POLITIK: Kommentar
Prof. Dr. med. Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie - Aus Fehlern lernen: Verzerrtes Bild in der Öffentlichkeit


Allerdings wurde in der Berichterstattung über den öffentlichen Auftritt des Aktionsbündnisses oft der Eindruck vermittelt, als ob Pfusch und Schlamperei, Ignoranz und Vertuschen die Regel an deutschen Kliniken darstellten. Selbstverständlich gibt es den autoritären, beratungsresistenten Chefarzt, wie in anderen Berufen auch gibt es Arroganz, Profit- und Karrieresucht als Grund für unentschuldbares Fehlverhalten, und es gibt Kliniken, bei denen die Gewinnmaximierung treibendes Motiv für die Übernahme und Ausweitung von Verfahren ist, für die sie nicht geeignet sind. Das darf nicht schöngeredet werden.
Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie wehrt sich aber gegen die Verallgemeinerung und die Desavouierung der vielen Tausenden von Chirurgen, die sich unter zunehmend schwierigen Bedingungen für die bestmögliche Versorgung ihrer Patienten einsetzen. In den Talkshows wird ausgehend von tragischen Einzelfällen der Eindruck erweckt, das Fehlverhalten sei die Regel und die Spitze eines Eisbergs – bei jährlich rund 17 Millionen Klinikbehandlungen und mehr als 35 Millionen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Die sogenannten Leistungserbringer fragen sich zunehmend, warum in der öffentlichen Wahrnehmung entscheidende Gesichtspunkte unberücksichtigt bleiben. (Hier soll nur am Rand das Problem erwähnt werden, das sich bei Schuldeingeständnissen vor dem Abschluss von außergerichtlichen oder gerichtlichen Verfahren ergeben kann. Ein Schuldeingeständnis des Arztes wird von den Versicherern in der Regel als Obliegenheitsverletzung angesehen und kann zum Verlust des Versicherungsschutzes bei der Berufshaftpflicht führen.) Es sollten Relationen gerade gerückt und bei Schuldzuweisungen die alleinige Last von den Schultern derer genommen werden, die dafür nicht allein die Verantwortung tragen können.
Richtig ist, dass es in den Krankenhäusern erhebliche Kommunikationsdefizite gibt. Gute Kommunikation braucht sowohl innere Haltung als auch Übung – und vor allem Zeit.
c Wenn heute regelmäßige Falldiskussionen und Konferenzen über Komplikationen und Todesfälle in den chirurgischen Kliniken viel zu selten stattfinden,
c wenn Patienten- und Angehörigengespräche nicht in dem angemessenen Umfang und der erforderlichen Tiefe geführt werden
c und wenn der chirurgische Nachwuchs als künftiger Garant einer sicheren Chirurgie nicht die Zuwendung und Anleitung erfahren kann, die notwendig wäre,
dann liegen die Versäumnisse eben nicht nur an der angeprangerten Ignoranz der verantwortlichen Ärzte, die sich um nichts kümmerten und nur die Versorgung ihrer Privatpatienten im Auge hätten.
Es gibt eine bisher nie dagewesene Arbeitsverdichtung in den Kliniken. Der ökonomische Druck zwingt zu immer strafferen Ablaufsteuerungen; immer mehr Patienten müssen in immer kürzerer Zeit durch das Krankenhaus „geschleust“ werden. Die Ärzte haben dabei immense Kontroll- und Dokumentationspflichten und einen kontinuierlichen Rechtfertigungsdruck hinsichtlich der Erlössituation unter DRG-Bedingungen. Darunter leidet zuerst die für die Patienten verfügbare Zeit, die Zeit für die Versorgung und für die notwendige Kommunikation mit den Patienten, aber auch mit den anderen Ärzten und Pflegekräften. Eine der schlimmsten Rationierungen in den Krankenhäusern ist die Rationierung der Ressource Zeit.
Müde Ärzte machen eher Fehler – daran besteht kein Zweifel. Nach dem Arbeitszeitgesetz bleibt in den produktiven ärztlichen Tagesschichten für die so entscheidende Kommunikation und die ärztliche Weiterbildung kaum noch ein Zeitfenster offen. Gemeinsame Besprechungen – so wichtig für die Fehlerprävention – können nicht stattfinden. Zunehmende Kontrollmechanismen, die Einrichtung von Meldesystemen und/oder schriftlich fixierte Verfahrensanleitungen können die Diskussion im Team über Fehler und Lösungswege zu deren Vermeidung nicht ersetzen.
Noch einmal: Dies ist nicht der Versuch, Versäumnisse schönzureden. Es gibt enormen Handlungsbedarf. Die Motivation, die Dinge besser zu machen, bedarf aber überzeugender Vorbilder und eines angstfreien Raums, um zu einem Verfahren zu kommen, aus Fehlern zu lernen, ohne sie selbst gemacht zu haben. Diese Motivation bricht weg, wenn Einsatzfreude und mühsam erworbene Kompetenz durch Pauschalverurteilungen infrage gestellt werden.
Gemeinsame Anstrengungen sind nötig, um die Chirurgie sicherer zu machen; dies beginnt mit der Qualifizierung des Nachwuchses und der Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Fehlerkultur. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat bereits zahlreiche Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Das hat nichts mit Selbstbeweihräucherung oder mit Werben um Anerkennung zu tun. Es darf aber nicht das verzerrte Bild der Chirurgie in der Öffentlichkeit gepflegt werden, als seien Fehler und Fehlverhalten die Regel. Wir reden heute im ökonomischen Jargon, der in die Kliniken eingezogen ist, so viel von Wertschöpfung. Wertschöpfung hat auch mit Wertschätzung zu tun, die gute Arbeit verdient. Wenn das aktuelle Fehlerbekenntnis eine Flut von Reaktionen ausgelöst und für große Aufregung gesorgt hat, dann sollten sich darunter ebenso Ansätze finden, Ursachenforschung auf breiterer Basis zu betreiben wie auch die zu benennen, die für die Rahmenbedingungen in den Krankenhäusern verantwortlich sind.