ArchivDeutsches Ärzteblatt PP3/2008Leipzig: Bei Baarmann traf sich das Nervenkränzchen

KULTUR

Leipzig: Bei Baarmann traf sich das Nervenkränzchen

Jachertz, Norbert

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS
Abbildungen: Archiv Sächsisches Psychiatriemuseum
Abbildungen: Archiv Sächsisches Psychiatriemuseum
. . . und auf dem Markt meldeten sich bei der politischen Wende 1990 die Betroffenen zu Wort. Einen historischen Stadtrundgang bietet das Sächsische Psychiatriemuseum an.

Mitten in Leipzig liegt eine Kleingartenanlage, betrieben vom ältesten deutschen Schreberverein, benannt nach dem Leipziger Orthopäden Dr. Moritz Schreber (1808 bis 1861). Die Gärten gruppieren sich um einen großen Kinderspielplatz, der Keimzelle der 1865 eröffneten Anlage. Dazu kommt das Schreberbad, ein Freibad, das zunächst (1866) allein Männern vorbehalten war; Damen durften erst zwei Jahre später frei baden – in einem separaten Damenbad.

Dr. Schreber ist zwar heute wegen der nach ihm benannten Gärten bekannt, doch sein ärztliches Wirken galt der strammen Haltung, für die er erschreckende Apparaturen entwickelte. Seinem Sohn Daniel ließ er eine gleichfalls stramme Erziehung zukommen. Aus Schreber junior (1842 bis 1911) wurde vielleicht deshalb ein strebsamer Jurist und noch berühmterer Patient. Seine Memoiren („Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, 1903) beschäftigen bis heute Psychiater wie Künstler (vgl. dazu auch: Heidi Stecker, Kippenberger und die Schrebers, DÄ, Heft 20/2007). Ob die väterliche Strenge den Sohn frühkindlich geschädigt und zu dessen Erkrankung beigetragen hat, bleibt umstritten.
Durchblick: Das Psychiatriemuseum wird von Betroffenen betrieben, die sich 1990 im Verein „Durchblick“ organisierten. Foto: Pro Leipzig/Thomas Steinert
Durchblick: Das Psychiatriemuseum wird von Betroffenen betrieben, die sich 1990 im Verein „Durchblick“ organisierten. Foto: Pro Leipzig/Thomas Steinert

Ein strenger Vater scheint auch der Bankier Seyfferth gewesen zu sein, der zur Zeit Schrebers lebte. Er verheiratete die widerstrebende Tochter mit einem Geschäftsfreund, und die junge Frau starb, seelisch gebrochen, wie es heißt, mit 22 Jahren. Der reuige Vater stiftete den nach der Tochter benannten Johannapark, eine Oase mitten in der Großstadt.

Die Schrebergärten und der Johannapark sind zwei Stationen eines historischen Stadtrundgangs, den das in Leipzig beheimatete Sächsische Psychiatriemuseum für geübte Stadtwanderer anbietet. Er dauert fast drei Stunden, führt durch die traditionsreiche Innenstadt und vermittelt die überraschende Einsicht, dass Stadtgeschichte und Psychiatrie durchaus miteinander verknüpft sein können.

Im barocken „Coffe Baum“ etwa, in der Kleinen Fleischgasse, verkehrte Robert Schumann, der in Leipzig lustlos Jura studierte und Liebschaften pflegte, ehe er sich endgültig Clara (die aus Leipzig stammte) zuwandte. Vermutlich in Leipzig steckte er sich mit Syphilis an. Das scheint auch Friedrich Nietzsche in seinen Leipziger Studentenjahren widerfahren zu sein. Nietzsches bevorzugtes Lokal war das „Cafe´ Kitschy“ in der Klostergasse.

Nahebei, auf dem Leipziger Markt, wurde 1824 Johann Christian Woyzeck, berühmt durch Georg Büchners Drama und Alban Bergs Oper, hingerichtet. Woyzeck hatte (geistig umnachtet? – darüber stritten die Gutachter) seine Geliebte umgebracht. Seine Hinrichtung geriet zum öffentlichen Schauspiel.

An einer Ecke des Markts ragt ein rekonstruiertes Renaissancegebäude auf. Es beherbergte bis 1930 das Restaurant „Baarmann“; hier traf sich um 1880 ein Professorenstammtisch zum fröhlichen Gedankenaustausch, das „Leipziger Nervenkränzchen“. Die Nervenheilkunde hatte da schon eine gewisse universitäre Tradition: 1811 wurde in Leipzig der erste seelenkundliche Lehrstuhl Deutschlands eingerichtet. In der Rosentalgasse 1–3 praktizierte der Nerven- und Modearzt Dr. Paul Möbius (1853 bis 1907). Auf Möbius soll sich Thomas Mann bei der Charakterzeichnung mancher seiner Figuren gestützt haben. Dr. Möbius gilt als ein Wegbereiter der Psychoanalyse, bekannter wurde er hingegen durch sein Buch „Der physiologische Schwachsinn des Weibes“ (1900). Der Titel wird immer wieder mal zitiert. Heute ironisch, gestern beifällig.

1990, zur Zeit der politischen „Wende“ der DDR, als in der Heldenstadt die Welt neu zu erstehen schien und die Hoffnungen blühten, wurde auf dem Markt der „Tag der Leipziger Sozialpsychiatrie“ öffentlich begangen. Der politische Missbrauch der Psychiatrie, namentlich im psychiatrischen Krankenhaus der Strafvollzugsanstalt Waldheim, wurde thematisiert, aber auch die Überfüllung der (damals noch bestehenden) Großanstalten beklagt.
Paul Möbius: Bekannt und umstritten ist der Nervenarzt Möbius durch sein Werk „Der physiologische Schwachsinn des Weibes“.
Paul Möbius: Bekannt und umstritten ist der Nervenarzt Möbius durch sein Werk „Der physiologische Schwachsinn des Weibes“.

Der Wendezeit entstammt auch das Psychiatriemuseum, das insofern einzigartig sein dürfte, als es von Betroffenen (die sich freilich professioneller Hilfe versichern) betrieben wird. Es zeigt in einer sympathischen Mischung aus Professionalität und Selbsthilfe Lebensläufe bekannter Patienten und Psychiater und die Lebensumstände in den Anstalten. Auch die zwiespältigen Seiten der Geschichte werden nicht verschwiegen. So wird Professor Hermann Paul Nitsche vorgestellt, der als Reformpsychiater begann, zum Protagonisten der Euthanasie mutierte, zeitweise das NS-Mordprogramm T 4 leitete, mit seinem „Luminalschema“ maßgeblich zur Medikamenten- und Hungereuthanasie beitrug und nach dem Krieg in Dresden hingerichtet wurde.

Das Museum wird von einem Verein (Durchblick e.V.) Psychiatriebetroffener getragen, der 1990 gegründet wurde. In der DDR waren zwar Selbsthilfegruppen nicht gern gesehen, doch gegen Ende der DDR war vieles möglich. Informelle Zusammenschlüsse konnten sich in der „einzigartigen sozialpsychiatrischen Landschaft Leipzigs“ (Durchblick) indes schon in den 1980er- Jahren bilden. Leipzig galt damals schon wegen seiner tagesklinischen Strukturen als progressiv, nicht zuletzt dank des alten Chefs der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Universität Leipzig, Prof. Dr. sc. Klaus Weise. Dieser ist dem Verein und Museum bis heute als Beirat verbunden.
Norbert Jachertz

Informationen: Sächsisches Psychiatriemuseum, Mainzer Straße 7,04109 Leipzig, geöffnet mittwochs bis samstags von 13 bis 18 Uhr. Telefon: 03 41/1 40 61 40, Internet: www.psychiatriemuseum.de

Wer Interesse an dem Stadtrundgang hat, sollte sich zuvor mit dem Leiter des Museums, Thomas Müller, in Verbindung setzen.

Eine Sonderausstellung des Museums stellt im Herbst den Aufbruch der Psychiatrie zur „Wende“ 1989/90 vor. Die Ausstellung soll anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, die vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Leipzig stattfindet, eröffnet werden.

Das Museum sucht Ausstellungsstücke, um seine Sammlung zu vervollständigen. Das können medizinische Geräte oder auch alltägliche Gegenstände sein, die die Behandlung und das Leben der Patienten bis in die jüngste Vergangenheit veranschaulichen. Welche Ärztin, welcher Arzt, welche Klinikleitung sieht mal auf dem Speicher oder im Keller nach?

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote