ArchivDeutsches Ärzteblatt51-52/2007InfluenzaPandemie-Planung: Aktualisierte Empfehlungen bereiten Ärzteschaft auf den Ernstfall vor

MEDIZINREPORT

InfluenzaPandemie-Planung: Aktualisierte Empfehlungen bereiten Ärzteschaft auf den Ernstfall vor

Zylka-Menhorn, Vera

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Foto:GlaxoSmithKline
Foto:GlaxoSmithKline
Wie antivirale Arzneimittel während einer Influenzapandemie für die Postexpositions- und Langzeitprophylaxe eingesetzt werden sollten

Eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt auf, dass die Influenzapandemie-Planung innerhalb der Europäischen Union (EU) nicht nur deutlich variiert, sondern teilweise auch Mängel aufweist: Zwar haben zwei Drittel der Länder inzwischen Pläne erarbeitet, die sich an den Vorgaben der WHO orientieren; doch nicht einmal jedes zweite Land verfügt über Richtlinien, wie, wann und an wen im Ernstfall antivirale Medikamente verteilt werden sollen (www.who.int/entity/bulletin/volumes/85/06-039834.pdf). Als einziges EU-Land haben nur die Niederlande eine detaillierte Pandemie-Planung ausgearbeitet.
Wie stellt sich die Situation in Deutschland dar – zumal der Nationale Pandemieplan im Fall einer Masseninfektion davon ausgeht, dass rund 30 Prozent der deutschen Bevölkerung erkranken und etwa 100 000 Personen versterben werden? Ausgangspunkt ist die drängende Frage, wie die kritische Phase zwischen dem Ausbruch einer Pandemie und der Verfügbarkeit eines entsprechenden Impfstoffs medizinisch bewältigt werden kann. Sind beispielsweise Unternehmen verpflichtet, für ihre Mitarbeiter antivirale Arzneimittel zur Prophylaxe bereitzustellen? Welche Personen sollten nach welchen Schemata behandelt werden, und wie ist die Effektivität dieser Maßnahmen einzuschätzen?
Die WHO geht seit 2002 davon aus, dass antivirale Arzneimittel im Fall einer Influenzapandemie prophylaktisch wirksam sind. Dennoch ist die Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme immer wieder kontrovers diskutiert worden. Die Spitzenverbände der deutschen Ärzteschaft* haben 2005 in einer Stellungnahme empfohlen, Neuraminidaseinhibitoren zur Therapie von akut Erkrankten für bis zu 20 Prozent der Bevölkerung zu bevorraten.
Der Aspekt des prophylaktischen Einsatzes antiviraler Arzneimittel wurde darin jedoch nicht im Detail behandelt. Diese Lücke wird nun mit einem aktuellen Memorandum geschlossen (siehe Bekanntgaben). Darüber hinaus werden die gesetzlichen – insbesondere arbeitsschutzrechtlichen – Grundlagen dargestellt, die der Ärzteschaft als Entscheidungshilfe dienen sollen.
Arzneimitteloptionen
In der Prophylaxe und Therapie von Influenzainfektionen sind die M2-Ionenkanal-Blocker Amantadin und Rimantadin sowie die Neuraminidaseinhibitoren Oseltamivir und Zanamivir prinzipiell wirksam.
Amantadin und Rimantadin sind nur bei Influenza A wirksam. In Deutschland sind verschiedene Amantadin enthaltende Arzneimittel sowohl für die Behandlung des Morbus Parkinson als auch zur Prophylaxe und Therapie der Influenza A (ab dem fünften Lebensjahr) zugelassen. Rimantadin ist hierzulande nicht zugelassen.
Die Neuraminidaseinhibitoren Oseltamivir (Tamiflu®) und Zanamivir (Relenza®) sind in der Prophylaxe und Therapie der saisonalen Influenza A und B wirksam. Tamiflu ist hierfür bei Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, Relenza bei Kindern ab dem vollendeten fünften Lebensjahr zugelassen. Die Behandlung beziehungsweise Postexpositionsprophylaxe sollte so bald wie möglich, spätestens jedoch 36 bis 48 Stunden nach Auftreten der Symptome oder nach Kontakt mit einer infizierten Person begonnen werden.
Pflichten des Arbeitgebers
Nach § 3 des Arbeitsschutzgesetzes ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Sicherheit und Gesundheit seiner Beschäftigten zu gewährleisten. Das bedeutet, dass er eine – auf die Art der Tätigkeit und die Zahl der Beschäftigten abgestimmte – Organisationsstruktur aufbauen und die erforderlichen (Arznei-)Mittel bereitstellen muss.
Dazu gehört auch die Bestellung von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit. Die Indikation zur Prophylaxe mit antiviralen Arzneimitteln und zur Impfung bei Beschäftigten hat im Rahmen einer
arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung zu erfolgen. Die Kosten für diesen Maßnahmenkatalog darf der Arbeitgeber nicht den Beschäftigten auferlegen.
Praktische Konsequenzen
Aufgrund der möglichen hohen Infektiosität des Pandemievirus, das auf eine immunologisch „naive“ Bevölkerung trifft, muss für Personengruppen mit hohem Infektions- und Erkrankungsrisiko eine Postexpositions- oder Langzeitprophylaxe mit Neuraminidaseinhibitoren (insbesondere in der ersten Phase der Influenzapandemie) ernsthaft geprüft werden. Zu diesem Personenkreis gehören medizinisches Personal, pflegende Angehörige, Kinder, Menschen mit chronischen Erkrankungen, Mitarbeiter von Institutionen der öffentlichen Ordnung sowie Personen mit häufigem oder intensivem Kontakt mit Erkrankten.
Eine absehbare berufliche Exposition mit dem Pandemievirus kann eine Postexpositionsprophylaxe mit antiviralen Arzneimitteln, die im
Individualfall möglicherweise als Langzeitprohylaxe anzulegen ist, erforderlich machen. Dies würde nicht nur den jeweils exponierten Personen dienen, sondern vor allem die medizinische Versorgung der Patienten sichern und die Übertragungswahrscheinlichkeit für gesunde Kontaktpersonen verringern.
Eine Langzeitprophylaxe bei Beschäftigten sollte vom Arbeitgeber mithilfe des Betriebsarztes nur unter strenger Prüfung der Notwendigkeit durchgeführt werden. In erster Linie ist dies bei medizinischem Personal anzunehmen; es könnte aber auch bei exponierten Gruppen mit häufigem Personenkontakt (Polizisten) oder bei Beschäftigten in Bereichen der Grundversorgung (Energie- oder Wasserwirtschaft) gegeben sein.
In diesen Fällen dient die prophylaktische Anwendung des antiviralen Arzneimittels der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Der Gesetzgeber hat gesetzliche Möglichkeiten geschaffen, dass Arbeitgeber für ihre Beschäftigten eine Eigenbevorratung vorsehen können.
Die Entscheidung für einen Einsatz von antiviralen Arzneimitteln zur Postexpositions- und Langzeitprophylaxe ist von einem Arzt unter Berücksichtigung der betrieblichen Gefährdungsanalyse beziehungsweise der individuell gegebenen Indikationen zu treffen.
Nach den gängigen Simulationsmodellen besteht die Möglichkeit, dass sich die pandemische Phase über den Zeitraum von sechs Wochen hinaus ausdehnen wird. Da die Gabe von Neuraminidaseinhibitoren nur für vier beziehungsweise sechs Wochen zugelassen ist und noch keine wissenschaftlichen Daten für die darüber hinausgehende Anwendung des Arzneimittels vorliegen, muss der Off-label-Gebrauch von antiviralen Arzneimitteln in Betracht gezogen werden.
Für den Arzt bedeutet dies, dass ihm beim Off-label-Einsatz gegenüber dem Patienten eine gesteigerte Aufklärungspflicht zukommt. Es wird zudem empfohlen, den Patienten um eine schriftliche Einwilligung in die Therapie zu bitten.
Was noch zu tun ist
Derzeit erstellen die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung gemeinsam mit der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege Pandemie-Notfallpläne in Form von Checklisten für die Arztpraxis.
Das Bundesministerium für Gesundheit sowie die Landesgesundheitsbehörden erkennen einerseits das Erfordernis für Arbeitgeber an, antivirale Arzneimittel zu bevorraten. Andererseits sehen sie bisher keinen Regelungsbedarf, Personenkreise, die nicht unter arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen fallen, mit antiviralen Arzneimitteln zur Postexpositionsprophylaxe zu versorgen. Dazu gehören Kinder beziehungsweise alte und chronisch kranke Menschen.
Hierzu beziehen die Spitzenverbände* wie folgt Stellung: „Aus ärztlicher Sicht muss dafür Sorge getragen werden, allen Bevölkerungsgruppen mit hohem Expositionsrisiko bei gegebener Indikation eine Postexpositionsprophylaxe, insbesondere in der ersten Phase der Influenzapandemie zu ermöglichen. Hierzu sind von der Politik praktikable Konzepte gemeinsam mit Krankenversicherungen und der Ärzteschaft zu entwickeln, die den Zugang zu antiviralen Arzneimitteln und die Finanzierung zum Zweck des prophylaktischen Einsatzes gewährleisten können.
Es wird nicht verkannt, welche finanziellen Anstrengungen dies vor dem Hintergrund des potenziell großen betroffenen Personenkreises bei gleichzeitig bestehender Notwendigkeit zur therapeutischen Anwendung dieser Arzneimittel impliziert. Umso notwendiger und dring-licher sind Bevorratungs- und Verteilungskonzepte zu erstellen. Da diese Arbeiten auf vielen Ebenen zu vollziehen sind, stellen sie eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar.“
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn

* Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereingung (KBV) und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)

Defizite in mittelständischen Betrieben
Laut einer Umfrage vom Münchner Institut für Marktforschung im Gesundheitswesen (IMIG) ist nur die Hälfte aller Unternehmen auf eine Grippepandemie vorbereitet. Dies ergab eine telefonische Befragung von 150 Unternehmen, die zwischen 1 000 und 5 000 Mitarbeiter beschäftigen. Interviewpartner waren Betriebsärzte, Werksärzte, Geschäftsführer, Abteilungsleiter und andere Entscheider für die unternehmensinterne Planung.
Danach wird die Influenzapandemie-Gefahr von 75 Prozent der Befragten als „mittelmäßig“ bis „weniger groß“ eingeschätzt. Daher verwundert es nicht, dass nur die Hälfte aller Unternehmen
einen konkret ausgearbeiteten Pandemieplan vorliegen hat. Etwa 80 Prozent der Befragten erwarten jedoch Schwierigkeiten im Fall seiner Umsetzung und Implementierung. Bei etwa 60 Prozent der Firmen sind zur Bevorratung antivirale Medikamente eingekauft worden. Das Spektrum reicht von zehn bis
20 Packungen (nur für die Geschäftsleitung und leitende Mitarbeiter) bis hin zu 2 000 Packungen für
einen Großteil der Mitarbeiter.

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