WISSENSCHAFT
Kinder suchtkranker Eltern: Hilfsangebote erreichen die Kinder kaum


Allein in Deutschland leben circa 2,65 Millionen Kinder unter 18 Jahren bei Eltern, die vom Alkoholmissbrauch betroffen oder abhängig sind. 30 000 bis 40 000 Kinder leben bei Müttern, die drogenabhängig sind. Man weiß heute, dass Kinder suchtkranker Eltern die größte Risikogruppe für späteres Suchtverhalten darstellen. Sie leiden häufig auch unter kognitiven Einschränkungen sowie sozialen, psychischen und körperlichen Belastungen. Leider fehlt es an flächendeckenden Angeboten und effizienten Arbeitsansätzen für diese Risikogruppe, obwohl seit Mitte der 80er-Jahre das Wissen über mögliche Hilfen und Interventionen vorhanden ist.
Die in Berlin 2007 vom Bundesministerium für Gesundheit veröffentlichte Metastudie „Arbeit mit Kindern und deren suchtkranken Eltern“ untersuchte zu diesem Thema alle Projekte, die in dem Zeitraum seit Ende 1999 bis Ende 2006 bundesweit durchgeführt wurden. Methodisch gesehen gibt die Arbeit einen Überblick über die bisherigen Studien. Die Autoren untersuchten die Projekte hinsichtlich spezifischer Voraussetzungen, Problemfelder und Erfolge. Weiter wollten sie wissen, welche Hilfsangebote es für Kinder suchtkranker Eltern gibt, welche Angebote davon erfolgreich sind, wie sich Kindeswohlgefährdungen früh erkennen lassen, welche Zugangswege sich bewährt haben und wie wichtig eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist.
In der Praxis stehen Fachkräfte oft vor der Entscheidung, ob sie den Eltern eine Erziehungshilfe anbieten sollen oder nicht und ob das Familiengericht in die elterliche Sorge eingreifen muss. Dabei stellt sich die Frage, ob es sich bloß um eine miserable Erziehung oder eine unmittelbare Gefährdung der Kinder handelt. Diese schwierigen Einschätzungen stellen die Fachkräfte der Jugendämter beziehungsweise den Allgemeinen Sozialdienst vor hohe Anforderungen.
Für die Hilfe für Kinder aus suchtbelasteten Familien sind in erster Linie die Jugend-, Sucht- und Drogenhilfe, aber auch Haus- und Kinderärzte verantwortlich. Eine hohe fachliche Kompetenz zeigten die Drogenberatungsstellen. Schätzungen gehen davon aus, dass 40 bis 50 professionelle ambulante Angebote Kindern und Jugendlichen mit suchtkranken Eltern zur Verfügung stehen. Fast alle sind projektfinanziert. Doch nur ein kleiner Teil der Kinder kann durch die Projekte erreicht werden, da diese über das gesamte Bundesgebiet verstreut und teilweise nicht bekannt sind.
Kinder in ihren Lebensräumen erreichen
Auch die Kommunen erreichen bisher nur einen kleinen Prozentsatz der Zielgruppe. Neuerdings will man die Kinder stärker in ihren Lebensräumen wie Kindergärten oder Schulen auf die Angebote aufmerksam machen. Dazu müssen Pädagogen jedoch in der Lage sein, die Symptome bei den Kindern zu erkennen, die auf eine Suchtbelastung hindeuten. Ein Projekt mit Vorbildcharakter ist das MAKS (Modellprojekt Arbeit mit Kindern von Suchtkranken) in Freiburg. Es wendet sich an die betroffenen Kinder sowie an die Eltern, die von der Sucht loskommen wollen (Internet: www. maks-freiburg.de).
Eine Kooperation und Vernetzung verschiedener Professionen ist maßgeblich für den Erfolg der Arbeit mit Kindern und deren suchtkranken Eltern entscheidend. Dazu tragen Substitutionsärzte, Gynäkologen, Hebammen, Kinderärzte, die Sucht- und Drogenhilfe, Jugend-ämter sowie Kindergärten und Schulen bei. Die betroffenen Kinder haben in den frühen Lebensjahren die größte Chance, durch Hilfsangebote positiv beeinflusst zu werden.
Familientherapeutischer Ansatz sinnvoll
Besonders eignet sich dazu das systemisch familienorientierte Arbeiten. Der familientherapeutische Ansatz versteht Sucht weniger als Krankheit, sondern als Form symptomatischen Verhaltens. Der Süchtige konsumiert Rauschmittel, um problematische Situationen zu umgehen, für die er keine angemessene Lösung zur Verfügung hat. Will man den Süchtigen helfen, ist es daher unerlässlich, die Familie als Entstehungs- und Bedingungskontext in die systemische Betrachtung einzubeziehen. Erfolg versprechend erwiesen sich Einzelgespräche mit Kindern und Eltern, Spielgruppen, sozialpädagogische Gruppenarbeit und Ferienfreizeiten, die individuell zugeschnitten und interdisziplinär abgestimmt waren. Je mehr Familienmitglieder daran teilnahmen, umso erfolgreicher wirkten sich die Interventionen aus. Zudem ist eine positive Verhaltensänderung des süchtigen Elternteils maßgeblich davon abhängig, ob dieser zum Beratungsgespräch bereit ist. Idealerweise sollte daher eine familienorientierte Beratung im Regelangebot der Sucht-, Partnerschafts- sowie der Jugend- und Drogenberatung des regionalen Hilfesystems verankert werden. Spezifisch auf Kinder suchtkranker Eltern zugeschnittene Angebote haben den Vorteil, dass sich andere betroffene Kinder ebenfalls über tabu- und schambehaftete Themen austauschen können.
Parallel zu den Angeboten für Kinder existieren Hilfen nur für Eltern. Ziel ist es dabei, die Eltern in der Bekämpfung ihrer Sucht zu unterstützen und sie in ihrer Selbstreflexion zu bestärken, damit effektive Hilfsangebote für die Kinder leichter zugänglich sind. Die Arbeit mit suchtbelasteten Familien erfordert jedoch auch, dass Räumlichkeiten und Personal bereitgestellt werden, denn daran mangelt es oft. Neben der ambulanten Sucht- und Drogenhilfe gibt es Einrichtungen der Suchtselbsthilfe für Kinder suchtkranker Eltern. Insgesamt sind bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen 28 Gruppenangebote für Kinder bis zu 14 Jahren angegeben, dazu weitere 26 Angebote, die sich an Jugendliche und/oder junge Erwachsene richten. Beispiele sind: Alanon, Alateen, Blaues Kreuz in Deutschland, Blaues Kreuz in der evangelischen Kirche, Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, Guttempler in Deutschland und Kreuzbund.
Angst vor Sorgerechtsentzug
Ob suchtbelastete Familien Hilfsangebote annehmen oder nicht, entscheiden sie selbst. Die Eltern beantragen diese nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) oder geben zumindest ihre Zustimmung, dass ihre Kinder Unterstützungsmaßnahmen erhalten sollen. Was theoretisch einfach klingt, bringt in der Praxis erhebliche Probleme mit sich. Oft haben die suchtbelasteten Familien Angst, das Sorgerecht zu verlieren, oder Scheu, sich verändern zu müssen. Meistens finden die Kinder und Jugendlichen die verschiedenen Beratungsangebote über den Träger oder werden von Mitarbeitern anderer Hilfsangebote weitervermittelt. Untersuchungen aus der Praxis zeigen deutlich: Haben die Eltern ihr Suchtproblem gelöst, sind die Kinder häufiger an den Hilfsangeboten interessiert und finden leichter einen Zugang.
Martina Eimer