POLITIK
Projekt Elektronische Gesundheitskarte: Notfalldaten – mehr Schein als Sein?
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DÄ plus


Ob die Speicherung
der Notfalldaten
auf der
Gesundheitskarte
tatsächlich zu einer
Qualitätsverbesserung
der Notfallversorgung
führt, ist
auf der Basis des
bisherigen Konzepts
noch nicht ausgemacht.
Foto: Superbild
Eine der freiwilligen Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte ( eGK) ist die Dokumentation der Notfalldaten. Diese Anwendung dient derzeit auch dem Versuch, die Akzeptanz der eGK in der Bevölkerung zu erhöhen. Umfragen und Medienberichten zufolge sind die Erwartungen der Bevölkerung an den Notfalldatensatz auf der eGK groß. Eine der Vorstellungen ist die, dass mit den Notfalldaten die unbedingte Speicherung der Blutgruppen verbunden wird. Das vermeintliche Wissen über die Blutgruppenzugehörigkeit und die damit verbundene Vorstellung von lebensrettendem Blutersatz beherrscht die Diskussion der Patienten und Patientinnen. Sicher gehören auch die Vorstellung von lebensrettender Medikation bei lebensbedrohlichen Krankheiten und die Behandlung von lebensbedrohenden Allergien mit in das Bild über den Nutzen der Notfalldaten.
Mit der schnellen Bereitstellung von Notfalldaten wird in der Öffentlichkeit für die Einführung der eGK geworben. Hierbei sollen die Daten auch ohne die PIN des Patienten nur mit dem elektronischen Heilberufsausweis oder dem elektronischen Arztausweis lesbar sein. Wer wollte nicht befürworten, Notärzten in Sekundenschnelle lebensrettende Informationen zur Verfügung zu stellen, wenn es um Leben und Tod geht? Genau für diese Situation, nämlich den im Rettungsdienst tätigen Ärzten notfallrelevante Informationen unmittelbar für lebensrettende Maßnahmen zugänglich zu machen, sind die auf der eGK gespeicherten Informationen gemäß „Fachkonzept Daten für die Notfallversorgung“ der Gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH) gedacht.
Speichern und Lesen
Nach diesem Fachkonzept wird die Dokumentation der Notfalldaten nur auf Wunsch der Versicherten erbracht. Im Gegensatz zur Kontrolle der Versichertenstammdaten und zum elektronischen Rezept besteht für die Versicherten keine Verpflichtung, im Rahmen des Behandlungsvertrags die Notfalldaten speichern zu lassen. Werden die Notfalldaten dokumentiert, muss der Patient eine Einwilligung erteilen, die der Arzt schriftlich dokumentieren muss. Die auf der eGK gespeicherten Daten sollen von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten (sowohl im stationären als auch ambulanten und sogar im zahnärztlichen Bereich) angelegt und stets aktualisiert werden. Datum und Uhrzeit der letzten Aktualisierung sind auf der eGK ablesbar. Die Pflege der Notfalldaten ist Aufgabe eines (Zahn-) Arztes. Auch wenn die Patienten Daten auf der eGK nicht verändern können, so können sie diese aber ohne die Mithilfe eines Arztes nur mit ihrer eGK als Schlüssel komplett verbergen. Nach dem Verbergen sind die Daten dann zwar noch auf der Karte vorhanden, aber nich mehr sichtbar. Um dies allen Versicherten zu ermöglichen, sind sogenannte E-Kioske in Planung, an denen der mündige Patient ohne Hilfe eines Heilberuflers seine Akte einsehen und Daten verbergen kann.
Zusätzlich zu dem Namen und der Telefonnummer des behandelnden Arztes und einer eventuell zu benachrichtigenden Person ist derzeit die Speicherung von bis zu 15 notfallrelevanten Diagnosen, Operationen und bis zu 20 notfallrelevanten Medikamenten geplant. Bei den Medikamenten geht man davon aus, dass sowohl deren Handelsnamen als auch die Wirkstoffe auf der eGK gespeichert werden sollen. Hinzukommen sollen noch Informationen über Allergien und Unverträglichkeiten. Die Lesbarkeit der Daten soll durch ein tragbares, nicht netzgebundenes Lesegerät gewährleistet werden.
Medizinischer Nutzen
Es ergibt sich die Frage, welchen Nutzen diese Anwendung der eGK für den Notarzt beim akuten Einsatz hat. Soll neben Notfallkoffern, Beatmungsgeräten, Absaugern etc. ein zusätzliches Lesegerät an Unfallorte, in Dachwohnungen und andere entlegene Einsatzorte mitgeführt und eingesetzt werden, dann sind mit Recht bei einem solchen Notarzteinsatz Informationen von äußerster Relevanz durch dieses Gerät zu erwarten.
Nehmen wir das Beispiel eines hypovolämischen Schocks, der sich anhand der klinischen Symptome offenbart. Auf der Basis der schnell abgerufenen eGK-Information könnte die Symptomatik auf eine fatale Medikamentenkombination von einem Thrombozytenaggregationshemmer und einem nicht steroidalen Antirheumatikum zurückgeführt werden. Trotz dieser wichtigen Information ist es für eine Notfalltherapie vor Ort vollkommen unerheblich, auf welche Ursache die hypovolämische Schocksituation zurückzuführen ist. Es kommt auf die schnelle und suffiziente symptomatische Behandlung an, die das Leben des Patienten retten und ihn dann möglichst schnell stabilisieren soll, um die Transportfähigkeit in das nächste Krankenhaus zu gewährleisten.
Damit hat die auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeicherte Zusatzinformation erst bei der weiteren Behandlung, zum Beispiel nach der Einlieferung in ein Krankenhaus, einen gewissen Nutzen, da die Information für die weitere Diagnostik und Therapie in der Klinik von Interesse sein kann.
Betrachtet man die Notfalldaten aus einem anderen Blickwinkel, geht es einem Notarzt trotz aller Aktualität der Notfalldaten in einer akuten Notsituation nicht viel besser als mit der Sammlung von diversen Verordnungszetteln, die mancher Angehörige präsentiert, oder mit einer Ansammlung von Medikamentenpackungen, die wohlverwahrt in Wohnzimmerschränken lagern. Ob der Patient wirklich die zuletzt vom Kollegen X verordneten Medikamente nimmt oder doch die zuvor von Kollegin Z verschriebenen Tabletten, ist auch mit der Notfalldatendokumentation nicht geklärt. Es wird auch weiterhin eher detektivischen Spürsinn erfordern, um tatsächliche Medikamenteneinnahmen zu klären. Selbst wenn die Daten auf der eGK ständig aktualisiert wurden, können wirklich notwendige Informationen selbstverständlich nicht immer abgeleitet werden.
Zusätzliche Informationen im Notfall
Diagnosen und Operationen wie „COPD, KHK, interner Defibrillator“ sollen auf der eGK ebenso gespeichert werden wie „Glasauge und Kontaktlinsen“. Angaben wie „fortgeschrittenes, metastasiertes Malignom“ oder die Ausprägungsgrade seniler Demenz sind dagegen nicht vorgesehen, obwohl gerade diese Informationen für eine Entscheidung zur Durchführung von Reanimationsmaßnahmen gegebenenfalls eher entscheidend sind.
Einträge über eine Patientenverfügung, vom Versicherten und behandelnden Arzt möglichst zeitnah signiert, würden das Handeln im Notfall erleichtern und sicher auch im Interesse der Selbstbestimmung der Patienten sein. Eine Patientenverfügung müsste aber mit einer Signaturkarte des Versicherten unterschrieben sein. Da die wenigsten Versicherten derzeit eine eigene Signaturkarte besitzen, kann hier nur ein Hinweis auf eine Patientenverfügung gegeben werden – inwieweit dies im Notfall nützt, ist fraglich.
Fazit
Wichtige Informationen, die insbesondere die Selbstbestimmung der meist nicht mehr artikulationsfähigen Notfallpatienten betreffen, fehlen auf der eGK.
Die gespeicherten Informationen über Diagnosen und Medikationen sind in der Notfallsituation nur bedingt hilfreich. In der Aufnahmesituation im Krankenhaus wiederum dürfen die Notfalldaten nach Ansicht der Landesbeauftragten für Datenschutz in Nordrhein-Westfalen nicht benutzt werden. Sie sind ausschließlich zur Behandlung der akuten Notfallsituation vorbehalten. Damit verliert die als ein Herzstück der eGK geplante Speicherung der Notfalldaten ihre Relevanz.
Die Dokumentation von bestimmten notfallrelevanten Daten ist sinnvoll, wenn die Daten nicht nur in der Notsituation zu nutzen sind, sondern vor allem (auch) bei einer anschließenden Weiterbehandlung. Der Zugriff auf die Daten in einer Notsituation muss unter der Prämisse erfolgen, dass die Nutzung auch in extremen Situationen möglich, durchführbar und nicht primär zeitraubend ist. Außerdem muss sichergestellt sein, dass die Notfallakte weder alt, überholt noch unvollständig ist. Das Dilemma wäre sonst vergleichbar mit der Umsetzung der Maßnahmen bei manchen heutigen Patientenverfügungen, deren Aktualität oft zweifelhaft bleibt.
Solange diese Forderungen nicht gewährleistet sind, bleibt die Frage über den Sinn einer solchen Datenspeicherung weiter bestehen. In Bezug auf die Akzeptanz bei den Patienten und Patientinnen dient die Notfallakte damit derzeit noch mehr dem Schein als dem Sein.
Ulrike Hein-Rusinek (Notärztin),
Christiane Groß
Anschrift für die Verfasserinnen
Dr. med. Christiane Groß M.A.
Vorsitzende des Ausschusses „eHealth“
der Ärztekammer Nordrhein
Ärztekammer Nordrhein, Tersteegenstraße 9
40474 Düsseldorf, E-Mail: ehealth@cgross.de
Fachkonzept „Daten für die Notfallversorgung (Notfalldaten)“ im Internet: www.aerzteblatt.de/plus0308
Serie Telematik
Bisher erschienene Beiträge:
- Heft 45/2007: Interview zum Projekt Gesundheitskarte mit
Dr. med. Franz-Joseph Bartmann, Vorsitzender des Ausschusses Telematik der Bundesärztekammer und Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein: „Neue Karte, neuer Schlitz – sonst passiert nichts“
- Heft 49/2007: Kommentar von Wilfried Deiß, Facharzt für Innere Medizin, Hausarzt: Projekt elektronische Gesundheitskarte – Fuchs statt Monster
- Heft 51–52/2007: Heike E. Krüger-Brand: Gesundheitstelematik – Sanfter Ausbau statt „Big Bang“
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