

Im Prolog wird geschildert, wie der britische Physiker Arthur Worthington am Ende des 19. Jahrhunderts schockiert feststellte, dass es nicht der Wirklichkeit entsprach, wenn er in seinen Zeichnungen Wassertropfen symmetrisch darstellte. Die Schattenfotos zeigten deutliche Unregelmäßigkeiten, was er feststellte, als es ihm im Jahr 1894 gelang, Wassertropfen beim Aufprallen fotografisch festzuhalten. So stand er vor der Aufgabe, den Widerspruch aufzulösen und gab daraufhin seine bisherige Praxis auf. Ob es um Kristalle oder um anatomische Strukturen ging, Idealisierung war seit Langem das Leitprinzip, und es wurde nach der Maxime „Nur das Vollkommene wird dargestellt“ gehandelt.
Die Geschichte der Objektivität zeichnen die Autoren anhand der Produktion wissenschaftlicher Atlanten nach. Hier nahmen Darstellungen der Anatomie beziehungsweise Pathologie eine herausragende Stellung ein. Im 18. Jahrhundert versuchten die Atlasmacher in der Perspektive der Naturwahrheit, in einer einzigen Ansicht das darzustellen, was sonst nur in mehreren Objekten zu sehen war. Jedes Bild war ein Destillat aus vielen Einzelbeispielen, in denen sorgfältig beobachtet worden war. Mit dem Auftreten der mechanischen Objektivität wurde das Bestreben entschlossen verfolgt, willentliche Einmischungen des Autors beziehungsweise des Künstlers, der Zeichnungen im Auftrag anfertigte, zu unterdrücken. Diese Perspektive zeigte den ausdrücklichen Verzicht auf eine Verbesserung der Darstellung, die ästhetisch motiviert war.
Später, um die Wende des 20. Jahrhunderts, schwand der Glaube an die mechanische Objektivität wieder, und Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass die Subjektivität nicht vollständig ausgeschlossen werden sollte. Die Vorschrift der mechanischen Objektivität, dass auf jede Interpretation zu verzichten sei, erwies sich als zu steril. Mit dem Prinzip des „geschulten Urteils“, das die Autoren als etwas genuin anderes von der Perspektive der Naturwahrheit abheben, setzte sich die Sichtweise durch, dass Bilder durch kreative Einschätzung und Erfahrung gestaltet werden müssen. Der Blick des geschulten Chirurgen, Anatoms oder wissenschaftlichen Illustrators wurde als notwendig erachtet. Hiermit setzte sich auch die Einschätzung durch, dass Fachwissen lern- und lehrbar ist und nicht auf Eingebung oder auf anderen übersinnlichen Prinzipien beruht. Objektivität und Subjektivität wurden nicht mehr als Gegenpole gesehen, sondern als etwas sich ergänzendes, das gemeinsam dem Verstehen der Arbeitsobjekte in den Wissenschaften zugrunde lag.
Die Geschichte der Objektivität wird im Buch ausführlich auf hohem Niveau von zwei profunden Kennern brillant und spannend dargelegt. Beispiele und bildliche Darstellungen helfen beim Verständnis der komplexen Zusammenhänge, dennoch ist der Text nicht für jedermann voraussetzungslos verständlich. Lorraine Daston ist Direktorin am Max-Plank-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Peter Galison lehrt Physik und Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Harvard. Joachim Koch
Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität. Suhrkamp, Frankfurt/Main, 2007, 530 Seiten, gebunden, 34,80 Euro
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