THEMEN DER ZEIT
Geriatrie: Erheblicher Nachholbedarf in der Weiter- und Fortbildung
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Die qualifizierte Versorgung multimorbider, geriatrischer Patienten ist eine komplexe Aufgabe. Eine optimale Behandlung dieser Patienten verlangt nicht nur Kenntnisse in einem Fachgebiet, sondern ein breites Wissen über die Medizin des alten Menschen. Geriatrische Patienten zeigen oft atypische oder sich überlagernde Symptome und charakteristische Syndrome, wie Stürze, kognitive Einschränkungen und Inkontinenz. Die Pharmakokinetik ist bei alten Menschen verändert. Darüber hinaus sind geriatrische Patienten im Rahmen gesundheitlicher Störungen gefährdet, dauerhafte Einbußen ihrer Selbstständigkeit zu erleiden, auch wenn die Beschwerden für sich gesehen nur als geringfügig zu werten sind. Die Multimorbidität setzt einer schematischen, leitlinienbasierten Therapie nach Einzeldiagnosen Grenzen. Vielmehr ist eine spezifisch geriatrische Kompetenz erforderlich. Dabei spielen eine hohe generalistische Qualifikation sowie aktuelle rehabilitative Kenntnisse eine wichtige Rolle (1). Der geriatrische Patient braucht einen „medizinischen Case-Manager“, der ihn vor einer unkoordinierten und rein spezialisierten Behandlung schützt und besonders folgenden Aspekt im Blick hat: den weitestmöglichen Erhalt von Selbstständigkeit und Lebensqualität.
Geriatrie hat noch nicht den Stellenwert, den sie verdient
Die heutige Medizin ist durch immer stärker spezialisierte Qualifikationsanforderungen charakterisiert. Ärztinnen und Ärzte sind mit ihrem Fachwissen zunehmend auf Subspezialitäten beschränkt. Eine angemessene Wertschätzung generalistischer Qualifikationen sucht man im Gesundheitswesen und besonders im akademischen Medizinbetrieb vergebens. Hier ergeht es der Allgemeinmedizin nicht anders als der Geriatrie. Die Spezialisierung ist offenbar eine Voraussetzung für die wissenschaftliche Reputation und die qualifizierte Weiterbildung von Ärzten. Die Geriatrie als generalistische Disziplin hat noch nicht den Stellenwert, der ihr angesichts der demografischen Entwicklung zusteht.
Die Nachfrage nach Geriatern steigt bislang in erster Linie unter dem Druck äußerer Qualitätsanforderungen. Dazu zählt beispielsweise die Regelung, dass eine Krankenhausabteilung, die geriatrisch-frührehabilitative Leistungen nach Fallpauschalen abrechnet, eine geriatrisch weitergebildete ärztliche Leitung nachweisen muss. Obwohl damit zu rechnen ist, dass künftig immer mehr Geriater gebraucht werden, ist aber der Stand geriatrischer Qualifikation in Deutschland nach wie vor gering.
Bereits in der ärztlichen Ausbildung kommen geriatrische Themen zu kurz. Obwohl die Geriatrie mit Änderung der Approbationsordnung im Jahr 2002 als Querschnittsfach „Medizin des Alterns und des alten Menschen“ im Medizinstudium verankert wurde, existiert sie als eigenständiges akademisches Fach nur an wenigen medizinischen Fakultäten. Lediglich vier Lehrstühle für Geriatrie gibt es in Deutschland – in Bochum, Nürnberg, Witten/Herdecke und Ulm. In Hamburg wurde eine Stiftungsprofessur für Geriatrie eingerichtet, und Berlin hat einen Lehrstuhl für Innere Medizin mit Schwerpunkt Geriatrie. An 24 der 36 Fakultäten wird das Fachgebiet Geriatrie im gesamten Studium mit durchschnittlich 8,3 Stunden gelehrt, wobei dies nur an zwölf Fakultäten durch Geriater erfolgt (2, 3, 4). Die universitäre Repräsentation der Geriatrie ist also unzureichend (5).
Geringe Zahl geriatrisch weitergebildeter Ärzte
Eine geriatrische Weiterbildungsqualifikation besteht seit Einführung der fakultativen Weiterbildung „Klinische Geriatrie“ im Jahr 1992. Voraussetzung für die zweijährige Zusatzweiterbildung war zunächst in den meisten Ärztekammern ein Facharzt für Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Nervenheilkunde/Neurologie oder Psychiatrie/Psychotherapie. Seit Änderung der (Muster-)Weiterbildungsordnung im Jahr 2002 steht die Geriatrie in den meisten Kammern als 18-monatige Zusatzweiterbildung allen Fachärzten offen. Ein von den geriatrischen Fachgesellschaften seit Langem geforderter „Schwerpunkt Geriatrie“, vorzugsweise im Gebiet Innere Medizin (6, 7) existiert seit 1995 in Brandenburg und seit 2006 in Sachsen-Anhalt. Beide Länder wollen in diesem Jahr den „Facharzt Innere Medizin und Geriatrie“ einführen.
Da die weitverbreitete fakultative Weiterbildung „Klinische Geriatrie“ keiner überregionalen Erfassung unterlag, war zur Bestimmung geriatrischer Weiterbildungsqualifikationen eine Einzelabfrage bei den Landes- beziehungsweise Bezirksärztekammern erforderlich. Die im Sommer 2007 ermittelten Zahlen der weitergebildeten Ärzte und Weiterbildungsberechtigten für Geriatrie sind in der Tabelle zusammengefasst.
Der Anteil von Ärzten mit spezifisch geriatrischen Weiterbildungsqualifikationen bewegt sich im Vergleich zu anderen Fachgebieten, Schwerpunkten und Zusatzweiterbildungen auf niedrigem Niveau. So entspricht die ermittelte geriatrische Versorgungsdichte weniger als einem Achtel der Kinder- und Jugendmediziner, weniger als einem Viertel der Radiologen und ist etwa vergleichbar mit der der Nephrologen. Bezogen auf andere Zusatzweiterbildungen gibt es beispielsweise achtmal so viele Sportmediziner, und dreimal so viele Ärzte führen die Bezeichnung „Homöopathie“ (8). Auch die Zahl der derzeit Weiterbildungsberechtigten und der zur Verfügung stehenden Weiterbildungskapazitäten in der Geriatrie ist gering. Es ist also nicht davon auszugehen, dass die Zahl geriatrisch weitergebildeter Ärzte kurzfristig spürbar steigen wird.
Nach Erhebungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sind von den knapp 2 100 geriatrisch qualifizierten Ärzten 377 ambulant tätig; das entspricht 18 Prozent (9). Bezogen auf die Gesamtzahl berufstätiger Ärzte beträgt der Anteil geriatrisch qualifizierter Ärzte 0,84 Prozent, auf die Klinikärzte 1,31 Prozent und auf die ambulant tätigen Ärzte 0,32 Prozent. Die geriatrisch weitergebildeten Ärzte insgesamt sind etwa zur Hälfte Fachärzte für Innere Medizin. Im ambulanten Bereich stellen die Allgemeinmediziner die größte Gruppe unter den Ärzten mit geriatrischer Qualifikation dar (Grafik).
Für die geriatrische Fortbildung – insbesondere hausärztlich tätiger Ärzte – bot seit 1999 die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie in Kooperation mit dem Berufsverband Deutscher Allgemeinmediziner (heute Hausärzteverband) ein Fortbildungscurriculum unter dem etwas missverständlichen Titel „Ambulante geriatrische Rehabilitation“ an. Das anfänglich von vielen Ärzten signalisierte Interesse an der Fortbildung ebbte aber schnell ab, als klar wurde, dass die erworbenen Kenntnisse nicht in gesondert abrechnungsfähige Leistungen umgesetzt werden können. Das Fortbildungscurriculum umfasst 120 Stunden Theorie und 40 Stunden Hospitationspraxis. Derzeit wird es modifiziert nur noch in Brandenburg und Schleswig-Holstein angeboten. Nach Recherchen bei den Organisatoren dieser Kurse haben sich nach diesem Curriculum bisher rund 500 in der ambulanten Versorgung tätige Ärzte geriatrisch fundiert qualifiziert. Allerdings steht das Curriculum in Konkurrenz zu anderen Fortbildungen von Ärztekammern und Organisationen, wie etwa dem Institut für hausärztliche Fortbildung. Dies sind themenspezifische und abrechnungsrelevante Einzelfortbildungen, zum Beispiel Einführungskurse für die Erbringung des nach dem EBM 2008 mit der Ziffer 03240 abrechenbaren hausärztlich-geriatrischen Basisassessments. Eine systematische geriatrische Qualifikation gewährleisten sie jedoch nicht.
Gemessen an der Zunahme der Zahl multimorbider geriatrischer Patienten ist die Zahl geriatrisch weiter- und fortgebildeter Ärzte als gering einzustufen. Perspektivisch wird eine hinreichende geriatrische Versorgung im ambulanten Sektor nur durch verbesserte Fortbildungsangebote für Hausärzte zu erreichen sein. Umso notwendiger sind daher die aktuellen Anstrengungen der geriatrischen Fachgesellschaften, die bestehenden regionalen Fortbildungskonzepte zu einem bundesweit einheitlichen, modularen Curriculum zu bündeln. Fortbildungsangebote der Ärztekammern und anderer ärztlicher Fortbildungsorganisationen sollten qualitativ primär an ihrem praxisorientierten patientenbezogenen Nutzwert gemessen werden. Der Sachverständigenrat betont in seinem jüngsten Gutachten die künftige Bedeutung und Einordnung geriatrischer Versorgung vor dem Wandel des Krankheitspanoramas. So gebe es noch „Lücken vor allem dort, wo die kurative Medizin den komplexen Gesundheitsproblematiken chronisch kranker und alter Menschen nicht gerecht wird“. Es reiche nicht, dass (geriatrische) Spezialeinrichtungen multiprofessionelle Strategien vorhalten, benötigt würden diese Kompetenzen in der Regelversorgung und auf jeder Versorgungsstufe (10).
Diese Perspektive erfordert vor allem ein Zusammenrücken der Geriatrie mit anderen generalistisch orientierten Fachdisziplinen wie der Allgemeinmedizin. Vor der zunehmenden Fokussierung stationärer Behandlung auf die beiden Patientengruppen schwerstkranker jüngerer und multimorbider älterer Patienten könnten hierbei der Geriatrie wesentliche Aufgaben der Allgemeinmedizin und allgemeinen Inneren Medizin im Krankenhaus zufallen. Die ambulante geriatrische Versorgung werden unterdessen zu wesentlichen Teilen Allgemeinmediziner und hausärztlich tätige Internisten unter ergänzender geriatrischer Qualifizierung sicherstellen müssen. Beides erfordert eine generelle Stärkung qualifizierter generalistischer Kompetenzen und deren akademischer Vertretung. Notwendig ist eine Stärkung der Geriatrie an den Universitäten mit der Einrichtung weiterer Lehrstühle. Außerdem müssen die geriatrischen Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten ausgebaut werden.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(21): A 1120–2
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Norbert Lübke
Kompetenz-Centrum Geriatrie beim MDK Nord
Hammerbrookstraße 5
20097 Hamburg
E-Mail: norbert.luebke@kcgeriatrie.de
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2108
1.
Lübke N: Erforderliche Kompetenzen der Geriatrie aus Sicht des Kompetenz-Centrums Geriatrie. Z Gerontol Geriat 2005; 38: Suppl 1 V34–V39.
2.
Kolb G mit Vorstand DGG: Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie zur akademischen Situation, Studentenunterricht und zur Situation der Weiterbildung im Fachgebiet. Euro J Ger 2005; Vol 7 No 4, 239–248.
3.
Kolb G: Unterricht Q7 (Medizin des Alterns und des alten Menschen) an 36 deutschen medizinischen Fakultäten: Anschriften, Stunden-Zahlen, Unterrichtsorganisation. Euro J Ger 2006; Vol 8 No 4, 236–244.
4.
von Renteln-Kruse W: Was erfährt der Student von Geriatrie – Wunsch und Realität im Querschnittsfach Q7 „Medizin des Alterns und des alten Menschen“. Euro J Ger 2007; Vol 9 No 4 Suppl 2, 21.
5.
Lüttje D: Akademische Stellung der Geriatrie. Z Gerontol Geriat 2005; 38: Suppl 1 V52–V55.
6.
Lüttje D, Neubart R, Meisel M, Köppel C: Weiterbildung in Klinischer Geriatrie in Deutschland und Europa. Standortbestimmung und Ausblick. 2005; http://www.dggeriatrie.de/download/WeiterbildunginKlini scherGeriatrieinDeutschla.pdf (Download 07.02.2008)
7.
Lüttje D: Geriatrie in Europa. Wie lassen sich europäische Empfehlungen nach Deutschland übertragen? Euro J Ger 2007; Vol 9 No 4 Suppl 2, 22.
8.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Ad-hoc-Tabellen. http://www.gbe-bund.de/gbe10/trecherche.prc_them_rech?tk=14501&tk2=15352&p_uid=gast&p_aid=55263477&p_sprache=D&cnt_ut=16&ut=15401(Download 07.02.08)
9.
Weigeldt U: Die geriatrische Komplexbehandlung. Präsentation v. 4.7.2007; http://daris.kbv.de/doccontent.asp?Do cID=003754324 (Download 07.02.2008)
10.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Gutachten 2007; 183.
Dr. med. Lübke, Ziegert, Dr. P.H. Meinck, Kompetenz-Centrum Geriatrie beim MDK Nord, Hamburg
Tabelle
Grafik
1. | Lübke N: Erforderliche Kompetenzen der Geriatrie aus Sicht des Kompetenz-Centrums Geriatrie. Z Gerontol Geriat 2005; 38: Suppl 1 V34–V39. |
2. | Kolb G mit Vorstand DGG: Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie zur akademischen Situation, Studentenunterricht und zur Situation der Weiterbildung im Fachgebiet. Euro J Ger 2005; Vol 7 No 4, 239–248. |
3. | Kolb G: Unterricht Q7 (Medizin des Alterns und des alten Menschen) an 36 deutschen medizinischen Fakultäten: Anschriften, Stunden-Zahlen, Unterrichtsorganisation. Euro J Ger 2006; Vol 8 No 4, 236–244. |
4. | von Renteln-Kruse W: Was erfährt der Student von Geriatrie – Wunsch und Realität im Querschnittsfach Q7 „Medizin des Alterns und des alten Menschen“. Euro J Ger 2007; Vol 9 No 4 Suppl 2, 21. |
5. | Lüttje D: Akademische Stellung der Geriatrie. Z Gerontol Geriat 2005; 38: Suppl 1 V52–V55. |
6. | Lüttje D, Neubart R, Meisel M, Köppel C: Weiterbildung in Klinischer Geriatrie in Deutschland und Europa. Standortbestimmung und Ausblick. 2005; http://www.dggeriatrie.de/download/WeiterbildunginKlini scherGeriatrieinDeutschla.pdf (Download 07.02.2008) |
7. | Lüttje D: Geriatrie in Europa. Wie lassen sich europäische Empfehlungen nach Deutschland übertragen? Euro J Ger 2007; Vol 9 No 4 Suppl 2, 22. |
8. | Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Ad-hoc-Tabellen. http://www.gbe-bund.de/gbe10/trecherche.prc_them_rech?tk=14501&tk2=15352&p_uid=gast&p_aid=55263477&p_sprache=D&cnt_ut=16&ut=15401(Download 07.02.08) |
9. | Weigeldt U: Die geriatrische Komplexbehandlung. Präsentation v. 4.7.2007; http://daris.kbv.de/doccontent.asp?Do cID=003754324 (Download 07.02.2008) |
10. | Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Gutachten 2007; 183. |