THEMEN DER ZEIT
Enhancement: Eingriff in die personale Identität
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Unter Neuroenhancement versteht man Maßnahmen, die die kognitiven Fähigkeiten oder psychischen Befindlichkeiten von als gesund geltenden Menschen verbessern. Psychopharmakologisches Enhancement, auch „pharmakologisches Neuroenhancement“ genannt, bezeichnet die nicht medizinisch indizierte Verabreichung von Medikamenten, die für Patienten mit Demenzerkrankungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen oder Narkolepsie entwickelt wurden. Seit den 80er-Jahren lässt sich insbesondere in den USA zunehmend ein „außermedizinischer“ Einsatz von Psychopharmaka beobachten.
Ihre Anwendung dient der Verbesserung der Gedächtnisleistung, der Steigerung der Aufmerksamkeit, der Aufhellung der Stimmung oder der Reduktion des Schlafbedürfnisses. Während die Verbesserung der kognitiven Leistungen vor allem in Schule, Studium und Beruf eine Rolle spielt, werden Antidepressiva wie Fluoxetin eingenommen, um sich von ungeliebten Eigenschaften wie einem (zumindest subjektiv) als mangelhaft empfundenen Selbstbewusstsein zu befreien oder sich einfach besser als „gut“ zu fühlen. Auch die Reduktion des Schlafbedürfnisses kann im schulischen und beruflichen Umfeld als wünschenswerte und attraktive Option angesehen werden. Sie ist zudem im militärischen Bereich von Interesse, wo der Schlafbedarf von Soldaten im Verteidigungs- oder Angriffsfall eine entscheidende Rolle spielen kann. Möglich ist es auch, mithilfe von Psychopharmaka die Empfänglichkeit für religiöse Erfahrungen zu erhöhen.
Der Bedarf an chemischen Neuroenhancern orientiert sich letztlich an gesellschaftlich als erwünscht wahrgenommenen Charaktereigenschaften und psychischen Zuständen. Menschen in Orient wie Okzident greifen seit Jahrhunderten auf Mittel zurück, die den zerebralen Zustand beeinflussen („natürliche“ Psychopharmaka). Besonders markante und geläufige Beispiele sind zerebrale Stimulanzien wie Koffein und dessen Analoga (Kaffee, schwarzer Tee, Cola), Sedativa wie Alkohol, Stimmungsaufheller wie Schokolade oder Nutrazeutika und Phytotherapeutika wie Kava und Ginkgo biloba, die in der modernen Gesellschaft breit akzeptiert sind.
Autonomie und Selbstbestimmung
Befürworter von Enhancement-Verfahren rekurrieren häufig vor allem auf die Autonomie und die Selbstbestimmung der betreffenden Personen. Für sie stellt Enhancement eine eigenverantwortliche Selbstveränderung dar, die keine ethisch relevanten Probleme aufwirft, solange sichergestellt ist, dass sie aus eigenem Antrieb und freiwillig durchgeführt wird und in der Konsequenz keinen Schaden für Dritte mit sich bringt. Eine entsprechende Argumentation vertritt David Degrazia (1). Auch Dieter Birnbacher hält „künstliche“ Verbesserungen der menschlichen Natur „zumindest so weit für erlaubt [. . .], als sie mit den Idealen von Autonomie, Individuation, Selbststeuerung und sozialer Verantwortung“ nicht in Konflikt geraten. Birnbacher geht von aufklärerischen Idealen aus und findet es schwer verständlich, „warum eine mögliche Vervollkommnung seiner physischen (einschließlich genetischen) Natur mit diesem Ideal weniger vereinbar sein soll als die traditionell aus diesem Ideal hergeleitete geistige und moralische Vervollkommnung“ (2). Andere Befürworter heben zusätzlich auf die Tatsache ab, dass die diskutierten Neuroenhancement-Verfahren keine Veränderungen auf der genetischen Ebene beziehungsweise auf der Ebene der Keimbahn bewirken, sodass auf diesem Weg keine unmittelbaren Auswirkungen für künftige Generationen zu befürchten sind. Auftretende Schädigungen seien also streng auf das betroffene Individuum begrenzt.
Die medizinethische Diskussion
Eine weitere Argumentation setzt bei der Annahme an, dass nicht das Ziel eines Enhancements, sondern der Weg dorthin gesellschaftlich umstritten sei. Wer aber die Versuche, den Weg dorthin abkürzen, moralisch verwerfe, stehe automatisch unter Ideologieverdacht, das heißt, er mache sich beispielsweise einer egalitaristischen oder einer naturphilosophischen Einstellung verdächtig. Da man aber Mitglieder einer modernen pluralistischen Gesellschaft nicht auf eine bestimmte ideologische Ausrichtung festlegen könne, müsse man folglich den gewählten Weg zum Enhancement dem Einzelnen freistellen.
Die Argumente für psychopharmakologisches Enhancement sind für sich genommen plausibel. Gleichwohl greifen sie zu kurz, weil sie den anthropologischen Rahmen, vor dem sie verhandelt werden müssen und vor dem auch die medizinethische Diskussion zu führen ist, nicht hinreichend beachten: Ein erstes gegenläufiges Argument betrifft den Einfluss der genannten Maßnahmen auf das Menschenbild. Was bleibt an genuin Menschlichem, wenn das Gehirn sein spezifisches Funktionieren zumindest teilweise pharmazeutischen Wirkstoffen verdankt oder durch sie bestimmt wird? Inwieweit sind in dieser Weise „fremdbestimmte“ Menschen überhaupt noch zu eigenständigem Agieren befähigt oder für etwaiges soziales Fehlverhalten haftbar zu machen? Die Beeinflussung des Menschenbilds ist also eng korreliert mit der Frage nach den Einwirkungen der Neuroenhancer auf die Identität und Individualität des Menschen. Da sich Neuroenhancement auf das Gehirn als Organ des Bewusstseins auswirkt, beeinflusst es eben nicht nur die Funktion, sondern auch die personale Identität. Wenn sich aber die Identität ändert, ist unklar, wer von einer solchen Änderung profitiert: die Person vor oder diejenige nach dem Eingriff.
Auch in evolutionstheoretischer Hinsicht ist der Nutzen von Neuroenhancement beschränkt. Die erzielten „Verbesserungen“ könnten allenfalls dem „verbesserten“ Individuum selbst unter kompetitiven Gesichtspunkten soziale Vorteile einbringen, würden aber nicht an nachkommende Generationen weitervererbt. Dem in vielerlei Hinsicht ungesicherten Nutzen stehen erhebliche Risiken gegenüber. Die Gefahren von Psychopharmaka sind nicht unerheblich und nicht en détail bekannt. Zudem ist von einer grundsätzlichen Erhöhung des Risikos im Fall eines dauerhaften Gebrauchs auszugehen. So besteht etwa bei einer bereits in der Jugend einsetzenden, langjährigen Ritalin-Medikation die Gefahr einer Beeinträchtigung der natürlichen Gehirnentwicklung; auch werden Spätfolgen wie ein erhöhtes Suizidrisiko und eine spätere Drogensucht befürchtet. Gerade für vergleichsweise neue Neuroenhancer wie das Alzheimer-Medikament Donepezil oder das Psychoanaleptikum Modafinil sind die Langzeitfolgen bei dauerhafter Einnahme noch nicht ausreichend erforscht; eine außertherapeutisch motivierte „Verbesserung“ steht möglichen Spätschäden gegenüber. Die Reversibilität des psychopharmakologischen Enhancements muss ebenfalls relativiert werden: Selbst wenn keine (Langzeit-)Schädigungen auftreten, ist doch zu berücksichtigen, dass die unter der Medikation mit Neuroenhancern erfolgten (positiven wie negativen) Erlebnisse und Erfahrungen verfügbar bleiben und die Persönlichkeit ebenfalls nachhaltig prägen.
Aus medizinethischer Sicht muss die Toleranz gegenüber Risiken umso geringer ausfallen, je unsicherer der potenzielle Nutzen einer Maßnahme ist. Vor dem Hintergrund einer solchen Nutzen-Risiko-Abwägung sind die diskutierten Neuroenhancer nach derzeitigem Kenntnisstand ausgesprochen kritisch zu sehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist die Verfügbarkeit oder das Fehlen von alternativen „Behandlungs“-Möglichkeiten. Risiken sind umso weniger in Kauf zu nehmen, als Alternativen bestehen. Zu denken wäre beispielsweise an Psychotherapie, Coaching sowie an Biofeedback, progressive Muskelrelaxation, autogenes Training und Meditation.
Gegen den Einsatz von Neuroenhancement-Verfahren spricht auch die Gefahr, dass sich bei deren Inanspruchnahme langfristig die Standards verschieben, also die Auffassung darüber, was als „normale“ Leistungsfähigkeit gelten kann. Bei zunehmender Zahl von Menschen mit verbesserten Sinneswahrnehmungen könnten die Leistungen der nicht „verbesserten“ Personen als unterdurchschnittlich angesehen werden. Gleichzeitig wäre – gerade auch mit Blick auf lebenslang eingenommene Psychopharmaka – von Medikalisierungserscheinungen auszugehen, das heißt, es wäre anzunehmen, dass die moderne Gesellschaft in steigendem Maß durch die Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen bestimmt und geprägt wird. 1
Risiken bei
Enhancement-
Verfahren
sind umso weniger
in Kauf zu nehmen,
als Alternativen
bestehen. Zu denken
wäre beispielsweise
an Psychotherapie
und Coaching.
Eine andere Befürchtung, die mit einer sinkenden Hemmschwelle für den Gebrauch von Psychopharmaka verknüpft wird, ist mit dem Schlagwort sozialer Quietismus zu umschreiben: Die Erreichbarkeit von derartigen Medikamenten kann dazu führen, soziale Probleme durch den Gebrauch von Psychopharmaka zu maskieren oder zurückzuhalten.
Ungleiche Zugangsmöglichkeiten
Ein weiteres soziales Problem betrifft die ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu den Enhancement-Methoden: Zum Ersten wird sich nicht jeder Bürger Enhancement-Verfahren leisten können. Folglich wäre zu erwarten, dass sich die sozialen Unterschiede weiter verschärfen. Zum Zweiten müsste angesichts der bestehenden Disparitäten zwischen reichen und armen Nationen auch auf internationaler Ebene von der Ausbildung einer sozialen Kluft ausgegangen werden. Drittens sind auch Fragen der Finanzierung des Gesundheitssystems und der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen. Durch zunehmende Enhancement-Möglichkeiten könnten die Grenzen zwischen medizinischen Therapien und individuellem Lifestyle verwischen und so (Krankenkassen-)Gelder für diesen Grauzonenbereich aufgewendet werden. Auf diese Weise würden weitere finanzielle Belastungen auf das Gesundheitssystem zukommen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(5): A 210–12
Anschrift der Verfasser
Dr. Gereon Schäfer
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. Dr. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Medizinische Fakultät der RWTH Aachen
Wendlingweg 2
52074 Aachen
1.
Degrazia D: Prozac, Enhancement and self-creation. Hastings Center Report 2000, 30; 34–40. MEDLINE
2.
Birnbacher D: Der künstliche Mensch – ein Angriff auf die menschliche Würde? In: Kegler KR, Kerner M (Hrsg.): Der künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002; 165–89.
3.
Habermas J: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001.
4.
Groß D: Neurobionisches und psychopharmakologisches Enhancement. In: Groß D, Müller S (Hrsg.): Sind die Gedanken frei? Die Neurowissenschaften in Geschichte und Gegenwart. Berlin: MWV 2007; 226–52.
1. | Degrazia D: Prozac, Enhancement and self-creation. Hastings Center Report 2000, 30; 34–40. MEDLINE |
2. | Birnbacher D: Der künstliche Mensch – ein Angriff auf die menschliche Würde? In: Kegler KR, Kerner M (Hrsg.): Der künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002; 165–89. |
3. | Habermas J: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. |
4. | Groß D: Neurobionisches und psychopharmakologisches Enhancement. In: Groß D, Müller S (Hrsg.): Sind die Gedanken frei? Die Neurowissenschaften in Geschichte und Gegenwart. Berlin: MWV 2007; 226–52. |
Waldmann, Helmut
Klein, Martin
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