THEMEN DER ZEIT
Gesundheitliche Folgen Häuslicher Gewalt: Ärzte sollten ganz genau hinsehen
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Frauen leiden unter
Gewalt in Paarbeziehungen.
Sie
zählt weltweit und
in allen sozialen
Schichten zu ihren
häufigsten Gesundheitsrisiken. Foto: Mauritius images
Häusliche Gewalt und körperliche Misshandlung zählen weltweit und in allen sozialen Schichten zu den wesentlichen Gesundheitsrisiken von Frauen (12). Obwohl Frauen auch Täterinnen und Männer Opfer häuslicher Gewalt sein können, sind Frauen wesentlich häufiger von schwerer und in hoher Frequenz auftretender Gewalt in Paarbeziehungen betroffen (5). Den Ergebnissen einer repräsentativen Untersuchung von Müller und Schröttle (9) zufolge haben in Deutschland 37 Prozent der befragten Frauen zwischen 16 und 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt erlebt. 13 Prozent wurden Opfer sexueller Übergriffe und 42 Prozent von psychischer Misshandlung. Etwa 25 Prozent der Frauen gaben an, körperliche oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner erlebt zu haben. 64 Prozent der Frauen, die von Partnergewalt betroffen waren, hatten körperliche Verletzungen von Prellungen bis zu Verstauchungen, Knochenbrüchen, offenen Wunden und Kopf- beziehungsweise Gesichtsverletzungen. Je nach Gewaltform gaben zwischen 56 und 80 Prozent der Betroffenen psychische Folgebeschwerden an.
Bei Verdacht die Patientinnen ansprechen
Die Bekämpfung häuslicher Gewalt ist nicht nur Aufgabe von Polizei und Justiz, sondern auch von Ärzten, die als eine zentrale Anlaufstelle für Frauen mit Gewalterfahrungen gelten (7). Sie können den Gewaltopfern durch eine frühzeitige Intervention in Form von gerichtsverwertbarer Dokumentation, Informationen und Beratungsangeboten Unterstützung bieten. Nur etwa jede fünfte betroffene Frau nimmt medizinische Hilfe unmittelbar infolge der Gewaltsituationen in Anspruch (9). Neben den akuten Verletzungsfolgen ist deshalb auch an chronische Gewaltfolgen zu denken (4). Selbst Patientinnen mit akuten Verletzungen geben sich aufgrund von Angst, Scham oder Schuldgefühlen nicht immer als Opfer zu erkennen. Eine Unter- und Fehlversorgung ist deshalb zu vermuten, eine erhöhte Sensibilität bei behandelnden Ärzten erscheint notwendig (8, 2). Grund-sätzlich sollten Frauen auf einen möglichen Verdacht angesprochen und ermutigt werden, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Die Bundesregierung legte 1999 erstmals einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor, dessen landesweite Umsetzung von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe seit 2000 begleitet wird. Seit September 2007 liegt bereits der zweite Aktionsplan vor, der zusätzlich die medizinische Versorgung und Frauen mit Migrationshintergrund berücksichtigt (1). Mitglieder sind die jeweils zuständigen Bundesministerien, die Fachminis-terkonferenzen der Bundesländer, Präventionsprojekte sowie Beratungsstellen und Frauenhäuser. Zusätzlich haben fast alle Bundesländer Maßnahmen beschlossen. Der Stand der Umsetzung ist in den einzelnen Bundesländern noch recht unterschiedlich. Im Rahmen dessen wurden Materialien entwickelt, deren Kern gerichtsverwertbare Dokumentationssysteme zu häuslicher Gewalt und körperlicher Misshandlung sind, die speziell für die ärztliche Untersuchung konzipiert wurden.
Foto: Fotolia/Baker
Da es sich bei der Befunderhebung von Verletzungen, die auf Gewalteinwirkungen zurückzuführen sind, um ein Beweisstück handelt, werden an eine solche Dokumentation andere Anforderungen gestellt, als an gewöhnliche ärztliche Attes-tierungen (11). Um gerichtsverwertbar zu sein, muss die Befunderhebung unter anderem folgenden Kriterien entsprechen: Die Lage der Verletzungen muss exakt zugeordnet werden. Es empfiehlt sich, diese in ein Körperschema einzuzeichnen.
Gewalt gegen
Frauen kann sehr
offensichtlich sein.
Doch aus Scham
oder Schuldgefühl
reden nicht alle Patientinnen
über ihre
Erfahrungen. Nicht
nur wenn Verletzungen
eindeutig sind,
sondern auch schon
bei einem Verdacht
sollten Ärzte Patientinnen
ansprechen. Foto: vario-images
Informationen über die Patientin, die jedoch für das Delikt unbedeutend sind, sollten dagegen nicht genannt werden. Daraus könnten sich für die Patientin potenziell Nachteile ergeben oder eine neue Bedrohung aus dem Umfeld des Täters entstehen. Es gilt zu bedenken, dass das Dokumentationsformular im Fall einer polizeilichen Anzeige von allen Prozessteilnehmern gelesen werden und somit auch gegen die Betroffenen verwendet werden kann (3).
Wichtige Sachverständige
Ärzte sind in diesem Kontext Sachverständige, die bestimmte Zustände erkennen und beurteilen können und diese vor Gericht gegebenenfalls bestätigen müssen. Auch wenn das Ausfüllen eines Dokumentationsbogens sehr aufwendig ist, handelt es sich um eine wichtige Aufgabe, die aufgrund der ärztlichen Garantenpflicht, Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen, sorgfältig erfüllt werden muss. Der Schutz der betroffenen Frau und gegebenenfalls eine Verurteilung von Gewalttätern hängt entscheidend von der Qualität einer ärztlichen Dokumentation ab.
Die in den einzelnen Bundesländern entwickelten Dokumentationsbögen bei häuslicher Gewalt dienen dazu als Hilfestellung. Sie sollen die Arbeit erleichtern, der Qualitätssicherung dienen sowie unnötige Doppeluntersuchungen vermeiden. Sie basieren zum Teil auf dem internationalen Erkenntnisstand und praktischen Erfahrungen im Ausland (3).
Der bundesweit erste Dokumentationsbogen wurde in Berlin im Rahmen des S.I.G.N.A.L.-Interventionsprojekts (6) entwickelt. Derzeit gibt es in allen Bundesländern, außer in Brandenburg, ähnliche Instrumente, die landesabhängig spezifiziert wurden. Sie unterscheiden sich aber in einigen wesentlichen Punkten. Alle enthalten ein Schaubild zum Eintragen sichtbarer Verletzungen und einen Leitfaden zum Umgang mit Betroffenen, manche enthalten Beispielformulierungen, andere eine Schweigepflichtentbindung oder Angaben zur Vorgeschichte.
Ärzte können frei wählen, welchen Bogen sie benutzen möchten. Alle Dokumentationssysteme sind über das Internet abrufbar (Tabelle). Daraus ergibt sich die Frage nach der Qualität der einzelnen Dokumentationssysteme und dem Sinn der einzelnen Bestandteile.
Alle Dokumentationssysteme enthalten einen Handlungsleitfaden, ergänzt durch ein Informationsblatt über rechtliche Grundlagen sowie Adressen von Beratungsstellen. Solche Informationen werden von Ärzten überwiegend als sehr hilfreich beschrieben (7, 2). Beispielformulierungen, wie im Verdachtsfall ein für die Patientin sehr belastendes Thema angesprochen werden sollte, können Ärzten Unterstützung bieten und helfen, Fehleinschätzungen zu vermeiden. Eine Schweigepflichtentbindung des Arztes, die den Dokumentationssystemen von Berlin, Hamburg oder Saarland beiliegt, ist nicht notwendig, da diese vonseiten der Patientin nur dann in Kraft tritt, wenn es zu einer polizeilichen Anzeige kommt. Da eine polizeiliche Anzeige auch erst Jahre nach der Untersuchung erfolgen kann, hat die beigefügte Schweigepflichtentbindung keine Relevanz, sie müsste zu dem Zeitpunkt ohnedies wiederholt werden. Umgekehrt kann das Unterschreiben einer Schweigepflichtentbindung für die Patientin im Akutfall eine Überforderung darstellen, weil sie in einem emotional belasteten Augenblick die Konsequenzen ihrer Entscheidung vollständig überblicken müsste.
Aus juristischer Perspektive ist es dagegen problematisch, Angaben zur Vorgeschichte der Patientin mit eventuellen Misshandlungen zu machen, da dies nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der konkreten Situation steht und aus oben beschriebenen Gründen auch gegen die Patientin verwendet werden kann (3).
Nach diesen Kriterien kann der hessische Dokumentationsbogen bei häuslicher Gewalt und körperlicher Misshandlung als der derzeit beste bewertet werden. Er wurde im September 2007 durch die „Dokumentation und Untersuchung bei sexualisierter Gewalt“ ergänzt. Bei sexueller Gewalt wird die ärztliche Untersuchung der betroffenen Frau meist durch eine vorangegangene Anzeige veranlasst. In einem solchen Fall entfällt die ärztliche Schweigepflicht auch ohne Einwilligungserklärung der Patientin. Ärzte müssen hier ihren Befund bei einer Gerichtsverhandlung bezeugen.
Prof. Dr. phil. Beate Blättner, Birte Frerick,
Irina Müller, Hochschule Fulda,
Fachbereich Pflege und Gesundheit
Anschrift für die Verfasserinnen
Irina Müller M.Sc., Projekt A.U.S.W.E.G.,
Hochschule Fulda, Fachbereich Pflege und
Gesundheit, Marquardstraße 35, 36039 Fulda,
E-Mail: irina.mueller@pg.hs-fulda.de
Weitere Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit108
1.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; 2007. Download unter www.bmfsjf.de
2.
Blättner B, Müller I: Häusliche Gewalt und körperliche Misshandlung von Frauen: Ergebnisse einer Befragung hessischer Ärztinnen und Ärzte. Hessisches Ärzteblatt 2007; 68. Jhrg.: 565–8.
3.
Gage-Lindner NM: Ärztliche Dokumentation der Gewalt gegen Frauen – wozu sie gut sein kann. GEORGIA Nr. 5 – Som.Sem 2003.
4.
Graß H, Rothschild MA: Klinische Rechtsmedizin. Aufgaben und Herausforderung im Rahmen der medizinischen Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Rechtsmedizin, Springer Medizin Verlag 2004 (14): 188–92.
5.
Heiliger A et al.: Gewalthandlungen und Gewaltbetroffenheit von Männern und Frauen, in: Corneließen W: Gender-Datenreport. 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag des BMFSFJ, Berlin, 2005: 609–89.
6.
Hellbernd H et al.: Häusliche Gewalt gegen Frauen: gesundheitliche Versorgung. Das S.I.G.N.A.L.-Interventionsprogramm. Handbuch für die Praxis. Wissenschaftlicher Bericht. Berlin, 2003: Institut für Gesundheitswissenschaften, Technische Universität.
7.
Mark H: Häusliche Gewalt gegen Frauen aus der Sicht niedergelassener Ärztinnen und Ärzte: Ergebnisse einer Befragung in den Berliner Bezirken Hohenschönhausen und Lichtenberg. Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften 2000 (8), 4: 332–46.
8.
Maschewski-Schneider U et al.: Über-, Unter-, Fehlversorgung und Frauengesundheit. Ein Forschungsgegenstand für Public Health. Bundesgesundheitsblatt–Gesundheitsforschung–Gesundheitsschutz, Springer-Verlag 2001 (8); 44: 771–9.
9.
Müller U, Schröttle M: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, im Auftrag des BMFSFJ, Berlin, 2004.
10.
Netzwerk Gewaltprävention im Gesundheitswesen: Ärztliche Dokumentation bei häuslicher Gewalt-körperlicher Misshandlung. Wiesbaden: Hessisches Sozialminis-terium 2005.
11.
Seifert D et al.: Frauen und Kinder als Opfer häuslicher Gewalt. Dtsch Ärztebl 2006; 103: A 2168–73 [33]. VOLLTEXT
12.
Weltgesundheitsorganisation: Weltreport Gewalt und Gesundheit. Zusammenfassung. Geneva: World Health Organisation 2003.
Tabelle
1. | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; 2007. Download unter www.bmfsjf.de |
2. | Blättner B, Müller I: Häusliche Gewalt und körperliche Misshandlung von Frauen: Ergebnisse einer Befragung hessischer Ärztinnen und Ärzte. Hessisches Ärzteblatt 2007; 68. Jhrg.: 565–8. |
3. | Gage-Lindner NM: Ärztliche Dokumentation der Gewalt gegen Frauen – wozu sie gut sein kann. GEORGIA Nr. 5 – Som.Sem 2003. |
4. | Graß H, Rothschild MA: Klinische Rechtsmedizin. Aufgaben und Herausforderung im Rahmen der medizinischen Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Rechtsmedizin, Springer Medizin Verlag 2004 (14): 188–92. |
5. | Heiliger A et al.: Gewalthandlungen und Gewaltbetroffenheit von Männern und Frauen, in: Corneließen W: Gender-Datenreport. 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag des BMFSFJ, Berlin, 2005: 609–89. |
6. | Hellbernd H et al.: Häusliche Gewalt gegen Frauen: gesundheitliche Versorgung. Das S.I.G.N.A.L.-Interventionsprogramm. Handbuch für die Praxis. Wissenschaftlicher Bericht. Berlin, 2003: Institut für Gesundheitswissenschaften, Technische Universität. |
7. | Mark H: Häusliche Gewalt gegen Frauen aus der Sicht niedergelassener Ärztinnen und Ärzte: Ergebnisse einer Befragung in den Berliner Bezirken Hohenschönhausen und Lichtenberg. Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften 2000 (8), 4: 332–46. |
8. | Maschewski-Schneider U et al.: Über-, Unter-, Fehlversorgung und Frauengesundheit. Ein Forschungsgegenstand für Public Health. Bundesgesundheitsblatt–Gesundheitsforschung–Gesundheitsschutz, Springer-Verlag 2001 (8); 44: 771–9. |
9. | Müller U, Schröttle M: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, im Auftrag des BMFSFJ, Berlin, 2004. |
10. | Netzwerk Gewaltprävention im Gesundheitswesen: Ärztliche Dokumentation bei häuslicher Gewalt-körperlicher Misshandlung. Wiesbaden: Hessisches Sozialminis-terium 2005. |
11. | Seifert D et al.: Frauen und Kinder als Opfer häuslicher Gewalt. Dtsch Ärztebl 2006; 103: A 2168–73 [33]. VOLLTEXT |
12. | Weltgesundheitsorganisation: Weltreport Gewalt und Gesundheit. Zusammenfassung. Geneva: World Health Organisation 2003. |
Pollak, Stefan
Langenfeld, Frank