziner aus der Schweiz erfassten prospektiv 45 Komplikationen internistischer Krankenhausbehandlung. Die meisten Komplikationen und Todesfälle waren auf Medikationen zurückzuführen. Invasivmaßnahmen hatten die höchsten Komplikationsraten. Diskussion: Die meisten behandlungsbedingten Schäden hängen mit operativer, invasiv-interventioneller und Pharmakotherapie zusammen – komplexe Maßnahmen, die strikte Indikationen erfordern. Erneute Studien zu behandlungsbedingten Schäden und Fehlern werden kaum Erkenntnisse höherer Reliabilität erbringen können. Verfahren zur Qualitätsverbesserung sollten den Krankenhäusern überlassen werden. Grundsätzlich müssen Ärzte und Pflegekräfte Fehler akzeptieren. Sie benötigen kommunikative Kompetenz und die für ordentliches Arbeiten erforderliche Zeit.
Dtsch Arztebl 2007; 104(46): A 3172–7
Schlüsselwörter: iatrogene Schädigung, Behandlungsfehler, Qualitätssicherung, Medizindaten
Summary
Medical Data and Quality Management
Introduction: The incidence of adverse outcomes of medical care has only recently been documented systematically. Methods: Selective literature review. Results: 2 comprehensive studies based on medical record review have shown adverse event rates of 3.7% and 2.9% of all hospitalizations. 28% of adverse events involved negligence. 48% were related to operations, 19% to drugs and 14% to invasive procedures. 75% of the proceedings of the panel for extrajudicial claims resolution (Schlichtungsstelle) were related to surgical specialties. In the non-surgical specialties claims were frequently related to invasive procedures. 66% of the patients suffered adverse outcomes. Physicians from Switzerland recorded the complications of 45 interventions in internal medicine prospectively. Most complications and most fatalities were drug-related. Invasive interventions had the highest complication rates. Discussion: Medical injury is frequently related to operations, medications, and invasive procedures – i. e. actions of high complexity requiring an explicit indication. It is unlikely that further extensive studies on iatrogenic injury or negligence will provide more reliable results. Hospitals must choose their appropriate interventions for improving quality. Errors have to be accepted by physicians and nurses as inevitable. Communication skills and adequate time for communication are essential for quality and safety in medical care. Dtsch Arztebl 2007; 104(46): A 3172–7
Key words: iatrogenic injury, malpractice, quality assurance, liability for medical error
Das Institute of Medicine berichtete im Jahre 2000 in seinem Report „To Err is Human“, dass 44 000 bis 98 000 US-Amerikaner jährlich durch Irrtümer von Medizinern zu Tode kämen (1) und erreichte damit weltweit Aufmerksamkeit. Seither wird das Fehlen derartiger Zahlenwerke für Deutschland beklagt (2, 3). Sind Datenerhebungen zur Bestimmung der Schadenshäufigkeit in Deutschland erforderlich – und sind sie zielführend?
Weiche Daten
Medizinische Daten zu Schäden und Fehlern sind häufig weiche Daten, das heißt sie führen zu Resultaten mit geringer Reliabilität: Beobachter eines Sachverhalts, so auch Ärzte, stimmen in 10 bis 50 % der Fälle in ihren Resultaten nicht überein (4). Auch bei der Wahl der Therapie variieren Ärzte inter- und intraindividuell.
Ärzte müssen täglich Entscheidungen über sehr komplexe Probleme unter schwierigen Umständen und auf der Basis inadäquater Informationen treffen, und diese fallen unterschiedlich aus. Beispielsweise differieren deutlich die standardisierten Hysterektomieraten: In Norwegen wurden 110 pro 100 000 Frauen und Jahr hysterektomiert, im Vergleich zu 700 in den USA. Die Pro-Kopf-Ausgaben für stationäre Krankenhausbehandlung betrugen in New Haven 451 und in Boston 889 US-$ pro Jahr, wobei sich demografische und Versorgungscharakteristika kaum unterscheiden (5). Derartige Variationen, etwa auch der Häufigkeit von Herzkatheteruntersuchungen zwischen den Bundesländern (6), sind für viele ärztliche Maßnahmen nachgewiesen und stellen ein generelles Problem dar. Bei einigen Beispielen lassen sich Unterschiede teilweise auf epidemiologische oder andere Variablen zurückführen.
Auch die Erkenntnisse von Experten differieren. In Schlichtungsverfahren divergieren die Bewertungen des externen Gutachters und des Arztes der Schlichtungsstelle in etwa 10 % der Fälle (7). Bei Doppelbegutachtungen kamen die Experten in Studien bezüglich behandlungsbedingter Schäden in 13 bis 21 % (8, 9), bei Doppelbewertungen von Krankenunterlagen in 25 bis 10 % der Fälle zu entgegengesetzten Erkenntnissen (10). Ein Musterbeispiel für verschiedene Expertenmeinungen ist die Debatte über medikamentenbeschichtete Koronar-Stents (11).
Die Quelle, aus der sich medizinische Datensammlungen speisen, ist die ärztliche Dokumentation. Über ihren tatsächlichen Zustand ist jedoch wenig bekannt. Nach Untersuchungen von Püschmann und Mitarbeiter (10) waren nur in 27 % der untersuchten 317 Krankenakten alle erforderlichen Teile vorhanden und mangelfrei. Die Diagnose, die einen wesentlichen Teil des vom Arzt Dokumentierten darstellt, ist notorisch fehlerbehaftet: In einer Studie über 50 000 Sektionen betrug die Sensitivität der klinischen Diagnostik, geprüft am autoptischen Befund, 40 bis 90 % (12). In Görlitz wurden 1987 nahezu alle Verstorbenen seziert, in 38 % der Fälle stimmten Sektionsbefund und Todesbescheinigung beim Grundleiden nicht überein (13). In Schlichtungsverfahren sind Diagnosefehler die zweithäufigste Fehlerart (14).
Quantifizierende Untersuchungen des Schadensrisikos
Nach dem Vorstehenden geben medizinische Schadens- und Fehlerdaten – zumal wenn sie aus verschiedenen Quellen stammen – häufig Mängel der Basisdokumentation, Variationen ärztlicher Entscheidungen und Expertenmeinungen sowie Auswirkungen uneinheitlicher Bearbeitung wieder und führen zu statistischen Resultaten geringer Reliabilität. Studien mit Belegen für eine hohe Reliabilität solcher Datensammlungen sind den Autoren nicht bekannt. Nur Untersuchungen, bei denen die Generierung, Bewertung und Verarbeitung der Daten streng kontrolliert erfolgt, vermögen trotz dieser Beschränkungen annähernd die Wirklichkeit wiederzugeben. Im Folgenden werden 3 entsprechende Studien vorgestellt. Die Autoren folgen hierbei der bei der sachverständigen Begutachtung in Schlichtungsverfahren verwendeten Terminologie; in anderen Zusammenhängen werden auch davon abweichende Termini benutzt.
Retrospektive Prüfung von Krankenakten: Harvard-Studie
Für populationsbezogene Studien (8, 9, 15) wurden in den Akutkrankenhäusern (außer den Fachbereichen Psychiatrie und Psychosomatik) von den Bundesstaaten New York und Utah/Colorado randomisierte gewichtete Stichproben von Krankenakten
- nach definierten Kriterien und
- von speziell geschulten Fachkräften und Fachärzten durchgesehen.
- Die Feststellung, ob behandlungsbedingte Schäden vorlagen und ob diese fehlerverusacht waren, erfolgte von 1 bis 6 skaliert. Ein Skalenwert > 4 war erforderlich zur Feststellung eines behandlungsbedingten Schadens.
- Zahlreiche Akten ließ man durch jeweils 2 Fachärzte bewerten.
Die Resultate der Stichprobe bezog man auf alle stationären Behandlungen des Jahres. In New York waren es im Jahr 1984 insgesamt 2,67 Millionen Hospitalisierungen.
98 609 oder 3,7 % (Tabelle 1) der stationären Behandlungen führten zu behandlungsbedingten Schäden. 27 179 Schäden (28 %) waren fehlerverursacht, in Utah/Colorado 29 %. Bezogen auf die Hospitäler (16) variierten die Schadensraten von 0,2 bis 7,9 %, die Fehlerraten von 1 bis 60 %. Die Schadensraten waren erhöht bei Patienten > 64 Jahre auf 6 %, bei denen mit komplexen Krankheitssituationen auf 7 %. Bei einigen operativen Fächern waren die Schadensraten erhöht, in der Gefäßchirurgie auf 16 %.
Fast die Hälfte aller behandlungsbedingten Schäden stand mit operativen Maßnahmen in Zusammenhang, wobei Wundinfektionen die größte Untergruppe der operativen Schäden darstellten (Tabelle 2). Auch in der Utah/Colorado-Studie verursachten Operationen mit 45 und Pharmaka mit 19 % die meisten Schäden. 8 Jahre nach der Publikation der New Yorker Studie waren die invasiven Maßnahmen mit 14 % aller Schäden auf die dritte, im geriatrischen Teil dieser Population sogar auf die zweite Stelle gerückt (9, 17).
Nach diesen Studien (8, 9, 15, 17) beträgt die Schadensrate 3,7 %, ist bei alten und multimorbiden Patienten aber höher. Komplexe ärztliche Maßnahmen wie Operation, invasive Eingriffe und eine moderne Pharmakotherapie haben ein hohes Schädigungsrisiko.
Die populationsbezogenen Resultate sind repräsentativ für Behandlungen im Akutkrankenhaus. Brennan, Erstautor der Harvard-Studie, hat nach dem Erscheinen des Berichts „To Err is Human“ (1), dem diese Resultate zugrunde liegen, geltend gemacht, dass die publizierten Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren seien, weil viele Festlegungen, die die Autoren für diese Studie getroffen haben, etwa für postoperative Blutungen, durchaus auch anders definiert werden könnten (18). Die methodische Sorgfalt der Harvard-Studien war mustergültig, der dafür geleistete Aufwand ungewöhnlich groß.
Schadens- und Fehlerfeststellung in Schlichtungsverfahren
Die Verfahren der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtsachen der norddeutschen Ärztekammern erfolgen schriftlich. Sie dienen der sachverständigen Klärung des Fehlervorwurfs und gegebenenfalls der Schadenskausalität. Für jedes Verfahren sind ein Jurist und ein ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle verantwortlich. Bei etwa 90 % der Verfahren werden externe Gutachten eingeholt. Die Verfahrensdaten werden vom verantwortlichen ärztlichen Mitglied dokumentiert und dann elektronisch gespeichert.
Von 2000 bis 2003 wurden 10 513 Verfahren abgeschlossen (Tabelle 3) (14). 76 % der von den Patienten in Anspruch genommenen Ärzte vertraten operative Fach- oder Teilgebiete. Bei den konservativen Fächern werden viele Verfahren wegen Invasivmaßnahmen angestrengt (19, 20).
Die häufigsten Diagnosen gemäß ICD 10 (1 pro Fall) in diesen 10 513 Verfahren (14) waren: Extremitätenfrakturen, Kox-/Gonarthrose, Bandscheiben-, Knieschäden, Mammakarzinom, Appendizitis und Struma.
Behandlungsfehler wurden in 38 % der Verfahren festgestellt, nur ein Teil von ihnen verursachte Patientenschäden. Die meisten Fehler unterliefen bei der operativen/postoperativen Therapie und der Diagnostik mit jeweils 34 %. Bei den Diagnostikfehlern dominierten jene der bildgebenden Diagnostik. In Verfahren aufgrund invasiver Maßnahmen waren Nachsorge- und Indikationsfehler häufig (19), in Verfahren wegen Extremitätenfrakturen (14) Fehler bei der bildgebenden Diagnostik. Mängel der Kommunikation, Kooperation und Koordination stellen nach Auffassung der Autoren, obwohl selten belegbar, sicherlich eine bedeutsame Ursache von Fehlern, Schäden und Streit dar.
Die Gesundheitsschäden der Patienten (Tabelle 4) waren in 29 % der 10 513 Verfahren durch Fehler verursacht und somit die Patientenansprüche begründet (Kategorie I). Die Gesundheitsschäden waren in 36 % dieser Fälle schwer, in 3 % tödlich.
Die Gesamtheit behandlungsbedingter Patientenschäden (Kategorien I und II) betrug 62 % aller Fälle. Annähernd zwei Drittel der verfahrensbeteiligten Patienten hatten also belegbar iatrogene Schäden erlitten (14). Dieser Anteil lag in Verfahren, in denen Chirurgen beteiligt waren, und in Verfahren aufgrund invasiver Maßnahmen (19) noch höher.
Drei Viertel aller Schlichtungsverfahren betrafen also operative Fächer. Fehler bei der operativen/postoperativen Therapie und bei der Diagnostik machten zwei Drittel aller festgestellten Fehler aus. Viele der anspruchstellenden Patienten hatten behandlungsbedingte Schäden.
Die Schlichtungsstelle verfügt über Zehntausende sorgfältig – mit doppelter ärztlicher Expertise – bearbeiteter Schadenskasuistiken aus allen Fach-/Teilgebieten aus Praxen (circa ein Drittel aller Verfahren) und Krankenhäusern. Auch hier ist mit einer Varianz der Entscheidungen von mindestens 10 % zu rechnen. Nur wenige durch ärztliche Behandlung Geschädigte ergreifen rechtliche Schritte. Diese Aussagen sind daher nicht repräsentativ für die Medizinversorgung Norddeutschlands; aber Binnenvergleiche erscheinen gerechtfertigt.
Prospektive Erfassung von Komplikationen
Schweizer Kollegen erfassten in Krankenhausabteilungen für Innere Medizin Komplikationen bei 45 invasiven, interventionellen, endoskopischen oder medikamentösen ärztlichen Maßnahmen im Rahmen ihrer Tagesroutine, und zwar mithilfe einer Liste, die jeder Krankenakte beilag. Die Supervision oblag Chef- und Oberärzten, die Auswertung erfolgt zentral (21). Von 1998 bis 2003 wurden in 26 Abteilungen 138 320 internistische Krankenhausbehandlungen erfasst, 5 463 Patienten (3,9 %) erlitten Komplikationen.
Die meisten Komplikationen traten im Zusammenhang mit medikamentöser Therapie, Venenzugängen oder Antikoagulation auf (Tabelle 5). Komplikationen der medikamentösen Therapie waren für 31 % der Spitalaufenthaltsverlängerungen, für 32 % der komplikationsbedingten Behandlungen auf der Intensivstation und für 20 Todesfälle verantwortlich.
Die höchsten Komplikationsraten fanden sich bei extrakardialer Angiografie mit Therapie, bei suprapubischem Blasenkatheter und perkutaner endoskopischer Gastrostomie (Tabelle 6). In kausalem Zusammenhang mit medizinischen Interventionen kam es zu 70 Todesfällen, davon 35 durch Blutungen, meist unter Antikoagulation oder Thrombolyse.
Die meisten Komplikationen resultierten somit aus Medikationen, die höchsten Komplikationsraten bei Invasivmaßnahmen. Tödliche Komplikationen waren zum größten Teil medikationsbedingt.
Die Schweizer Mediziner führen eine prospektive populationsbezogene Datensammlung über Komplikationen durch, deren Wertung dann anhand regelmäßiger Statistikberichte in den Abteilungen erfolgt. Durch das systematische Vorgehen und das alltägliche Prozedere wird die gebotene kritische Auseinandersetzung mit unerwünschten Behandlungsresultaten zur Selbstverständlichkeit.
Nach ersten abteilungsbezogenen Evaluationen ergaben sich Verbesserungen im Zeitverlauf bei einigen Komplikationen (Phlebitiden nach Venenzugängen und Blasenkatheterkomplikationen), keine Änderungen hingegen bei anderen (Medikamentengaben und -komplikationen trotz Unverträglichkeit, Blutungen nach transkutanen Punktionen). Quervergleiche der Komplikationsraten zwischen den einzelnen Abteilungen erschienen wegen unterschiedlicher klinikinterner Gegebenheiten nicht sinnvoll (Persönliche Mitteilung Max Stäubli, Zollikerberg 2007).
Resümee aus den 3 Studien
Aus den unter kontrollierten Bedingungen zustande gekommenen Befunden der 3 Arbeitsgruppen ergibt sich Folgendes:
- Behandlungsbedingte Gesundheitsschäden sind bei etwa 3 bis 4 von 100 stationären Krankenhausbehandlungen zu erwarten, davon sind etwa gut ein Viertel durch Fehler bedingt. Die Schadensraten aus den Jahren 1984, 1992 und 2003 unterscheiden sich mit 3,7, 2,9 und 3,9 % nur geringfügig. Je nach Krankenhaus sind die Schadensraten jedoch sehr unterschiedlich. Unter den Patienten, die Haftungsansprüche stellen, haben zwei Drittel iatrogene Schäden.
- Bei alten Patienten und bei komplexen Krankheiten sind die Schadensraten erhöht.
- Die häufigsten Schadensursachen sind operative Therapie, invasive/interventionelle Eingriffe und medikamentöse Behandlung; dies sind hochkomplexe ärztliche Maßnahmen.
- Unter den gutachtlich festgestellten Behandlungsfehlern dominieren die Fehler bei operativer/postoperativer Therapie und bei der Diagnostik.
- Kommunikationsdefizite sind häufig und bedeutsam (22), aber nur selten als Fehler belegbar.
- Patienten mit psychosomatischen Leiden, funktionellen Störungen und Depressionen, die nicht selten ein Drittel des Krankenguts ausmachen, sind aus den Schadensstatistiken von Harvard ausgenommen, in den anderen offensichtlich unterrepräsentiert.
Vieles aus dem Arbeitspensum der Ärzte und Pflegekräfte lässt sich nicht messen und mit den verfügbaren quantifizierenden Methoden nicht erfassen. Vergleichbare Schadensstudien, die diesen Ergebnissen aus den 3 Datensammlungen widersprächen, sind den Autoren nicht bekannt.
Was ist zu tun, um die Patientensicherheit zu erhöhen?
Die vorgestellten Erkenntnisse erlauben Ärzten und Krankenhäusern eine ausreichend verlässliche Abschätzung des allgemeinen Risikos. Erneute großflächige Messungen der Fehler- und Schadensraten versprechen kaum weiteren Erkenntnisgewinn. Aus den 3 Studien ergibt sich für die Ärzteschaft, Diagnosen als fehleranfällig immer wieder zu überprüfen, bei verstorbenen Patienten autoptisch. Darüber hinaus ergibt sich für die Ärzte, schadensträchtigen komplexen Maßnahmen, Operationen, Invasivmaßnahmen und Medikationen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und die Indikationen in diesem Hochrisikobereich, wie von Kardiologen empfohlen, zurückhaltender und strikter zu stellen (Figulla Hans-Reiner: Die Indikationsqualität in Deutschland ist zu hinterfragen. Cardio News 2006; 9: 24).
Auf Grundlage dieser allgemeingültigen Aussagen sind die weiteren Qualitätsmaßnahmen von den einzelnen Krankenhäusern und Praxen zu treffen, unter Berücksichtigung vorhandener Bedürfnisse, Schwerpunkte und Fähigkeiten. Im Konfliktfall werden ja auch haftungsrechtlich die behandelnden Ärzte und die Krankenhausleitung in Anspruch genommen, nie die dekretierenden Zentralen. Grundvoraussetzung aller Qualitätsbemühungen ist die Einsicht der Beteiligten, dass man mit Fehlern und Schäden als etwas grundsätzlich Unvermeidbarem umzugehen lernen muss. Offenheit und Vertrauen in der Arbeitsgruppe müssen so sein, dass die sachliche Erörterung unerwünschter Abläufe, ihrer personen- wie systembezogenen Ursachen und von Prävention selbstverständlich werden. Erfolge, die sich oft aus vielen kleinen Schritten ergeben, sollten belegbar sein. Weitere Voraussetzungen sind die Kompetenz von Ärzten und Pflegepersonen in den Bereichen Kommunikation mit dem Patienten, Kooperation in der Arbeitsgruppe und Koordination mit den andern an der Behandlung beteiligten Einheiten. Die hierfür erforderliche Zeit muss verfügbar sein.
Hilfen bieten die Schlichtungsstellen mit Schadenskasuistiken und ihrem Medical Error Reporting System. Hier sind Gesamtstatistiken des Jahresdurchgangs verfügbar und Kompilationen von Verfahrensdaten bestimmter Kollektive, zum Beispiel Verfahren wegen Radiusfrakturen. Sie ermöglichen dem Arzt, Fehlermöglichkeiten und Schäden anhand großer Zahlen zu studieren.
Von externen Ämtern, Instituten und Zentren wäre vor allem zu fordern, den Ärzten wieder die Zeit, die sie für ihre originäre Arbeit brauchen, zu verschaffen, das heißt externe Einflussnahmen zurückzufahren. Wer es fertig brächte, das tägliche Dokumentationspensum der Krankenhaus-Internisten von 3 auf 2 h zu verkürzen, hätte mehr als alle anderen externen Einflussnehmer für die Patientensicherheit getan.
Entwicklungen in den USA
Die US-Amerikaner – uns diesbezüglich weit voraus – haben für Qualität und Sicherheit Ressourcen im großen Stil eingesetzt; Gesetzgebung, Ämter und Institute haben leistungsabhängige Bezahlung und externe Qualitätsberichte erprobt, Programme und Behandlungsstandards aufgestellt und deren Anwendung messend verfolgt. Und sie haben erfahren, dass die Erfolge nur bescheiden sind:
- manche Verbesserungen bestanden nur in der Dokumentation, nicht in der Realität
- Erfolge bei den gemessenen Parametern verbargen zuweilen Verschlechterungen bei den nicht gemessenen
- Qualitätsprobleme auf wichtigen Gebieten wie Geisteskrankheiten, Sucht und Heimbetreuung wurden noch gar nicht angegangen (23).
Unter den vielen Verlautbarungen zum Thema gibt es Erfolgsmeldungen: „in eineinhalb Jahren 122 342 Leben in US-Hospitälern gerettet“ (24). Und es gibt zweifelnde Stimmen, denen zufolge man 5 Jahre nach dem Report „To Err is Human“ (1) von den gesteckten Zielen noch weit entfernt sei. Brennan und die Harvard-Gruppe (25) sehen kaum Belege dafür, dass das Medizinversorgungssystem sicherer geworden ist. Sie raten vom weiteren Zählen iatrogener Todesfälle und Fehler ab und begründen das mit der geringen Reliabilität der Bewertungen. Sie empfehlen statt dessen Methoden zu implementieren, deren Effektivität evidenzbasiert belegt ist. Effektivität ist verlässlicher messbar. Sie halten für geboten, die Wahl der Verfahren und des Vorgehens den Hospitälern zu überlassen, abhängig von den jeweiligen Stärken der Belegschaft. Dabei müssten für Qualitätsverbesserungen gegebenenfalls auch Mittel, etwa für zusätzliche Pflegestellen, bereitgestellt werden. „Incident reporting systems“ halten die Autoren in mancher Hinsicht für lobenswert, aber im Hinblick auf das Ziel Effektivität für weniger wichtig als das Sichöffnen der Ärzte und Krankenhausleitungen für die Erkenntnisse aus der Forschung zum Faktor Mensch, aus kognitiver und sozialer Psychologie und Informatik als den neuen Grundlagenwissenschaften zur Patientensicherheit.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 20. 3. 2007, revidierte Fassung angenommen: 19. 7. 2007
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Klaus Dieter Scheppokat
Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover
E-Mail: info@schlichtungsstelle.de
Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern, Hannover: Prof. Dr. med. Scheppokat, Rechtsanwalt Neu
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Tabelle 1
Tabelle 2
Tabelle 3
Tabelle 4
Tabelle 5
Tabelle 6
1. | Kohn LT, Corrigan JM, Donaldson MS: To err is human. Washington DC: National Academy Press 2000. |
2. | Hansis H, Hart H: Medizinische Behandlungsfehler in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes 04/01. Berlin: Verlag Robert Koch-Institut 2001. |
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9. | Thomas EJ, Studdert DM, Burstin HR et al.: Incidence and types of adverse events and negligent care in Utah and Colorado. Med Care 2000; 38: 261–71. MEDLINE |
10. | Püschmann H, Haferkamp G, Scheppokat KD, Vinz H, Wegner M: Vollständigkeit und Qualität der ärztlichen Dokumentation in Krankenakten – Untersuchung zu Krankenunterlagen aus Chirurgie, Orthopädie, Innerer Medizin und Neurologie. Dtsch Arztebl 2006; 103(3): A 121–6. VOLLTEXT |
11. | Shuchman M: Debating the risks of drug-eluting stents. N Engl J Med 2007; 356: 325–8. MEDLINE |
12. | Anderson RE, RB Hill, CR Key: The sensitivity and specificity of clinical diagnostics during five decades. Towards an understanding of necessary fallibility. J Amer Med Ass 1989; 261: 1610–7. |
13. | Modelmog G, Goertchen R: Der Stellenwert von Obduktionsergebnissen. Dtsch Arztebl 1992; 89(42): A 3434–40. |
14. | Neu J, Scheppokat KD, Vinz H: Behandlungsrisiko und iatrogener Schaden – „Unfallberichte“ aus der Norddeutschen Schlichtungsstelle. Z arztl Fortb Qual Gesundh wes 2004; 98: 567–74. MEDLINE |
15. | Leape LL, Brennan TA, Laird NM et al.: The nature of adverse events in hospitalized patients. Results of the Harvard Medical Practice Study II. N Engl J Med 1991; 324: 377–84. MEDLINE |
16. | Weiler PC, Hiatt HH, Newhouse JP, Johnson WG, Brennan TA, Leape LL: A measure of medical malpractice. Cambridge Massachusetts: Harvard University Press 1995; 47. |
17. | Thomas EJ, Brennan TA: Incidence and types of preventable adverse events in elderly patients: population based review of medical records. BMJ 2000; 320: 741–4. MEDLINE |
18. | Brennan TA: The institute of medicine report on medical errors – Could it do harm? N Engl J Med 2000; 342: 1123–5. MEDLINE |
19. | Scheppokat KD, Held K: Kardiovaskuläre Erkrankungen und die Teilgebiete Kardiologie und Angiologie in Schlichtungsverfahren. Z Kardiol 2003; 92: 837–46. MEDLINE |
20. | Scheppokat KD, Held K: Ergebnisse von 903 Schlichtungsverfahren in der Inneren Medizin. Dtsch Med Wschr 2002; 127: 253–9. MEDLINE |
21. | Stäubli M: Die prospektive Erfassung risikobehafteter Interventionen und ihrer Komplikationen in der stationären Inneren Medizin. Z arztl Fortbild Qual Gesundh wes 2004; 98: 575–80. MEDLINE |
22. | Levinson W: Physician-patient communication – a key to malpractice prevention. J Amer Med Ass 1994; 272: 1619–20. |
23. | Romano PS: Improving the quality of hospital care in America. N Engl J Med 2005; 353: 302–4. MEDLINE |
24. | Tanne JH: US campaign to save 100 000 lives exceeds target. BMJ 2006; 332: 1468. MEDLINE |
25. | Brennan TA, Gawande A, Thomas E, Studdert D: Accidental deaths, saved lives, and improved quality. N Engl J Med 2005; 353: 1405–9. MEDLINE |
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