ArchivDeutsches Ärzteblatt PP12/2007Medien: Der Comic als Kunstform am Beispiel der Epilepsie

THEMEN DER ZEIT

Medien: Der Comic als Kunstform am Beispiel der Epilepsie

Hein, Jakob; Rapp, Michael; Heinz, Andreas

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Aufklärung: Den Eltern wird geraten, ihren Sohn operieren zu lassen. Professor T. zeigt anhand von Dias, wie er den Schädel öffnen und die „Sache“, die die Anfälle seiner Meinung nach verursache, entfernen werde. Die gnadenlose Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen schockiert. Entnommen aus: David B. „Die Heilige Krankheit Band 1 Geister“, © 2006 Edition Moderne Zürich
Aufklärung: Den Eltern wird geraten, ihren Sohn operieren zu lassen. Professor T. zeigt anhand von Dias, wie er den Schädel öffnen und die „Sache“, die die Anfälle seiner Meinung nach verursache, entfernen werde. Die gnadenlose Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen schockiert.
Entnommen aus: David B. „Die Heilige Krankheit Band 1 Geister“, © 2006 Edition Moderne Zürich
Gerade medizinische Themen lassen sich im Wechselspiel von Bildern und Text besonders gut erzählen.

Wer über Comics in Deutschland schreibt, muss feststellen, dass diese Kunstform immer noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Im Pariser Centre Pompidou zog gerade eine Ausstellung von Hergé, des Autors von „Tim und Struppi“, wahre Massen an. Die Menschen standen Schlange, um die Originale der überaus beliebten Comics ansehen zu können. In Belgien gilt der Comic als eine der wichtigsten Kunstformen überhaupt, die Zeichner haben Professuren an den namhaften Kunsthochschulen und werden selbstverständlich als Teil des intellektuellen Mainstreams angesehen. In der international angesehenen „Neuen Zürcher Zeitung“ gibt es eine regelmäßige Besprechung der Neuerscheinungen auf dem Comicmarkt.
Nur in Deutschland gelten Comics als Witzbilder, Kinderkram, Schund. In ganz Deutschland? Nein, es gibt natürlich kleine gallische Dörfer, wie den Comicsalon in Erlangen, immerhin die wichtigste Messe dieser Art im deutschsprachigen Raum, oder einige Verlage, die sehr erfolgreich mit Comics ihr Geld verdienen. Nur eben die Anerkennung der Gattung als „echte“ Kunstform, die Wahrnehmung eines Comics als künstlerisches Werk, davon ist man hierzulande derzeit noch weit entfernt.
Deutsche Wurzeln
Dabei gibt es gerade in Deutschland wichtige Wurzeln des Genres. Die Moritatensänger, die im 19. Jahrhundert über die Jahrmärkte zogen und die Dramatik ihrer Vorträge durch die sogenannten Moritatentafeln unterstrichen, sind die direkten Vorfahren des berühmten Wilhelm Busch (1832–1908). Dessen Geschichten von Max und Moritz, Fips, Hans Huckebein und vielen anderen erfreuen sich bis heute weltweiter Beliebtheit und gelten als die ersten Comics überhaupt.
Doch gerade in einem medizinhistorischen Zusammenhang darf auch Buschs Zeitgenosse Heinrich Hoffmann (1809–1894) keinesfalls vergessen werden, der anlässlich des Weihnachtsfests 1844 befand, dass die existierenden Kinderbücher allesamt zu moralisch und brav seien. Also schuf er für seinen Sohn Carl „Drollige Geschichten und lustige Bilder für Kinder im Alter von 3–6 Jahren“, ein Buch, das schon bald als „Struwwelpeter“ Weltruhm erlangen würde. Bis heute sind vom Struwwelpeter mehr als 550 Auflagen verkauft, keine Weltsprache, in die das Werk nicht übersetzt ist. Der „Zappelphilip“ aus dem genannten Buch ist bis heute umgangssprachlicher Pate des Aufmerksamkeitsdefizit-syndroms bei Kindern weltweit, unabhängig davon, ob Hoffmann in der betreffenden Geschichte tatsächlich ein Kind mit dem Syndrom beschreiben wollte oder nicht.
Zahlreiche andere Geschichten aus dem „Struwwelpeter“ sind als Beispiele für neuropsychiatrische Störungsbilder des Kindesalters bemüht worden. Ob „Hans-Guck-in-die-Luft“ als Beispiel für fokale Epilepsien, der „Suppenkaspar“ als Sinnbild für Essstörungen oder der „böse Friedrich“ für typische dissoziale Verhaltensweisen, die Bildgeschichten Heinrich Hoffmanns schienen immer wieder geeignet dafür, komplexe medizinische Symptome anschaulich zu machen.
Vielleicht liegt es an den Themen der bösen Jungen und Mädchen, dass die Deutschen sich nicht so recht mit dieser von ihnen aus der Wiege gehobenen Kunstform anfreunden konnten. Dazu kommt der calvinistische Generalverdacht, dass alles, worüber man sich amüsieren kann, höchstwahrscheinlich schon deswegen unmoralisch und somit verwerflich ist. Wie so viele andere deutsche Erfindungen, genannt seien das Faxgerät und das Plexiglas, würde auch das wahre Potenzial der Comics erst im Ausland entdeckt und entwickelt werden.
Komplexe Themen
Ein kurzer Blick in die letzten Jahre des Genres macht klar, welches Potenzial dem Unwissenden entgeht. Der Comic „Maus“ von Art Spiegelman setzte sich in hochkomplexer Form mit der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ sowie dem Umgang folgender Generationen mit diesem Thema auseinander. „Maus“ war zwar unterhaltend, konnte dabei aber der Komplexität des Themas in weitaus höherem Maß gerecht werden als beispielsweise der viel gelobte Film „Schindlers Liste“. In „Persepolis“ beschreibt Marjane Sartrapi die jüngste Geschichte Persiens und des Irans aus der Perspektive einer jungen Frau, vermittelt dabei enorm viele Fakten und Hintergründe, ohne dass der Comic jedoch dadurch zu einem Sachbuch wird.
Das Genre vermag ganz offensichtlich, das Wechselspiel von Text und Bild gekonnt einzusetzen. Bei den künstlerisch unerheblichen Produktionen findet man in der Regel eine absolute Einheit von Bild und Text. Nicht nur, dass die Bilder stets dieselbe Größe haben, auch zwischen dem Geschriebenen und dem Gezeichneten besteht Übereinstimmung. Man könnte auf eines der Medien verzichten, ohne wesentliche Inhalte der Narration zu verpassen. So eignen sich diese Comics besonders für Menschen, die nicht oder noch nicht lesen können. Auch das trägt wohl zum schlechten Ruf der Kunstform hierzulande bei. Ein flüchtiger Blick in einige schlecht gemachte Comics sollte nicht zu Verallgemeinerungen genutzt werden. Schließlich gibt es auch unendlich viele schlechte Bücher und Filme, ohne dass jemand ernsthaft diese Kunstformen per se infrage stellen würde.
Doch in guten Comics ergibt sich häufig ein Kontrast zwischen Text und Bild. Schon Max und Moritz lächelten uns treubrav an, und ohne den Text hätten wir niemals geahnt, dass es sich bei den beiden um zwei ausgemachte Schwerenöter handeln könnte. In Comics wie „Maus“ oder „Persepolis“ übernimmt der Text die Erzählung des Faktischen, während die Emotionen, das Metaphysische nahezu ausschließlich über die Sprache der Bilder transportiert werden. In „Krebs ist eine Erfahrung, auf die ich lieber verzichtet hätte“ von Miriam Engelberg hingegen kontrastieren die freundlichen Zeichnungen mit den im Text erzählten Ängsten und Emotionen der Autorin.
Comics und Medizin
Aus einem solchen Wechselspiel von Bildern und Text lassen sich gerade medizinische Themen besonders gut erzählen. Vor einiger Zeit konnte an dieser Stelle „Eugen und der kleine Wicht“ besprochen werden (Deutsches Ärzteblatt, Heft 16/2004), ein Bilderbuch über die Tumorerkrankung eines Kindes. Aber die Verbindung ist nicht nur für Kinder ansprechend. Denn was ist schließlich der Grund für den großen Erfolg der Zeichnungen von Frank Netter? Einerseits werden hier medizinische Fakten wissenschaftlich präzise und nüchtern dargeboten, andererseits zeigt sich in den Bildern die Dramatik und das Leiden der Patienten. Verknüpft mit so lebhaften Emotionen fällt es ungleich leichter, sich die kognitiven Inhalte des Textes zu merken.
Revolte: Heiler und Gurus verheißen viel, aber auch sie können nicht helfen. Jean- Christophe, der Held des Comics, ist all die Heilversuche leid und revoltiert.
Revolte: Heiler und Gurus verheißen viel, aber auch sie können nicht helfen. Jean- Christophe, der Held des Comics, ist all die Heilversuche leid und revoltiert.
Als weiteres Beispiel für die Darstellung medizinischer Sachverhalte im Comic können mit Sicherheit „Die Simpsons“, immerhin die erfolgreichste Fernsehserie aller Zeiten, dienen. Die scheinbar harmlosen gelben Strichfiguren sezieren wie kaum eine andere Sendung die Zustände des US-amerikanischen Gesundheitswesens, die auch deutschen Medizinern zunehmend bekannt vorkommen werden. Da geht es um unzureichend ausgebildete Ärzte, falsch verschriebene Medikamente, das moralische Dilemma unzureichend versicherter Kranker, die schwierige Doppelrolle des Arztes als Heiler und Kaufmann sowie viele andere Probleme des Gesundheitswesens. Natürlich könnte man einwenden, dass all diese Themen viel seriöser und umfassender in zahlreichen Büchern, Publikationen und einigen Dokumentarfilmen abgehandelt worden seien. Dies ist absolut richtig, aber keine dieser Veröffentlichungen wird jemals eine vergleichbare Zahl von Zuschauern über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg erreichen können.
Die heilige Krankheit
Soeben ist der zweite Band des Comics „Die heilige Krankheit“ von David B. erschienen. Ist dies ein Kunstwerk, das es wahrzunehmen lohnt? In dem autobiografisch geprägten Werk beschreibt der Autor sein Aufwachsen im Schatten des schweren Anfallsleidens seines Bruders. Im Schulalter erleidet Jean-Christophe seinen ersten Krampfanfall und wird bis ins Erwachsenenalter hinein an einer kaum beeinflussbaren Epilepsie mit häufigen Anfällen leiden. Das Leben des zunächst unauffälligen Jungen, der mit den Kindern auf der Straße spielt und sich rauft, wird zunehmend geprägt von einer schweren chronischen Erkrankung. Doch nicht nur das Leben von Jean-Christophe selbst gerät unter den Einfluss der Epilepsie. Das ganze Familienleben ändert sich. Nachdem die Schulmedizin nicht weiterhelfen kann und als Ansprechpartner für die Familie vollkommen versagt, suchen die Eltern verzweifelt nach alternativen Heilmethoden. Während einer Zeit der makrobiotischen Ernährung kommt es zu einer Besserung des Anfallsleidens, die den schulmedizinisch gebildeten Leser fragen lässt, ob dies nicht auch ohne eine Ernährungsumstellung geschehen wäre.
Wegen der unerträglichen Blicke und des Getuschels der Nachbarn zieht sich die Familie zurück in ein Haus mit Garten, hinter dessen hohen Mauern sie sich und den Patienten verstecken können. Im Frankreich der Sechziger- und Siebzigerjahre machen sie die Bekanntschaft mit Magnetiseuren, Spezialmasseuren, Aussteigern und Kräuterheilern, die letztendlich alle den schweren Krankheitsverlauf nicht beeinflussen können.
Doch „Die heilige Krankheit“ ist keine Patientenaufklärung über Epilepsie. Es ist eine sehr persönlich erzählte Biografie des David B., der eigentlich Pierre-François Beauchard heißt. David B. beschreibt auch, wie sich seine eigene Wahrnehmung der Erkrankung des Bruders verändert. Zunächst sieht er die Epilepsie als etwas von außen Kommendes, in Form eines Drachens, der seinen Bruder immer wieder überfällt. Offen erzählt er von Ansteckungsängsten und wie er sich in seiner kindlichen Vorstellungswelt durch Ritterrüstungen und Schwerter gegen den Drachen zu verteidigen suchte, in einer sehr anschaulich beschriebenen Bilderwelt, in die er sich immer gekonnter flüchtet. In späteren Jahren kommt David zu der Überzeugung, dass sein Bruder und die Erkrankung immer mehr miteinander verschmolzen, eins geworden sind. Ungeschönt wird beschrieben, dass die Familie eines chronisch Kranken nicht immer nur empathische und freundliche Gefühle gegenüber dem Leidenden hat, die Mutter zieht sich gelegentlich erschöpft zurück, David malträtiert seinen Bruder während der Anfälle. Denn dieser ist durchaus nicht nur der freundliche, mitleiderregende Leidende. Der schwache Kranke sympathisiert mit blutrünstigen Diktatoren und lebt seine Pubertät auf ausgesprochen aggressive Weise aus.
Ist „Die heilige Krankheit“ also ein nur Aufklärungsbuch, das man Epilepsiepatienten und ihren Angehörigen empfehlen sollte? Keineswegs. Das wäre so, als würde man den „Struwwelpeter“ nur Angehörigen von schlecht gekämmten Kindern empfehlen. Vor allem ist es ein sehr gutes Buch, das man jedem empfehlen sollte, der gern gute Bücher liest. Es ist eine schonungslose, komplex erzählte Biografie. Aber gerade Ärzten bietet das Buch sehr viel mehr. Durch die Versachlichung der Medizin, die technischen Revolutionen, die Verbindlichkeit von Leitlinien und Evidenzen hat sich unwägbar viel verbessert. Wenn man den alten Begriff der Heilkunst anwendet, muss man feststellen, dass sich die Fähigkeit des Heilens stark verbessert hat. Aber der Aspekt der Kunst des Fachgebiets ist dabei stark vernachlässigt worden. Tomografen und Endoskope haben alte Untersuchungstechniken und geschickte Fragen weitgehend verdrängt. Der einzelne Patient wird als Teil eines statistischen Kollektivs und immer weniger als leidender Mensch wahrgenommen.
In „Die heilige Krankheit“ wird dargestellt, wie ein Familienschicksal jenseits jeder Statistik aussieht. Ohne Wehmut oder Wehleidigkeit versteht man den Wunsch der Familie, ja die Notwendigkeit nach Alternativen zur Schulmedizin. Anschaulich wird erzählt, dass ein überhebliches Auftreten gegenüber Patienten und ihren Angehörigen eine viel größere und negative Rolle spielen kann als medizinischer Sachverstand, und zugleich wird verdeutlicht, welche Hilfe Leidende wirklich brauchen.
So sind die Comics zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt. Von den Moritatentafeln, die einer breiten Masse komplexe Zusammenhänge verdeutlichen sollten und den tiefgründigen Belehrungen des Heinrich Hoffmann ausgehend, hat das Medium zurückgefunden zu seiner einmaligen Möglichkeit, durch eine Kombination von Text und Bild anspruchsvoll schwer Fassbares verständlich zu machen.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2007; 104(44): A 2997–0

Anschrift der Verfasser
Dr. med. Jakob Hein
Dr. med. Michael Rapp
Prof. Dr. med. Andreas Heinz
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Charité Campus Mitte
Charitéplatz 1, 10117 Berlin

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