Zu dem Artikel „Gefühltes oder tatsächliches Übergewicht: Worunter leiden Jugendliche mehr?“ von Bärbel-Maria Kurth und Ute Ellert auf den
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Kurth und Ellert problematisieren zu Recht die Benutzung der herangezogenen BMI-Perzentile zur Abgrenzung der Gewichtskategorien; diese Perzentile basieren auf älteren Datensätzen. Es erscheint trivial darauf hinzuweisen, dass das Körpergewicht individuell unterschiedlich ausfällt. Bei den heutigen Adipositas-fördernden Umweltbedingungen muss es eine erhebliche Anzahl an Personen geben, die über einem spezifischen, in früheren Erhebungen festgelegten Schwellenwert liegen. Die quantitativen Unterschiede kommen durch genetische Faktoren – die Varianz des BMI ist zu circa 50 bis 70 % genetisch bedingt – und Umweltfaktoren zustande (1). Die heutige Umwelt begünstigt sowohl eine zu hohe Energiezufuhr wie auch körperliche Inaktivität. Jedoch: Dass ein anderer Maßstab für Übergewicht zu gänzlich anderen Ergebnissen als den von Kurth und Ellert erhobenen geführt hätte, erscheint zumindest unwahrscheinlich.
Die gesellschaftliche Vorstellung davon, was ein erhöhtes Gewicht ist, orientiert sich aber ohnehin nur bedingt an medizinisch definierten Schwellenwerten von Übergewicht beziehungsweise Adipositas; auch denken Jugendliche wenig an die mit Übergewicht einhergehenden medizinischen Risiken. Es wäre daher interessant zu erfahren, ob die Mädchen und Jungen, die sich für zu dick halten, einen zwar noch normalen, aber höheren BMI aufweisen als diejenigen, die mit ihrem Gewicht zufrieden sind. Für Jugendliche zählt vor allem ihr ästhetisches Empfinden – hier meint „zu dick“ eigentlich „hässlich“. Wie die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) zeigen, ist der Druck schlank sein zu sollen bei den jungen Menschen ausgeprägt. Offen ist, ob dieser empfundene Druck eine schlechtere Lebensqualität bedingt und/oder ob Jugendliche mit einer niedrigen Lebensqualität nicht häufiger sich auch zu dick fühlen.
In einer Gesellschaft, in der Menschen mit Adipositas einer erheblichen Stigmatisierung ausgesetzt sind und in der das Äußere eine so große Rolle spielt, ist es geradezu erstaunlich, dass immerhin 40,4 % der 11- bis 17- Jährigen der Meinung sind, sie hätten „genau das richtige Gewicht“. Erstaunlich ist auch, dass Jugendliche, die tatsächlich adipös sind, eine nur geringfügig erniedrigte Lebensqualität angeben. Dabei haben drei von fünf Mädchen und drei von zehn Jungen mit Adipositas in den Worten von Kurth und Ellert ein Problembewusstsein für ihr Übergewicht. Problembewusstsein gilt als eine Voraussetzung für Verhaltensänderungen und es ist uns Ärzten insbesondere dann willkommen, wenn es um Gesundheitsrisiken geht. Allerdings können die Patienten unsere Ratschläge zum Abnehmen leider kaum langfristig umsetzen: Ein Jahr nach Beginn eines Gewichtsreduktionsprogramms liegt das Körpergewicht eines Erwachsenen – sofern er seine Studienteilnahme nicht abgebrochen hat – durchschnittlich 7 kg niedriger, nach zwei Jahren noch 3 kg (2); nach 5 Jahren lässt sich kaum ein Effekt mehr nachweisen. Bei Jugendlichen und Erwachsenen wird kontrovers diskutiert, inwieweit Gewichtsreduktionsprogramme das Problem nicht noch weiter verschlimmern beziehungsweise gar die Mortalität erhöhen (3, 4, 5–9). Gerade bei Jugendlichen finden sich Hinweise auf eine überschießende Gewichtszunahme beziehungsweise eine Verschlechterung des Essverhaltens als Folge kurzfristig erfolgreicher Gewichtsabnahmen.
Pharmakologische Behandlungen der Adipositas führen im Durchschnitt zu Gewichtsabnahmen, die um 3 bis 5 kg höher als unter Einnahme von Placebo ausfallen (2). Dies gilt jedoch nur so lange, wie die entsprechende Substanz eingenommen wird. Durch die Einnahme der gegenwärtig zugelassenen „Abnehmpillen“ ist jedoch keine Lösung des Adipositasproblems erkennbar; dies gilt erst recht für Jugendliche. Lediglich chirurgische Interventionen führen zu deutlichen und dauerhaften Gewichtsabnahmen (2). Solche Eingriffe sind allerdings nur auf den Personenkreis mit extremer Adipositas (= 40 kg/m²) beziehungsweise mit Grad-II-Adipositas (= 35 kg/m²) und entsprechenden Folgestörungen beschränkt; Jugendliche werden nur selten operiert. Wir können nur hoffen, in Zukunft stark übergewichtigen Menschen jeder Altersgruppe besser helfen zu können.
Vor diesem Hintergrund kann man aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht den interessanten Befund von Kurth und Ellert auch gegen den Strich bürsten: Was nützt den Jugendlichen gegenwärtig ihr Problembewusstsein? Ihre Lebensqualität könnte sich dank dieser Einsicht verschlechtern. Jugendliche, die beständig versuchen, ihr Gewicht zu reduzieren, haben auch andere Probleme: Sie neigen vermehrt zu depressiven Verstimmungen, Suizidgedanken, Alkohol- und Drogenkonsum (5). Manchmal scheint nicht nur die Gleichsetzung von Schlankheit und Schönheit übertrieben, sondern auch die von Normalgewicht und Gesundheit beziehungsweise die von Übergewicht und Krankheit. So betrachtet kann man sich für die übergewichtigen Kinder und Jugendlichen eigentlich nur freuen, wenn sie nicht auch noch psychisch unter ihrem Übergewicht leiden.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 21. 4. 2008, revidierte Fassung angenommen: 24. 4. 2008
Prof. Dr. med. Johannes Hebebrand
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Rheinische Kliniken Essen
an der Universität Duisburg-Essen
Virchowstraße 174
45147 Essen
E-Mail: johannes.hebebrand@uni-due.de
The Paradoxes of Body Weight
Dtsch Arztebl 2008; 105(23): 404–5
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0404
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
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Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Rheinische Kliniken Essen an der Universität Duisburg-Essen: Prof. Dr. med. Hebebrand
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