THEMEN DER ZEIT
Als Stipendiat in Peru: Gesichter der Armut


Foto: dpa
Die alte Dame weint leise, als ich sie nach ihrem Befinden frage. Man sieht an ihrer Lumpenkleidung, dass sie arm ist und womöglich nicht jeden Tag etwas zu essen bekommt. Sie hustet stark, anscheinend schon seit Längerem. Zum Arzt gegangen sei sie noch nicht, sie habe ja kein Geld für so etwas. „Hast du kein Antibiotikum für mich, Doktorchen?“, sagt sie mit nun etwas krächzender Stimme. Es ist Mittag, die Hitze im Zelt treibt mir den Schweiß ins Gesicht.
Draußen scheint die Sonne, und ein blauer Himmel spannt sich an diesem Sonntag über die peruanische Andenstadt Arequipa. Ihre von verfallenen einstöckigen Häusern im alten kolonialen Stil gesäumten Gassen sind menschenleer. Auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude des Medizinzentrums hat sich eine Menschenmenge versammelt und steht dicht gedrängt um ein paar gelbe Zelte herum, die dort nachts zuvor aufgebaut worden sind. In der Ferne erheben sich die drei mächtigen, mit Schnee bedeckten Vulkane über die Dächer der aus weißem Tuffstein errichteten Großstadt.
Fahrt ins Ungewisse
„Ich habe nach dem Erdbeben nichts von meiner Tochter gehört, sie wohnt mit ihrem Mann in Pisco, und nun ist dort alles zerstört“, sagt die alte Dame leise. Die Schwester schaut ins Zelt, lächelt uns herzlich zu und deutet mir an, dass sich draußen immer noch eine lange Schlange von Patienten befindet und ich mich beeilen möge. Seit sieben Uhr morgens behandele ich im Rahmen einer kostenfreien medizinischen Kampagne in einem der drei allgemeinmedizinischen Zelte Patienten im Zehnminutentakt und bin wesentlich langsamer als meine beiden anderen Kollegen.
Ich denke daran, dass ich in den kommenden Tagen nur wenig Schlaf bekommen werde. Morgen werde ich um vier Uhr morgens mit einer kleinen Gruppe von Ärzten, Schwestern und Helfern sowie zwei bewaffneten Wachleuten des Medizinzentrums, für das ich seit acht Monaten arbeite, mit einer kleinen Ladung von Medikamenten, Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern zu einem fünftägigen Katastropheneinsatz an die Küste aufbrechen. Es wird eine Fahrt ins Ungewisse, nach Pisco. Dort hat vier Tage zuvor die Erde fast drei Minuten lang so heftig gebebt, dass man es auch noch im 700 Kilometer entfernten Arequipa deutlich spüren konnte.
Chaos im Erdbebengebiet
Erste Fernsehübertragungen zeigen eine Stadt, die in Ruinen liegt. Der Strom ist ausgefallen, und fließendes Wasser gibt es auch nicht. Auch die Telefonleitungen sind unterbrochen. Das Erdbeben war mit einer Stärke von 8,0 auf der Richterskala das schwerste seit 60 Jahren in Peru. Die Zahl der Toten und Verletzten ist vier Tage nach dem Beben noch unbekannt. Ersten Berichten zufolge werden die Leichen der Erdbebenopfer auf dem Rathausplatz, der Plaza de Armas, aufgebahrt und müssen nun von den Angehörigen identifiziert werden. Es gibt nicht genügend Särge, und die Menschen streiten sich auf dem kleinen Friedhof um die verbliebenen Plätze. Man befürchtet den Ausbruch von Seuchen. Trinkwasser und Nahrungsmittel sind knapp geworden. Erste Berichte über Plünderungen und überfallene Hilfskonvois treffen ein. Man bekommt die chaotische Lage anscheinend nicht unter Kontrolle. Später in Pisco sollte man uns während eines schweren Nachbebens in Panik die Wasserkanister und Thunfischdosen aus den Händen reißen, und ich würde ein sehr intensives Gefühl der Hilflosigkeit erleben, welches man verspürt, wenn man zusehen muss, wie sich Menschen um etwas so Grundlegendes wie Nahrungsmittel streiten müssen.
Ich reiche der alten Frau wortlos ein Taschentuch und trete vor das Zelt, um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen, und sehe Edgard, den Chef der Klinik. Er wirkt gehetzt, begrüßt mich jedoch kurz mit einem freundlichen Lächeln und schüttelt beim Anblick der vielen Menschen auf dem Platz den Kopf. „Es sind zu viele, wir hätten keine Werbung im Radio machen dürfen. Hör mal, vergiss nicht die Besprechung um 15 Uhr in der Pfarrei wegen morgen“, sagt er. Den zweiten Satz höre ich nur noch undeutlich, denn er hat sich schon wieder abgewandt und läuft eiligen Schrittes zu dem Zelt, in dem die Medikamente ausgegeben werden. Dort ist es zu einer Rangelei zwischen den ungeduldig wartenden Menschen gekommen.
Foto: flickr
Es ist 11.50 Uhr. Die Kampagne endet offiziell in zehn Minuten. Daraus wird wohl nichts. Vor meinem Zelt drängt sich eine Menschenmenge, man beschimpft sich gegenseitig, die Schwestern versuchen, die aufgebrachten Menschen zu beruhigen. Dann wird wieder gelacht und daraufhin wieder geschimpft. Heute sind die Behandlungen und die Medikamente kostenfrei, deshalb sind diese Menschen hier. Sie könnten sich den regulären Preis für eine Grundkonsultation von umgerechnet zwei Euro nicht leisten. Versichert sind in Peru nur wenige. Die Patienten aus den ärmeren Bevölkerungsschichten leiden in erster Linie an Atemwegserkrankungen, Infektionskrankheiten des Gastrointestinaltrakts und an Folgen der Unterernährung. Schwerer Wurmbefall und Tuberkulose sind keine Seltenheit. Ich schaue mir die Menschen auf dem Platz an. Fast alle Wartenden sehen verwahrlost aus. Ein Straßenverkäufer, ein älterer, etwas dürrer zahnloser Herr mit gebückter Statur bietet den Wartenden mit einem heiteren Lächeln Bonbons an. Woanders spielen einige der wartenden Kinder mit einem herbeigelaufenen Hund, und ein junger Mann mit verschmitztem Gesichtsausdruck albert ein wenig mit den Schwestern herum, welche nach einer seiner Bemerkungen plötzlich anfangen, herzlich zu lachen. Doch die meisten der Wartenden verhalten sich auffällig still. Es sind jene Menschen indigenen Ursprungs, die aus den Dörfern in den Bergen außerhalb der Stadt gekommen sind, wo sie in der kargen Steppe versuchen, von den bescheidenen Erträgen der Landwirtschaft zu überleben. Mit ihrem eigentümlich versteinerten Gesichtsausdruck, der sonnengegerbten Haut und den eingefallenen Wangen wirken sie ausgemergelt und verbraucht. Die meisten sind zu Fuß hierher gekommen. Mit ihren leeren Blicken scheinen sie vor sich hin zu dämmern. Um den Hunger zu stillen, kauen einige von ihnen Kokablätter. Nur wenige können lesen und schreiben, und manche sprechen nicht einmal spanisch, sondern nur quechua, die Sprache der alten Inkas. Heute ist sie die Sprache der Armen. Einige der Frauen sind in traditionelle bunte Kleider gehüllt, unter dem schief sitzenden schwarzen Hut hängt ihr pechschwarzes, zu zwei Zöpfen geflochtenes Haar herab. Manche tragen ein Baby in ein Tuch gewickelt auf dem Rücken. Auch die Kinder dieser Menschen wirken auffallend apathisch.
Die Schwester bietet mir ein Glas Wasser an, doch ich bin in Gedanken versunken und höre sie kaum. Diese Menschen tragen den gleichen Pass in der Tasche wie ich, denke ich noch, als ich mich von ihnen abwende, um ins Zelt zurückzukehren.
Anlaufstelle für
die Armen: In den
gelben Zelten des
Medizinzentrums
werden an diesem
Tag Patienten kostenfrei
ärztlich versorgt.
Foto: Uwe Thiel
Die alte Dame hat sich etwas beruhigt. Auch ihr Hustenanfall ist nun vorbei, sie starrt ausdruckslos an sich herab. Ich stelle fest, dass sie Fieber hat und stelle ihr ein paar Fragen. Sie blickt auf. „Doktorchen, ihr fahrt doch morgen nach Pisco. Könnt ihr nicht meine Tochter dort suchen?“, fragt sie, ohne mir zuzuhören. Mir ist etwas unwohl zumute, und ich bemerke ein Engegefühl in meinem Hals. Dann bitte ich sie, auf der Untersuchungsliege Platz zu nehmen. Beim Auskultieren höre ich ein eigentümliches Atemgeräusch. „Aus welchem Land kommst du eigentlich, Doktorchen?“, fragt sie und bekommt erneut einen starken Hustenanfall. Sie blickt mich mit zusammengekniffenen Augen fragend an, ihr Gesicht ist leicht verzerrt. Ich sehe mir das Papiertaschentuch an, das sie in den Händen hält. Es ist rötlich gesprenkelt. Dann fülle ich den Röntgenschein und den Schein für die Sputumanalyse aus und denke an die Menschen in Peru und auch an die Menschen in Deutschland. Morgen wird ein langer Tag.
Uwe Thiel
E-Mail: Uwe.Thiel@lrz.tu-muenchen.de
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