THEMEN DER ZEIT
Fetales Alkoholsyndrom: Hilfe nach langer Odyssee


Foto: dpa
Ute A.* kauft nur Puppenkleider für die neugeborene Jutta*. Selbst die kleinste Säuglingsgröße ist zu groß für das Mädchen. Denn Jutta sei kleinwüchsig und leide unter dem fetalen Alkoholsyndrom (FASD), erläutert Ute A., ihre Pflegemutter. Eine Folge davon, dass die Mutter während der Schwangerschaft regelmäßig viel Alkohol konsumiert hat. Jutta sei eines von 3 000 bis 4 000 Kindern, die in Deutschland jedes Jahr mit dem FASD geboren würden, berichtet die Psychologische Psychotherapeutin Ellen Scholz. Seit einem halben Jahr engagiert sie sich zusammen mit ihrer Kollegin und fachlichen Leiterin des Kinderheims „Sonnenhof e.V.“, Gela Becker-Klinger, und dem Kinderarzt Prof. Dr. med. Hans Ludwig Spohr in der Berliner Beratungsstelle für vom Alkoholsyndrom betroffene Kinder und deren Pflegefamilien. „Nur zehn Prozent der Kinder bleiben bei ihren leiblichen Eltern“, erklärt Becker-Klinger. Daher kommen auch nur selten alkoholkranke Mütter in die Beratungsstelle. Meistens suchten Pflegefamilien Rat, die gemerkt hätten, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimme, erklärt Spohr. Denn oft wissen sie nicht, worin die Beeinträchtigungen ihres Kindes ihre Ursachen haben.
Die Idee für die Beratungsstelle sei aus der Not heraus entstanden, sagt Becker-Klinger. Seit Jahren beschäftigt sich die Leiterin des Kinderheims Sonnenhof mit dem Syndrom. Die betroffenen Kinder und deren Pflegefamilien sollten eine Anlaufstelle erhalten, in der sie angemessen betreut und versorgt würden. „Wir haben gesehen, dass die Idee voll ins Schwarze getroffen hat“, betont Scholz. „Die Beratungsstelle wurde bereits im ersten halben Jahr sehr stark angenommen.“
Man versucht dort, zusätzlich durch Fortbildungen Ärzte und Mitarbeiter von Jugendämtern zu erreichen. Mehr als 150 Beratungen haben im ersten halben Jahr stattgefunden. „Wenn keine Kenntnis über das Problem besteht, erhalten die Kinder keine Förderung“, erklärt Scholz. „Zudem beginnt eine Negativspirale, und das Kind wird doppelt bestraft“, ergänzt Becker-Klinger. Die Probleme, die das Syndrom bereitet, bestehen ein Leben lang. Denn FASD ist nicht therapierbar.
Scholz erzählt von einem jungen Mann, der kürzlich die Beratungsstelle aufsuchte. Der 22-Jährige kann aufgrund seiner Defizite nicht mit Geld umgehen. Eine Finanzberatung wurde ihm seitens der Behörden verweigert, da er angeblich nur eine Lese- und Rechtschreibschwäche habe. Eine umfassende berufliche und private Betreuung ist für die Betroffenen aber häufig unabdingbar, erklärt Scholz. Der Adoptivvater Bernhard Ruigrok kann dies durch seine Erfahrungen mit seinem 21-jährigen Sohn nur bestätigen. „Man sieht ihm die Behinderung nicht an“, sagt er. „Das macht den Umgang für die Gesellschaft mit ihm so schwer.“ FASD-Kinder haben häufig Probleme in der Schule und stoßen mit ihren psychischen Auffälligkeiten immer wieder an.
In der Beratungsstelle nimmt sich das Team sehr viel Zeit. „Nur mit einer individuellen und punktgenauen Diagnose kann man den betroffenen Kindern wirklich helfen“, erklärt Scholz. Bei jedem Kind hat das Syndrom eine andere Auswirkung; nur auf der Basis von sehr genauen Tests könne man es richtig fördern: „Das Mosaik ist für jeden Betroffenen einzigartig.“ Neben der medizinischen Betreuung bietet die Beratungsstelle aber auch psychologische Hilfestellung. „Die Menschen müssen nicht viel erklären und fühlen sich schneller verstanden.
Lob eines Adoptivvaters:
Jetzt kümmern sich Experten
„Wir waren so erleichtert, als man uns erklärte, dass wir nichts falsch gemacht hätten und dass die Schwierigkeiten unseres Pflegesohns nicht eine Folge unserer Erziehung seien“, betont ein Vater eines 30-Jährigen Betroffenen. Vielleicht hätten sie sich aber in manchen Momenten anders verhalten und ihrem Sohn nicht mit zu hohen Erwartungen entgegengetreten sollen. „Jetzt kümmern sich Experten. Vorher musste ich mühevoll von Amt zu Amt laufen und mir das Wissen selbst aneignen“, sagt Adoptivvater Ruigrok zufrieden. Derzeit ist die Beratungsstelle die einzige deutschlandweit. Eine Pflegefamilie reiste sogar aus Hessen an.
Christa Merfert-Diete, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Prävention der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V., warnt derweil vor einer schnellen Verurteilung der alkoholabhängigen schwangeren Frauen: „Dahinter stehen auch Schicksale, die eine eigene Würdigung verdienen.“
Sunna Gieseke
* Namen von der
Redaktion geändert